Im Januar 2015 jährt sich das Schicksalsjahr der Verschleppung der Deutschen aus Rumänien in die stalinistische Sowjetunion zum 70. Mal. Hier nun der zweite Teil des Erinnerungsberichtes:
Das große Sterben
Wir arbeiteten in zwei Schichten. Es kam aber vor, dass wir tagsüber, während wir nach der Nachschicht in der Baracke schliefen, geweckt wurden und so manchem Toten das Grab schaufeln und ihn beerdigen mussten. Die Zahl der Verschleppten wurde im ersten Jahr der Zwangsarbeit bereits dezimiert. Die ersten Kranken wurden im Herbst 1945 und im Laufe des Jahres 1946 in die Heimat entlassen und so konnten unsere Angehörigen zu Hause etwas über uns erfahren. In der Folgezeit, von 1946 bis 1948, wurde die höchste Todesrate verzeichnet. Infolge der miserablen Unterbringung, der unhygienischen Verhältnisse, der schlechten medizinischen Betreuung, der dürftigen Ernährung und der schweren Arbeitsbedingungen gab es viele Kranke und Tote. Es starben anteilmäßig dreimal so viele Männer als Frauen. Die große Hungersnot vom Herbst 1946 bis Herbst 1947 war erdrückend. Unsere Toten im Lager wurden in einer alten Baracke oder im Keller gesammelt, bis die Gräber ausgehoben waren. Anfangs zimmerte man noch einen Sarg aus alten Brettern, die man aus der Fabrik mitbrachte, doch wenn es mehrere Tote gab, wurden diese nur noch in eine sackartige Hülle gesteckt. Der Friedhof lag etwa zwei Kilometer vom Lager entfernt auf einer Anhöhe. Die Gräber wurden etwa kniehoch ausgeschaufelt, tiefer schafften wir es nicht, denn nach dreißig Zentimetern stieß man auf eine Schieferschicht. Die Toten zogen wir auf
einem flachen Handkarren oder trugen sie in einer Kiste auf den Friedhof. Wir kippten sie in das ausgehobene Grab und bedeckten die Leichname mit Erde. An ein Kreuz oder gar an einen Sarg war in jener Zeit nicht zu denken. Unter den drei Toten, die am 23. März 1947 im Lager Dnjepropetrowsk verzeichnet wurden, befand sich auch Kaspar Schäffer aus Kleinjetscha, der Vater meiner späteren Ehefrau Elisabeth Schäffer, die zusammen mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester deportiert worden war. Man trug die drei Toten hinauf auf den Friedhof – die beiden anderen waren die Hatzfelder Johann Leisch und Martin Quitter – und da nur zwei oder drei Männer zur Verfügung standen, musste Elisabeth helfen, ihren Vater zu Grabe zu tragen. Peter Sedlach aus Grabatz sollte schon im ersten Jahr krankheitshalber entlassen werden. Da er seine beiden Töchter Helen und Margit nicht allein lassen wollte, blieb er dort und starb kurz darauf. Die Töchter konnten an dem Begräbnis teilnehmen. Die entblößte Leiche war auf den Rücken gefallen, und so bedeckte Helen den Leichnam mit ihrer Schürze. Der Posten schrie sie an und sagte, das sei doch ein Faschist. Nach einigen Monaten starb Helen. Margit, die nun allein geblieben war, verlor den Verstand, wurde weggesperrt und verstarb ebenfalls. Wie die Mutter zu Hause diese Nachricht empfangen haben mag?
Plagendes Heimweh
Geplagt von Hunger und Kälte und von Heimweh gequält, kreisten unsere Gedanken und Gespräche ständig um die geliebte Heimat und um unsere Lieben zuhause. Die Sehnsucht nach ihnen war in der Weihnachtszeit besonders groß. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Heiligabend, den wir in der Fremde verbringen mussten. Als wir im Schneesturm abends aus der Fabrik ins Lager zurückgekehrt waren, wickelten wir uns in unsere Decken ein und versuchten zu schlafen. Als einige Frauen „Stille Nacht“ und weitere uns vertraute Weihnachtslieder anstimmten, wurde es mucksmäuschenstill. Wir waren in Gedanken daheim bei unseren Lieben. Und als wir dann noch das wehmütige Wolgalied aus der Operette „Der Zarewitsch“ hörten, waren wir zu Tränen gerührt, heißt es doch darin: „Hast du dort oben vergessen auf mich? / Es sehnt doch mein Herz auch nach Liebe sich. / Du hast im Himmel viel Engel bei dir! / Schick doch einen davon auch zu mir.“ In den Stunden bitteren Heimwehs wurden so manche Verse und Briefe geschrieben, die ihre Adressaten zwar nie erreichten, den Deportierten jedoch halfen, ihr Herz zu erleichtern. Zunächst war der Briefwechsel untersagt, und erst ab Herbst 1946 begann der Postverkehr allmählich zu funktionieren.
Manche setzten alles daran, um wieder heimkehren zu können. Die einzige Möglichkeit bestand darin, sich krank zu machen in der Hoffnung, mit dem nächsten Transport in die Heimat zurückkehren zu können. So mischten sie der Suppe zusätzlich Salz bei und versetzten auch das Trinkwasser mit Salz. Sie setzten sich einem großen Risiko aus, denn Beine und Wangen schwollen an. Wenige hatten tatsächlich Glück und erwischten einen Krankentransport, die meisten jedoch überschätzten ihre Widerstandskraft und starben noch bevor wieder ein Krankentransport fällig war.
Die Strafgefangenen
Einige der Verschleppten hatten ein besonders schweres Los zu tragen. Das schändliche Verhalten der Lagerführer trieb so manche unserer Landsleute in die Not. Unter Druck und für einen Judaslohn denunzierten sie andere und lieferten dem NKWD-Politoffizier das nötige „Beweismaterial“. Dieser verhörte die Leute, die dann meistens zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, beispielsweise weil sie „Ausbeuter“ gewesen seien. Auch Deportierte, die Fluchtpläne schmiedeten, oder Flüchtige, die gefasst wurden, erhielten eine Tracht Prügel und wurden ins Straflager abgeführt. Von solchen Maßnahmen waren auch einige Hatzfelder Landsleute betroffen, unter anderem Anton Adam, Johann Bandenburg, Josef Farkas, Adam Gießer, Peter Kalman, Ladislaus Pirovsky. Johann Bandenburg war ein angesehener Landwirt. Seine Tochter Anna Leiher schrieb mir: „Als ich meinen Vater nach fünf Jahren wiedersah, war er für mich ein fremder Mann, den ich niemals als meinen Vater erkannt hätte. Er war ein Greis, der alle Zähne durch die Vitaminmangelerkrankung Beriberi verloren hatte. Sein Gewicht war auf die Hälfte reduziert, sein Gesicht bleich und mit vielen Furchen durchzogen. Seine Kleidung war zerschlissen und lumpig. Was er in den Händen hielt, war ein Essnapf. Durch Verrat, dass er Gutsbesitzer gewesen sei, wurde er nach Sibirien in ein Straflager versetzt. Die Verhörzeit war grauenhaft, er war in einem Schacht im Keller eingeschlossen, dort tropfte es Tag und Nacht von der Decke und auf dem Boden tummelten sich Ratten. Die Essensportionen waren immer kleiner geworden, körperlich und geistig ging es stetig abwärts, bis er so kraftlos war, dass er ins Krankenhaus kam. Ich weiß nicht wie lange er in Sibirien war. Später wurde er nach Kasachstan versetzt. Hier waren schon viele deutsche Kriegsgefangene und man konnte wieder deutsch sprechen. Sechs Monate nach seiner Heimkehr aus dem Straflager, als er nur mehr Haut und Knochen war, wurde er noch in den Bărăgan verschleppt.“ Josef Farkas besaß in Hatzfeld einen Chamotte- und Kachelbetrieb mit 15 Arbeitern. „Mein Vater Josef Farkas war sechs Jahre als Strafgefangener, von Januar 1945 bis April 1951 verschleppt und kam als einer der letzten nach Hause“, schrieb mir seine Tochter Annemarie Wetzler. „Am 18. Januar 1945, an dem Tag, nachdem mein Vater nachts ausgehoben worden war, wurde mein Bruder geboren. In den nächsten Tagen, die die Gefangenen noch im Bauernheim und in den Waggons verbrachten, konnte er noch erfahren, dass er einen Sohn hatte, durfte ihn aber nicht mehr sehen. Da meine Mutter im Kindbett lag, hat unsere Nachbarin Suppe gekocht, die ich (damals 11 Jahre alt) meinem Vater im Waggon durch das Abortloch hineinreichen durfte. Ich erinnere mich an viel Schnee und Kälte. Als Vater nach sechs Jahren wiederkam, war sein Bub gerade einschulungspflichtig.“
Ein „Ausflug“ mit Folgen
Tief in Erinnerung geblieben ist mir ein Vorkommnis, das sich im Herbst 1946 ereignete. Ich arbeitete damals beim Transport. Während der Nachtschicht gab es eine Ruhepause und diese nutzte ich zusammen mit einem Arbeitskameraden zu einem „Ausflug“. Anfangs hatten wir zwar Bedenken, und wir waren uns auch der Konsequenzen bewusst, die uns erwartet hätten, wenn das heimliche Verlassen der Fabrik aufgeflogen worden wäre. Eine anständige Tracht Prügel wäre uns sicher gewesen, überdies hätte man uns für einige Tage die Brotration gestrichen. Aber der Hunger trieb uns an und so schlichen wir uns im Schutze der Dunkelheit aus der Fabrik. Wir sammelten Brennholz, das wir dann gegen Kartoffeln, Rüben oder Kürbisse bei einer alten Babuschka verhökerten, die uns immer eine warme Hirsesuppe oder Kascha (Weizenbrei) vorsetzte. Bei so einem Tauschhandel ertappte uns einmal die Polizei, die uns beim Schichtwechsel in der Früh der Lagerleitung übergab. Die Tagesschicht musste nach dem Frühstück vor der Kantine antreten. Die Offiziere und Dolmetscher nahmen Stellung auf, und wir, die beiden Straftäter, wurden nach vorne zitiert. Der Offizier hielt eine Rede, die vom Dolmetscher übersetzt wurde. Sinngemäß sagte er: „Alle, die zu flüchten versuchen, verstoßen gegen sowjetische Gesetze. Ihr seid hier um zu arbeiten, um aufzubauen, was eure faschistischen Brüder zerstört haben. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass der Sozialismus seinen Siegeszug in der ganzen Welt antreten wird.“ Wieder bot sich den Offizieren die Gelegenheit, die Überlegenheit der Sowjetmenschen den verdammten „Fritzen“ gegenüber zu demonstrieren. Ich bekam weiche Knien, als der Offizier am Ende seiner hochtrabenden Rede die Strafe mitteilte: Straflager in Sibirien. Unter denen, die angetreten waren, befand sich auch mein Vater. Er trat aus der Reihe hervor und bat den Offizier innigst, an meiner Stelle ins Straflager verschickt zu werden. Ich weiß nicht mehr, wie es mir war, als mein Vater seine Bitte vortrug. Woran ich mich aber noch genau erinnere: Ich musste bitter weinen. Wir hatten diesmal Glück, denn wir kamen mit einigen Tagen Arrest davon. Der Schreck saß uns trotzdem noch eine ganze Weile in den Knochen. Dieses dramatische Erlebnis werde ich nie vergessen und meinem Vater war ich für seine Bereitschaft, für mich zu büßen, ewig dankbar.
Die Entlassung
Als wir im Januar 1945 in die Sowjetunion deportiert wurden, erfüllte sich an uns, was der Dichter Ludwig Uhland in seinem Gedicht „Schwäbische Kunde“ so plastisch ausgedrückt hatte: „Daselbst erhob sich große Not. / Viel Steine gab’s und wenig Brot.“ Ja, Steintrümmer von den zerstörten Fabriken gab es im Überfluss und viel zu wenig Brot. Viele von uns waren unterernährt, krank, nicht mehr arbeitsfähig. Auch bei mir diagnostizierte der Arzt im Frühjahr 1947 eine Dystrophie und erklärte mich als arbeitsuntauglich. Dennoch musste ich täglich das Essen aus der Fabrikskantine für die Kranken ins Lager bringen oder als Totengräber helfen. 1947 verzeichnete unser Lager die höchste Todesrate. Infolgedessen wurde das Krepierlager aufgelöst. Die Kranken wurden in die deutsche Sowjetzone nach Frankfurt/Oder überführt, die Gesunden kamen in ein anderes Lager. Am 19. Oktober 1947 war ich wieder zuhause. Für den Großteil der Verschleppten endete die Leidenszeit erst 1949, für die Strafgefangenen zwei Jahre später. Weitere Einzelheiten können Sie meinem 1998 erschienenen Buch „Das unvergessliche Jahr“ entnehmen.