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70 Jahre danach: Versöhnung durch Erinnerung

Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Russlanddeportation 2005 in Ulm: die Schleifen an den Kreuzen erinnerten an die Lagerorte. Foto: Archiv

Siebzig Jahre sind seit der Russlanddeportation vergangen. Es waren damals, im Januar 1945, die tragisch-sten Tage in der Geschichte der Deutschen aus Rumänien, als junge Mütter von ihren Kindern durch russische und rumänische Soldaten gewaltsam getrennt wurden. Die meisten dieser Kinder mussten von ihren Großeltern, die kaum in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, betreut werden, andere Kinder wiederum wurden von Nachbarn oder Verwandten aufgenommen. Heute sind die Kinder von damals im Rentenalter. Sie haben jahrelang bitterwenig erfahren können, was damals vor siebzig Jahren in den Dörfern und Städten des Banats, in Siebenbürgen, in den übrigen Verschleppungsgebieten geschah. Jahrzehntelang wurde das Thema Deportation in den Familien, in den Medien, in den Schulen verschwiegen. Dies hat sich, Gott sei Dank, nach der Wende im Jahre 1989 geändert. Politik und Medien haben sich des Themas angenommen. Die Ereignisse vor siebzig Jahren haben gezeigt, wie notwendig es ist, dass auch die wenigen noch lebenden Zeitzeugen ihre mahnende Stimme gegen das Vergessen erheben. Der Großteil der Überlebenden ist heute alters- und gesundheitsbedingt nicht mehr in der Lage, über das Erlebte zu berichten oder zu erzählen.

Besonders in diesen Tagen werden Veröffentlichungen in den Medien, Veranstaltungen, aber auch persönliche Berichte zum besseren Verständnis der Tragödie, die vor siebzig Jahren ihren Anfang genommen hat, beitragen. Erinnerungen gehören auch in die Köpfe und Denkweise der jüngeren Generation, denn sie hat das Recht zu erfahren, was ihre Vorfahren erleiden mussten, bloß weil sie Deutsche waren und Rechnungen begleichen mussten, die nicht auf ihr Konto gehen.

Bei den wenigen noch lebenden ehemaligen Deportierten kommen persönliche Erlebnisse hervor, zumal das Erlittene automatisch wieder vor Augen tritt, denn Leid und Unrecht können nicht in Vergessenheit geraten. Nun stellt sich auch die Frage: Was fühlen noch nach siebzig Jahren Überlebende, die fünf und mehr Jahre unter unmenschlichen Bedingungen im Donbass, in der Region Donezk in den Kohlengruben schufteten? Was fühlt ein ehemaliger Deportierter im 90. Lebensjahr, der unglücklicherweise aus dem Internierungslager zwangsweise in den Ural versetzt wurde? Rückblickend verspüre ich persönlich weder Hass noch Rache, auch wenn es bitter war. Wem sollte dies nützen? Die Hauptschuldigen in Ost und West leben längst nicht mehr. Trotz des Elends, das im Gedächtnis verankert bleibt, ist der Großteil der Betroffenen zur Versöhnung bereit. In verschiedenen Beiträgen, Berichten und Diskussionen über das Schicksal der Deportierten wird es in diesen Tagen zu hören sein: Verzeihen ja, vergessen nie. Diesem Leitgedanken schließen sich sicherlich auch die letzten Überlebenden an.

Es gibt auch heute noch, nach siebzig Jahren, Augenblicke oder Anblicke, die mich an die damalige Zeit erinnern. Schon der Anblick eines Stacheldrahtzauns oder des Hochstandes eines Jägers am Waldrand erinnert mich beispielsweise an die vier Wachtürme des Lagers. Und dann ist noch dieser Traum da: Ich falle in die Tiefe und eine pechschwarze Finsternis empfängt mich in der Kohlengrube, und ich erwache aus einem Albtraum. Ich denke auch heute noch an die unglücklichen Menschen in der Sowjetunion, die so viele Jahre von einem kommunistischen System geprägt wurden, dass sie gar nicht nach einem Ausweg suchten. Sie waren selbst Opfer eines gottlosen, stalinistischen Systems. Russland hat der Menschheit einen Puschkin, einen Tolstoi, einen Sacharow geschenkt, aber auch einen Stalin, der ungestraft bis zuletzt wie ein Teufel wütete. Ungeachtet dessen erscheint mir die gutmütige „russische Seele“ der einfachen Menschen mit viel Leid behaftet.

Die ersten Wochen waren für uns enttäuschend und bedrückend. Kleine Kinder, in viel zu großen Kufaikas bis an die Knöchel, standen am Straßenrand und riefen: „Fritz – Nemezki, Fritz – Gitler“. Wir mussten dies wortlos anhören. Als man später erfuhr, dass wir aus Rumänien waren, kam das Sprüchlein hinzu: „Mamaliga, moloko, Romania daleko“ (Maisbrei und Milch, Rumänen ist weit). Dieses Sprüchlein tat oft weh, weil man sogleich an die Bratwurst und die Schinken zuhause in der Speisekammer dachte. Das hat sich jedoch bald geändert, als man merkte, dass wir unschuldige Zivilverschleppte waren. Man arbeitete in der Grube mit Russen zusammen, es entstanden bis zuletzt auch Freundschaften, und bei der Heimfahrt 1949 flossen auch Tränen auf Nimmerwiedersehen. So war es in Kapitalnaja, wie mir mein Freund Ernst im Nachhinein erzählte, da ich ab 1947 nicht mehr in diesem Lager war.

Mit dem Lager Kapitalnaja verband mich viele Jahre später ein besonderes Ereignis. Es war die Großveranstaltung in Ulm 2005, organisiert von den Landsmannschaften der Donauländer, anlässlich der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Deportation. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit dem Einzug der Trachtenpaare, überwiegend Banater Jugendliche, die Kreuze mit Schleifen trugen, auf denen die einzelnen Lagerorte standen. Wird wohl auch ein Kreuz mit dem Namen unseres Lagers vorbeiziehen, fragten wir uns. „Da, schau mal, „Kapitalnaja“, flüsterte mir mein Freund zu. Danach ein Kreuz mit der Schleife „Enakievo“, das Lager meines Bruders, sodann „Makievka“, das Lager, in dem mein Vater an Unterernährung gestorben war. Wortlos flogen unsere Gedanken an jene Orte, wo vor sechzig Jahren unser Leidensweg begonnen hatte.

nschließend gingen wir durch die Hallen, in der Hoffnung, noch ehemalige Internierte zu treffen. Verdutzt und enttäuscht standen wir vor Tischen, davor ein Holzkreuz mit der Schleife „Kapitalnaja“. Fremde Menschen saßen da, es waren Söhne, Töchter und Enkelkinder ehemaliger Deportierter. Sie waren gekommen, um ihren Eltern und Großeltern durch ihre Anwesenheit die Ehre zu erweisen. Unsere Suche nach ehemaligen Lagerkameraden war bedrückend, wir trafen nur noch zwei. Damals, als man uns im Elternhaus gewaltsam aushob, zählten wir zu den Jüngsten, und heute zählen wir zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen.

Anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation werden sicherlich wieder Gedenkfeiern stattfinden, und auch daran wollen wir teilnehmen. Wir wollen gemeinsam für unsere Heimkehr danken und jener gedenken, die nicht mehr heimkehrten. Kein Kreuz erinnert an sie, keine Blume blüht auf ihren Gräbern, die längst verschwunden sind. Ihnen können wir nur zurufen: „Ruhet in Frieden in fremder Erde!“