Zum Tode von Anton Krämer
Jetzt ist er tot, der meist so freundliche, hochgewachsene und schmale Mann, der mehrere Jahrzehnte seine genealogischen Pläne ehrgeizig voranbrachte und dem nicht nur seine Neupetscher Landsleute, sondern die Banater Schwaben insgesamt auf familiengeschichtlichem Gebiet viel zu verdanken haben. Genealogisch kompetent und stets hilfsbereit, war er für manche dennoch ein unbequemer Zeitgenosse, vor allem, wenn er im Arbeitskreis für Donauschwäbische Familienforschung oder bei Kulturtagungen in Sindelfingen den Finger auf offene fachliche oder „zeitgeschichtliche“ Wunden legte.
Am 25. März ist der geschätzte Heimat- und Familienforscher Anton Krämer im Alter von 84 Jahren unerwartet in einer Mainzer Klinik gestorben. Obwohl seit langer Zeit von einer schweren Herzkrankheit gezeichnet, lebte er keinesfalls zurückgezogen. Krämer gehört der ersten bildungsbewussten banatschwäbischen Generation nach dem Ersten Weltkrieg an. Geprägt wurde Kindheit und Jugend des am 28. Februar 1926 in Neupetsch (Ulmbach) im Kreis Temesch geborenen Heimat- und Familienforschers durch den frühen Tod seiner Mutter.
Lebensstationen - Auf Geheiß seines Vaters entschied er sich nach dem Gymna-sium für die Lehrerbildungsanstalt innerhalb der Temeswarer Banatia, die er nur ein Jahr besuchen konnte. Dem Zeitgeist und gesellschaftlichen Druck sich beugend, meldete sich der heranwachsende Jugendliche im Sommer 1943 als Kriegsfreiwilliger. Wie viele andere seiner Generation, schlug er damit einen von Heimatverlust gekennzeichneten „Weg ohne Umkehr“ ein. Anschaulich, einfühlsam und mit einem Schuss Selbstironie hat er seine damalige Motivations- und Gefühlslage im Lebensrückblick beschrieben. In Österreich sollte er 1948 seine Matura – das österreichische Pendant des deutschen Abiturs – nachholen, ein Studium der Chemie an der Technischen Hochschule Graz beginnen und – nach der Übersiedlung nach Deutschland – in Karlsruhe fortsetzen.
Im Flüchtlingslager lernte er seine künftige, aus Perjamosch stammende Ehefrau Eva, geb. Wirth, kennen. Mit der Familiengründung musste er die vorgegeben Bahnen eines universitären Ausbildungsweges verlassen. Nach der Ausbildung zum Chemotechniker in München (1955) fand er über mehrere flüchtlingsspezifische bayerische und württembergische Zwischenstationen eine Anstellung als Chemotechniker bei dem Pharmakonzern Boehringer in Ingelheim am Rhein. Hier arbeitete er sich auf dem Gebiet mikrobiologischer Produktionsverfahren hoch und konnte bei seinem Eintritt in den Ruhestand auf ein erfülltes Berufsleben zurückblicken. Seinem Arbeitgeber Boehringer sollte er am Lebensende den Stellenwert eines „Sechsers im Lotto“ beimessen. Zusammen mit seiner Familie und den drei Kindern konnte er alsbald ein Eigenheim beziehen. In seinem lokalen Umfeld genoss der sich stets zu seiner Banater Herkunft bekennende kontaktfreudige und aufgeschlossene „Neubürger“ bis zu seinem Lebensende hohe Anerkennung.
Der Familienforscher - Die Bekanntheit Krämers hängt mit seiner nebenberuflichen Passion zusammen: der Heimat- und Familienforschung. Nicht nur hat er die Banater Familienforschung seit ihren frühen Anfängen mitgestaltet, diese hat seinem lang-jährigen Engagement auch viel zu verdanken. Krämers Beschäftigung mit der Genealogie hat ihren Ausgangspunkt in der Wertschätzung der eigenen Herkunft, mithin seiner Banater Heimat. Sein erstes großes Vorbild war Friedhelm Treude, der noch vor Kriegsausbruch im Auftrag des Deutschen Auslandsinstituts in Stuttgart die Erfassung der Banater Kirchenregister in Angriff genommen hatte.
Nach dem Krieg sollte sich der von ihm gesichtete und gesicherte Bestand für Jahrzehnte die wichtigste Quellengrundlage für die Banater Genealogen erweisen. Frühzeitig war Anton Krämer zur Einsicht gekommen, dass die genealogische Recherche sich nicht auf das Abschreiben von Kirchenbüchern reduzieren lässt. Als einer der ersten Banater Genealogen hat er die Quellenbasis seiner Untersuchungen erweitert und weitere Quellengattungen einbezogen. Sein weitverzweigtes Korrespondentennetz von Genealogen und Familienforscher vermittelt ein Bild nicht nur von der großen Streuung der Banater Deutschen in der Welt, sondern auch von der integrativen Funktion der Familienforschung, die die verlorengegangene reale Heimat durch eine „virtuelle“ ersetzen will. Als einer der ersten hat er Kontakte zu den Familienforschern in den USA gesucht.
Vier vorbildhaft recherchierte und sorgfältig redigierte Familienbücher – von Neupetsch, Detta, Freidorf und Perjamosch – legte Anton Krämer vor. Laut seinem Landsmann und Vorsitzenden der Heimatortsgemeinschaft Ulmbach-Neupetsch, Peter Rieser, fehlen die beiden Bände seines Familienbuches nicht nur „in fast keinem Ulmbacher Haushalt“, sondern „sie gehören zu den wenigen Büchern der Hausbibliothek, an denen deutliche Gebrauchsspuren nicht zu übersehen sind“. Die elektronische Fassung des Neupetscher Familienbuches konnte er gesundheitsbedingt nicht mehr vollenden.
Trotz der zahlreichen Publikationen, Arbeitsinstrumente und Archivmaterialien, die sich Krämer im Laufe der Jahrzehnte zugelegt hat, war Genealogie für ihn keine Datensammelanlage. Seine Erkenntnisse wertete er in zahlreichen Vorträgen und kleineren Veröffentlichungen aus. An mehreren räumlich und zeitlich begrenzten Beispielen konnte er zeigen, welch wertvolle Quelle für die genealogische Bearbeitung der Wanderzüge des 18. Jahrhunderts neben den pfarramtlichen Familien-registern die Bestände der staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archive bedeuten. Seine migrations- und familiengeschichtlichen Erkenntnisse sind auch in den gemeinsam mit seinem Freund Josef Kupi verfassten und 1984 veröffentlichten ortsmonograhischen Abriss von Neupetsch eingeflossen (Ulmbach-Neupetsch. Geschichte einer deutschen Gemeinde im Banat, 1724–1984).
Mit wachsender Sorge verfolgte er in den letzten Jahren die Entwicklung des Arbeitskreises Donauschwäbischer Familienforschung (AkDFF). Bemängelt hat er den Mitgliederschwund, organisatorische Schwächen und vor allem die weiterhin ausbleibende Qualitätssicherung, mit allen Konsequenzen, die sich daraus nicht nur für den wissenschaftlichen Wert der Publikationen, sondern auch für die Heranziehung von Nachwuchsforschern ergeben.
Der Memorialist - Stets bewahrenden Zielen verpflichtet, hat Anton Krämer auch seine ursprünglich nur für seine Familienangehörigen und vor allem Enkel bestimmten und im Spannungsfeld von Selbstzeugnis und Geschichte angesiedelten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen veröffentlicht: Banat-Verlag Erding, 2008. Es ist ein einprägsamer Text, dessen erster Teil viel über das Familienleben und den Berufsalltag wie auch über die politischen Ansichten der Dorfelite in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aussagt, während der zweite Teil den individuellen Lebenswandel von 1945 bis 1960 ausleuchtet. Die Darstellung besteht somit aus erlebter Zeitgeschichte, wie sie sich in der Erinnerung des Verfassers festgesetzt hat. Das eigene Leben ist in die Geschichte seines Heimatorts und des Banats eingeflochten. Die zahlreichen historischen Einschübe tragen zum besseren Verständnis des Zeitgeschehens und seiner Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation bei. Die Schilderung der Jugendzeit weist den Autor als genauen, vor allem für die Lebensgefühle junger Menschen sensiblen Beobachter der sozialen Wirklichkeit aus.
Stellenweise lesen sich Krämers „Geschichten“ gewissermaßen abenteuerlich, aber er konnte plausibel machen, dass sie nicht erfunden sind. Das Ganze besticht durch die geistreiche erzählerische Anordnung erinnerter Begebenheiten und Vorkommnisse. Das von Krämer skizzierte Porträt seines Dorfes ist unverkennbar gesellschaftskritisch ausgerichtet. An mehreren Stellen bricht es mit landläufigen Vorstellungen und bestimmten Tabus. Die Reaktion auf das Buch sollte dies auch bestätigen. Die Publikation wird eine wertvolle Quelle zum Verständnis der späten dreißiger und beginnenden vierziger Jahre bleiben, ebenso wie seine Familienbücher auch künftighin eine Wegweiserfunktion haben werden.
Dort, wo sein Freund und Mitautor Josef Kupi das von ihm zusammengetragene Material über ihren gemeinsamen Heimatort Neupetsch hinterlegt hat, soll jetzt auch der genealogische Nachlass des Verstorbenen aufbewahrt werden. Das Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen ist stolz darauf, diesen verwalten und somit das Lebenswerk von Anton Krämer fortführen zu können.