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Migrationsprozesse lassen Mythen entstehen

Ulm war eine wichtige Drehscheibe für die 1712 einsetzende Auswanderung Richtung Südosteuropa. 2012 jährte sich der Beginn der großen Auswanderungswelle zum 300. Mal. Die Stadt Ulm nahm dieses Jubiläum zum Anlass eines Themenjahres , dessen Abschluss ein Symposium zum Thema „Migration und Mythen“ bildete. Nun liegen die Beiträge des Symposiums in einem Sammelband mit dem Titel „Migration und Mythen. Geschichte und Gegenwart – Lokal und global“ vor. Der Historiker Mathias Beer vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen hat den Band im Auftrag der Kulturabteilung der Stadt Ulm herausgegeben.

Migrationen sind der Normalfall in der Geschichte, und sie sind nicht nur ein historisches Thema, sondern auch eines, das angesichts seiner globalen Dimensionen und Auswirkungen die Gegenwart bestimmt und auch in Zukunft relevant bleiben wird – so Mathias Beer in der Einführung zu dem Band. Die Geschichte von Migrationen ist immer auch eine Geschichte von Mythen, die im Zusammenhang mit dem Migrationsgeschehen entstanden sind. Sie sind das Ergebnis spezifischer Deutungsmuster von Migrationsprozessen und finden ihren Ausdruck in bestimmten Geschichtsbildern. Diese haben eine hohe Prägekraft und bestimmen wesentlich den populären Blick auf Migrationen der Vergangenheit.

Die Macht und Wirkung von Mythen, die als Folge von Migrationen entstanden sind, sowie deren gesellschaftliche Bedeutung stehen im Mittelpunkt des Bandes. In einem chronologischen Längsschnitt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart werden Beispiele von Migrationsmythen im europäischen Kontext und mit Blick auf die deutsche Geschichte vorgestellt, wobei die Bezüge zu Ulm und zur Geschichte der Donauschwaben offenkundig sind.

Den Rahmen des Bandes stecken zwei grundsätzliche Beiträge zu den Bereichen „Migration“ und „Mythen“ ab. Eingangs stellt Dieter Langewiesche, emeritierter Tübinger Professor für Neuere Geschichte, allgemeine Überlegungen zu der Frage an, was Geschichtsmythen sind, warum und wie sie entstehen, wie sie Wirklichkeit erklären, warum sie sich verändern, welche Funktion ihnen zukommt und welche Wirkung sie entfalten. Das Pendant zu diesem Einführungsbeitrag bildet die Studie des Migrationsforschers Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück: „Migration als historischer Normalfall. Bedingungen, Formen und Folgen globaler Wanderungsbewegungen seit dem späten 19. Jahrhundert“.

Eingebettet in den allgemeinen Rahmen, den die beiden Beiträge bereitstellen, liefern die sechs weiteren Studien des Bandes Fallbeispiele für unterschiedliche Mythen, die im Zusammenhang mit Migrationen entstanden sind. Professor Gerhard Seewann (Pécs/Fünfkirchen) untersucht, wie der Mythos vom „leeren Land“ zu einem wesentlichen Bestandteil der Erinnerung an die Zeit der Ansiedlung aufrückte und zum Teil eines Geschichtsbildes wurde, dessen Wirksamkeit bis in die Gegenwart reicht - auch wenn eine Reihe der mit diesem Mythos verbundenen Vorstellungen nicht länger haltbar sind.

Wie und wann der Mythos von Ulm als einem Auswanderungsort entstand und wesentlicher Bestandteil der Erinnerungskultur der Donauschwaben wurde, arbeitet Marie-Kristin Hauke (Ulm) heraus. Sie zeigt auf, dass Adam Müller-Guttenbrunns Roman „Der große Schwabenzug“, in dem die Stadt Ulm und ihre Schiffer eine gewichtige Rolle spielen, wie auch die Arbeiten von Friedrich Lotz zur Kolonisation der Batschka erheblichen Anteil an der Herausbildung des Mythos von Ulm als Stadt der Auswanderer hatten.

Dass die offene Aufnahme und schnelle Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 in Deutschland ein Mythos ist, macht Andreas Kossert (Berlin) in seinem Beitrag deutlich. Lange Zeit bestimmte die gelungene materielle Integration das Bild, wobei ausgeblendet wurde, dass Einheimische und Vertriebene in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in getrennten Welten lebten und Letztere mit ihren traumatischen Erfahrungen allein gelassen waren.

Der junge Historiker Tobias Ranker (Augsburg), der im Auftrag der Stadt Ulm zurzeit eine Dokumenta-tion zur Migration nach Ulm nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet, zeigt auf, dass diese Zuwanderung kein Mythos ist. Sein Beitrag skizziert die Migrationsgeschichte der Stadt und gibt einen Überblick über die verschiedenen Migrationen und Zuwanderergruppen, welche die Entwicklung Ulms nach 1945 nachhaltig geprägt haben.

Mathias Beer verdeutlicht am Beispiel der Donauschwaben, wie Migrationen zum tragenden Bestandteil des Selbstverständnisses einer Gruppe werden können, die es geschichtlich betrachtet nie gegeben hat. Dem Autor geht es darum, einige Bausteine für die Entstehung des Mythos „Volksgruppe der Donauschwaben“ sichtbar zu machen. Die wesentlichen Migrationen und den Verlauf des Prozesses, in dem Migrationen geradezu zum Fluchtpunkt für das mythische Selbstverständnis der Donauschwaben als Gruppe wurden, zeichnet der Beitrag skizzenhaft nach.

Wie der bundesdeutsche Mythos, kein Einwanderungsland zu sein, entstand, von der Politik fast ein halbes Jahrhundert lang hartnäckig verteidigt und schließlich als solcher entlarvt wurde, stellt der Politologe Karl-Heinz Meier-Braun (Stuttgart) dar. Nachdem er zunächst die Phasen der Arbeitsmigration ins Nachkriegsdeutschland skizziert, schildert er die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema sowie den schwierigen Abschied von dem Mythos, den die Politik selbst eines Tages nicht mehr aufrechterhalten konnte.

Der Band „Migration und Mythen“ eröffnet einen historischen Zugang zu einem grundlegenden Thema der Vergangenheit und Gegenwart und will dazu beitragen, manche der Mythen, die sich um Migrationen ranken, zu hinterfragen und die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zu Aus- und Zuwanderungsfragen besser zu verstehen.    

Mathias Beer (Hrsg.): Migration und Mythen. Geschichte und Gegenwart – Lokal und global. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft im Jan Thorbecke Verlag, 2014. 152 Seiten. ISBN 978-3-88294-462-4. Preis: 19,90 Euro. Zu bestellen über den Buchhandel.