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Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis der Großväter (Teil 2)

Kriegsgefangenen-Notizkalender mit Eintragungen von Peter Gutekunst. Illustrationen: Helga Korodi

Feldpostkarte des k.u.k. (ungarischen) Infanterie-Regiments Nr. 61 „Ritter von Franck“, dessen Stempel auf der

Rückseite ebenso klar zu erkennen ist wie jener des k.u.k. Feldpostamtes 109 mit Datumsangabe: „23.V.16“.

Ich geriet am zweiten Jänner [1916] noch vor sechs Uhr in der Bukowina, bei Toporutz-Rarance in russische Gefangenschaft. Nach einem Marsch von acht Tagen kamen wir in dem Gefangenenlager Darniza in einem Wald in der Nähe von Kiew an, wo es mir gelang bis am 27. Oktober 1916 zu bleiben. „Wo es mir gelang“, das muss ich betonen, denn von hier hat man ständig Gefangene ins Innere des Landes gebracht: einige zum Bau der Murmanbahn, manche zu Arbeiten in Betrieben, andere zur Grubenarbeit, so wie jemand Glück oder Unglück hatte. Ich kam bald darauf, wie man sich „verschlupfen“ kann. Ich weiß selbst nicht, wie ich es wagen konnte, über den vier Meter hohen Zaun zu klettern, um im nahen Wald herumzustrolchen. In Dörfern leistete ich kleinere Dienste, auch nach Kiew ging ich oft, nie hat man mich gefragt, wie ich dorthin kam. Eines Morgens sah ich eine Frau mit ihrem etwa vierzehnjährigen Sohn. Ich begrüßte sie mit „Drastitje, jasam roboti.“ Unsere weitere Verständigung verlief über die Zeichensprache. Der Knabe spannte ein Pferd ein, nahm zwei Beile auf den Wagen und wir fuhren los. Sie hatten ein Feld, das gejätet werden musste. Zu Mittag haben wir Speck und Brot gegessen, nachts schlief ich bei dieser Familie auf dem Heuboden. So ging das, bis ich nach Sibirien „einwaggoniert“ wurde. Ob es mir leidtat? Ja.

Wie oft habe ich auf Kiews vergoldete Kirchtürme geschaut oder die Wälder in der Nähe bewundert!

Unterwegs nach Sibirien

Der Zug fuhr dem Nord-Osten zu.

Wenn man in der Fremde etwas bemerkt, was man schon vom Lesen oder Hören her kennt, betrachtet man es als ein Wunder. Die Stadt Kursk mit ihren vielen Kirchtürmen, die Stadt Woronesch, von der ich gar nicht weiß, wo ich ihren Namen schon gehört hatte. Eine Vorstellung kann aber nie der Wirklichkeit entsprechen, da man während des Lesens oder Hörens doch immer
etwas aus seinem eigenen Sinn dazugeben muss.

Nach zehn Tagen, am 6. November, kamen wir in Pensa an, in einer Stadt so groß wie Temeswar. Hier blieben wir bis zum 26. Dezember in Quarantäne, um sicher zu sein, dass wir keine Krankheit nach Sibirien tragen. Das dänische Rote Kreuz hat uns mit warmen Kleidern versorgt, danach ging die Reise weiter. In Samara an der Wolga wurden Fenster und Türen verriegelt, da der Transport über die allerwichtigste Brücke Russlands, die Europa mit Asien verbindet, fuhr. Die Europa-Asien Grenze im Ural, keine sichtbare Tatsache, aber seelisch eine große, fühlbare Begebenheit. Unterwegs bekamen wir einmal täglich Essen, außerdem gab es eine wunderbare Einrichtung auf allen Bahnhöfen: kochendes Wasser, „Kipjatok“ für Tee. Zwar hatte ein jeder Wagen zwei mit Gewehren versehene Wächter, aber beim Halten des Zuges lief alles zum „Kipjatok“. Einmal trafen wir einen Transport mit Kirgisen, die auf Arbeit geführt wurden. Als Nomaden wussten diese in 1916 noch nicht, dass Krieg herrscht. Sie wurden viel strenger bewacht als wir, denn die hatten ihre Heimat im Land und hätten gewusst, wohin durchzugehen.

Schon tagelang fuhren wir mit der Eisenbahn nordwärts, bis wir in
einer Stadt ankamen, die Saratow hieß. Es fiel mir nicht sofort ein, von wo ich diese Benennung kenne, der Name kam mir aber so in den Sinn, als würde ich einen alten Bekannten getroffen haben, den ich begrüßen müsste! Doch bald erinnerte ich mich daran, wo ich diesen Begriff kennen gelernt habe. In einer russischen Sprachlehre, die ich einst durchblätterte, fiel mir folgender Satz auf, vielleicht nur darum, weil er schön klingt: „Als wir durch die Steppen Saratows fuhren, schwebten fast beständig Züge von wilden Gänsen, Schwänen, Enten und Störchen über uns, die für den Winter in ein wärmeres Klima zurückkehrten.“ Laut Methode Gaspey-Otto-Sauer: II. Teil, Lektion 15 [eine von Thomas Gaspey, Emil Otto und Carl Marquard Sauer entwickelte Sprachlernmethode, die sich durch großen Nachdruck auf Sprechübungen sowie Einfachheit und Zuverlässigkeit auszeichnete; in Zusammenarbeit mit der Verlagsbuchhandlung Julius Groos in Heidelberg veröffentlichten sie ein großes Angebot an Sprachlehrbüchern für viele Sprachen der Welt; Anm. d. Red.] sollte dieser Satz ins Rumänische übersetzt werden. Doch warum habe ich mir damals gerade diesen Satz gemerkt? Hatte ich vielleicht eine Vorahnung davon, dass das Schicksal mich einmal in dieses Gebiet schleudern wird? Möglich, manchmal hat man solche geheime, unerklärliche Vorgefühle … gerade so wie mich jetzt ein Wort aus jener Übersetzungsaufgabe so vorbedeutungsvoll berührte: „zurückkehrten“. Und es war auch nicht so leicht an diesem Wort vorbeizuhuschen, sobald sichtbare Wandervögel aus dem Norden über uns nach dem Süden „zurückkehrten“, während wir nach dem Norden fuhren und nicht wissen konnten, wann und ob wir von dort wieder zurückkehren werden. Meine innere Stimme gab mir zu vielen Gedanken Anlass – ich hatte diesen Satz, im warmen Heim, zu Hause so merkwürdig gefunden. Zu Hause, im Familienkreis, in einem Buch etwas zu lesen, darüber nachzudenken, um nach
eigener Art sich etwas vorzustellen, das ist etwas anderes als selbst im Mittelpunkt einer Erscheinung zu sein. Der Zug fuhr und führte uns durch die Steppen Saratows, beständig schwebten Züge von Wildgänsen, Schwänen, Wildenten und Störchen, die für den Winter ein wärmeres Klima suchten, über uns. Wir schauten aus unserem „Tjepluschka“, d.h. geheiztem Waggon, hinaus: traurig, schläfrig, gelangweilt, erbittert oder gleichgültig, ein jeder nach Gemüt und Stimmung. Ich ahnte, und das schien mir ein Erlebnis zu werden, dass wir nach Sibirien gebracht wurden.

Sibirien, schon wieder ein Wort, von dem ich schon viel gehört habe, wobei ich mir so manches vorstellte, ohne zu wissen, wie es in Wirklichkeit aussehen kann. Tundren, das kälteste Gebiet Asiens, Raub- und Pelztiere, Tiger, Bären, Wölfe … das sind Begriffe, die ich mir gut merkte, weil mich Schauer überlief, sooft ich davon hörte. Über uns die Wandervögel – unter uns ein unendlicher Schienenstrang. Ein jeder Mitfahrer schaute dem anderen hie und da in die Augen, ohne ein Wort zu wechseln. Wo wird dieses Schienenpaar wohl enden? Ein Gedanke, der mir, wie so manchem anderen einen Stich ins Herz gab.

Ankunft in Atschinsk

Die Wandervögel verschwanden. Wir aber fuhren noch wochenlang nordwärts. Nach siebzehn Tagen erreichten wir eine Stadt in Sibirien. Dass es sehr kalt war, überraschte uns nicht. Die Stadt lag fünf Kilometer von der Station entfernt und hieß „Atschinsk“. Wie sie aussah, sah ich nicht, weil ich uninteressiert, in Reih und Glied, den anderen nach, marschierte. Unsere dumpfen Tritte hatten zwar nichts mehr mit soldatischem Drill zu tun, dennoch gingen wir taktmäßig auf dem glatten, harten Schnee – und das rief eine Mischung verschwommener Gefühle in mir hervor, die mich an ein Gedicht erinnerten, das in demselben Takt geschrieben wurde: „Geduld, Geduld, wenn’s Herz auch bricht, mit Gott im Himmel hadre nicht!“ Es waren -32° Reaumur, das hätte 40° Celsius gezeigt.

Wäre ich in einer Touristenstimmung gewesen, hätte ich feststellen müssen, dass Atschinsk einen malerisch-winterlichen Anblick darbietet, wie man ihn oft auf Ansichtskarten idealisiert sehen kann. Die Stadt liegt in einer Vertiefung, mit weißen Häusern, Kuppeln und Türmen – aber ich war kein Tourist – und keinesfalls in romantischer Stimmung, sondern im Mittelpunkt einer Tatsache, wenigstens zehntausend Kilometer von meiner Heimat entfernt. Wie konnte ich noch an mein Zurückkehren denken, ohne mit meinem Schicksal zu hadern?

Viele Atschinsker blieben in den Straßen stehen, um uns anzuschauen. Da gab es Leute, die still standen, andere winkten, als wollten sie uns willkommen heißen. Kinder schauten uns an, als wäre unser Einzug ein Parademarsch! Ich ging gleichgültig an ihnen vorüber, wer weiß aber, was sie über mich gedacht haben, wenn mich jemand überhaupt bemerkt hatte. Am Ende der Stadt – gar so groß war sie ja nicht mit ihren rund 6000 Einwohnern – lag das uns zugedachte Lager, mit Holzbaracken, die „unsere“ Schlafsäle wurden, umringt mit einem Bretterzaun, mit Schilderhäusern an allen vier Ecken, für jene armen Schlucker, die, in Soldatenkleider gesteckt, uns zu hüten hatten. Der Bretterzaun war neu. Die Baracken, jeweils ein Meter in und über der Erde, wurden im Russisch-Japanischen-Krieg 1915 erbaut. Mein erster Gedanke war: Die, die damals in Gefangenschaft gerieten, kehrten zurück in ihre warme Heimat.

Am ersten Abend konnte ich lange nicht einschlafen, denn allerlei kam mir in den Sinn: Wer wohl vor mir auf diesem Platz schlief, ich meine, was für ein Japaner? Ob er nicht vielleicht etwa in der Form einer Erscheinung mir einen Wink geben könnte, wie ich aus diesem Lager entkomme. Fort? Wohin? Oder, ob vielleicht sonst ein Wunder geschehen könnte, das mich nach Hause entführen könnte? In solcher Not kommt einem alles in den Sinn, obwohl man weiß, dass nichts geschehen kann, das sah ich ein.

Eines aber wollte ich beobachten. Den Traum der ersten Nacht, der wahr werden soll. Das hörte ich als Kind und da ich an das Märchenhafte gerne glaubte, war ich auf meinen ersten Traum in Sibirien sehr neugierig: Ich verlor mich in einem dichten Wald, wo plötzlich ein Lebewesen, das in einen Busch verwandelt war, vorbeilief, so nahe und so anziehend, dass mein Herz an einem Aste hängen blieb.

Eintöniges Lagerleben

Der Zaun war rund 2 m hoch. Einmal wollte ich auch hier darüber steigen, da fragte mich lächelnd ein Wächter, ob es nicht egal sei, ob ich vom Zaun links oder rechts bin. Er hatte Recht, denn bis nach Alma-Ata, der nächsten Stadt an der chinesischen Grenze, trennten mich Hunderte von Kilometern. Grübeln, Klagen, Schimpfen, Karten-Spielen, Streiten, das war unsere Beschäftigung. Samstags Bad, selbst inszeniertes Theater, in dem die Frauenrollen von jungen Männern gespielt wurden, war jedenfalls eine Abwechslung, die unbedingt notwendig war, um nicht wahnsinnig zu werden, … was leider ziemlich oft geschah.

Eine sehr lobenswerte Einrichtung gab es dennoch, eine gute Idee unseres Lagerkommandanten, der – nebenbei gesagt – ein Balte war: Im Frühling wurde es erlaubt, dass ein jeder der wollte, im nahe liegenden Wald Reiser zum Besen-Binden holen kann. Morgens um acht Uhr konnte man sich an das Tor stellen, zwei bis drei russische Wachsoldaten begleiteten uns durch die Stadt in
einen nahe liegenden Birkenwald, wo wir ziemlich unbewacht herumstrolchen konnten. Gar so streng waren wir nicht bewacht, da die Soldaten wussten, dass niemand durchgehen kann, und wer es versuchen sollte, würde selber „nach Hause“ kommen, denn, wo sollte man denn hingehen? Gezählt wurden wir so beim Hinausgehen wie beim Heimkehren nicht. Die nächste Grenze war unendlich weit und führte in die bergige Mongolei. Da musste jeder selbst dafür sorgen, sich nicht zu weit von der Wache zu entfernen. Ich kannte einige, die durch die Mongolei entfliehen wollten – die waren froh, wenn sie die Kosaken zurückbrachten, bestraft wurden sie nicht dafür. Im Sommer gab es hier keine dunklen Nächte, im Winter nur kurze Tage. Im Sommer, als die anderen in dumpfen Räumen schliefen, saß ich bis in der Früh auf dem Rauchfang unserer Baracke und schaute in die Ferne.

Am 26. November 1917 wurden wir weiter gegen Osten transportiert, an Irkutsk, seinen Hügeln, Kuppeln, Türmen und Giebeln vorbei. Beim Erwachen sah ich die blaue Fläche des Baikalsees. Der Baikalsee also, von dem ich schon gehört habe, dass früher ganze Züge über seine gefrorene Eisfläche gefahren sind. Und jetzt bin ich da, sehe Möwen über dem See, Wäldern an seinen Ufern und vergesse, dass ich in Asien bin.