Mit dem Zitat des Literaturwissenschaftlers und Hochschullehrers Peter Motzan sei die Besprechung
eines Buches überschrieben, das seinerseits ein Zitat (von Johann Lippet) als Buchtitel hat: „Immer die Angst im Nacken, meine Erinnerung könnte versagen“. Der Band von Stefan Sienerth vereint Aussagen von Zeitzeugen – Zeugen des gemeinsamen Einst, das im Jetzt zersplittert ist. Wobei es gar nicht immer so einheitlich war, doch im Rückblick ergeben die Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das Umrisse, Brücken und Reflexe erahnen lässt.
Der Literaturwissenschaftler Stefan Sienerth, langjähriger Mitarbeiter und zuletzt bis zu seiner Emeritierung Direktor des Instituts für Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Münchner Universität, hat den deutschsprachigen Literaturbetrieb in Südosteuropa (und vor allem in Rumänien) und die daran beteiligten Institutionen immer in seinem besonderen Fokus gehabt. Getreu den Forschungsschwerpunkten des IKGS hat er Interviews mit Zeitzeugen – Schriftsteller, aber auch Literaturwissenschaftler und Kulturschaffende – geführt und aufgezeichnet. Veröffentlicht wurden diese
Gespräche über die Jahre in der hauseigenen Publikation „Südostdeutsche Vierteljahresblätter“ (seit 2006 „Spiegelungen“). Bereits 1997 hat Sienerth Gespräche mit Schriftstellern in einem umfangreichen Sammelband („Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde“) zusammengefasst, der 2006 in zweiter Auflage erschienen ist.
Nun liegt dieser neue Interviewband vor, der die Perspektive auf den südostdeutschen Literaturbetrieb noch ausweitet. Außer Schriftstellern kommen im zweiten und dritten Teil Kultur- und Literaturwissenschaftler zu Wort. Die Interviewpartner sind nicht primär durch die gemeinsame Herkunft definiert, sondern vielmehr durch das gemeinsame Interessenspektrum, das mit dem „südostdeutschen“ Raum gegeben ist. Unter den Schriftstellern ist beispielsweise auch Edgar Hilsenrath, den das Schicksal als Kind zu Verwandten in die Bukowina verschlug und der diese Landschaft und Lebenswelt in seinen Büchern festgehalten hat. Viele Biographien reichen in die Vorkriegszeit, die meisten Interviewpartner sind jedoch Vertreter der Generation der Kulturschaffenden im Nachkriegsrumänien, die den rumäniendeutschen Kultur- und Medien-„Betrieb“ unter den prekären Bedingungen des sozialistischen Alltags gestaltet haben. In aller Regel waren nämlich auch die Schriftsteller nicht nur Literaten, sondern gleichzeitig Lehrer, Dozenten oder Redakteure, die die Einschränkungen der Zensur genauso kannten, wie findige Wege, ihnen möglicherweise zu entkommen. Die Interviews spiegeln sehr persönliche und sehr unterschiedliche Lebenswege und Erlebnisse wider, überschneiden sich jedoch häufig bei der Schilderung der Möglichkeiten und Probleme, die die Kulturarbeit unter diesen Voraussetzungen mit sich brachte. Wichtig aber auch der Blick in die Nachbarschaft – auf Ungarn (Antal Mádl, György Dalos) und das ehemalige Jugoslawien (Zoran Konstantinović, Zoran Žiletić) sowie auf die rumänischen Germanistenkollegen (George Guţu, Andrei Corbea-Hoişie), der die Perspektive ein bisschen globaler macht und ihr den rumäniendeutschen Ethnozentrismus nimmt.
Die zurückhaltende, aber dennoch zielführende Fragestellung des Interviewers lässt den Befragten Raum für ausführliches Erzählen, das dem Lesefluss und dem Spannungsbogen förderlich ist. Konsequent auch das Zitat, das Sienerth jedem Interview quasi als Quintessenz voranstellt. Die zwölf Schriftsteller, neun Kulturwissenschaftler und sieben Literaturwissenschaftler sind den Kennern des Literaturbetriebs in der Regel bekannt, ihre Interviews liefern Faktenwissen und runden das Bild ab, das die Öffentlichkeit von ihnen hat. Wie wertvoll diese Dokumentationsarbeit mit Zeitzeugen ist, ahnt man, wenn bewusst wird, dass die Interviews zum Teil vor längerer Zeit geführt worden sind (etwa in den 1990er Jahren oder Anfang der 2000er) und dass etliche der Gesprächspartner heute nicht mehr
leben (z.B. Bernhard Ohsam, Paul Schuster, Heinrich Lauer, Hans Meschendörfer). Deshalb sind die Einführungstexte und die Jahresangaben am Ende der Interviews auch sehr hilfreich für die Einordnung des Textes. Anderseits fehlt natürlich weitgehend die Diskussion, die sich später im Zusammenhang mit der Öffnung der Securitate-Akten gerade im und zum Literaturbetrieb ergeben hat. Doch dazu gibt es eigene Publikationen und hier geht es nicht um Aktualität, sondern um den Rückblick aus einem Ist-Zustand im Leben der Interviewpartner. Mit der „Angst im Nacken“, dass ihre Erinnerung versagen könnte. Diese zu bannen, der Nachwelt zu erhalten, ist ein großes Verdienst von Stefan Sienerth. Ein wichtiges Buch für die südostdeutsche Literaturwissenschaft und trotzdem auch eine spannende Lektüre für Literaturinteressierte und Zeitzeugen ohne wissenschaftliche Ambitionen.
Stefan Sienerth (Hg.): „Immer die Angst im Nacken, meine Erinnerung könnte versagen“. Interviews mit deutschen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Südosteuropa. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015, 400 Seiten. ISBN 978-3-7917-2713-4. Preis: 36,95 Euro