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Zweimal Amerika und zurück

Der Großdampfer »Amerika«, mit dem Anna und Bernhard Glaß 1910 den Atlantik überquert haben, ist 1905 in Belfast vom Stapel gelaufen und gehörte der deutschen Hapag-Reederei. (Computer-Gemälde von Tanja Hehn, der Urururenkelin von Bernhard Glaß, nach einer alten Ansichtskarte)

Treffen der Nachfahren des Bernhard Glaß mit ihren Ehepartnern 1935 in Billed, Kirchengasse 297 (in den Fenstern von links): Johann Gilde (Enkel), Josef Welter, Jakob Muttar (Enkel), Jakob Gilde (Enkel), Friedrich Gilde (Enkel); (stehend): Regine Gilde, Magdalena Gilde-Sehi (Urenkelin), Susanne Muttar- Welter (Enkelin), Barbara Welter-Haberehrn (Urenkelin), Elisabeth Krogloth-Muttar, Barbara Bauer- Schäfer (nicht verwandt), Jakob Szlavik (Urenkel), Katharina Gilde (Urenkelin), Katharina Köster-Gilde, Maria Gilde (Urenkelin), Katharina Krogloth-Gilde, Katharina Gilde-Steiner (Urenkelin), Maria Gilde- Szlavik (Enkelin); (sitzend): Elisabeth Glaß-Kertész, Johann Glaß-Kertész (Sohn), Catharina Glaß-Gilde (Tochter); (hockend): Elisabeth Muttar-Röhrich, Adam Muttar und Elisabeth Welter-Rademacher (alle drei Urenkel). Einsender der Fotos: Verfasser

„In Amerika war ich ein großer Mann. Wenn alle weg waren, habe ich auf der Post aufgeräumt.“ Diesen Spruch hat mancher Neugierige gehört, nachdem Bernhard Glaß vor hundert Jahren zum zweiten Mal aus Amerika nach Billed heimgekehrt war. Eigentlich wollte er in den USA bleiben. Doch auch sein zweiter Amerika-Aufenthalt ist anders verlaufen als geplant. Seine Frau hatte vom ersten Tag an, als sie den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, krankhaftes Heimweh, so dass er keinen Ausweg sah als die Reise nach Billed. Und als Bernhard Glaß Anfang Oktober 1913 in San Francisco seine Frau Anna mit der Nachricht überrascht, er habe die Karten für die Schifffahrt nach Europa gekauft, stirbt sie – vermutlich an Herzversagen. Glaß gehört zu den vielen Banater Schwaben, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert sind, weil sie kein Fortkommen mehr hatten. Doch er ist einer der wenigen, die wieder heimgekehrt sind.

Bernhard Glaß, den der Billeder Pfarrer nach seiner Geburt am 3. Dezember 1849 mit den Namen Bernardus Glaßz in die Kirchenbücher eingetragen hat, war ein humorvoller Mann mittleren Wuchses. Daran kann sich Katharina Gilde (Jahrgang 1919), seine älteste Urenkelin, noch erinnern. Bernhard Glaß hat zu jenen gehört, die über den Tellerrand oder den Billeder Kalvarienberg hinausgesehen haben. Obwohl „nur“ Bauer, war Bernhard Glaß anscheinend ein ganz besonderer Mann, den Intelligenz, Humor und Entscheidungsfreude kennzeichneten. Seine Geschichte beginnt mit der Ansiedlung seines Ururgroßvaters, den wir in den Kirchenbüchern als Jacob Glas finden. Der 15-jährige Jacob gehört zu den Billeder Erstsiedlern. In Wien ist er am 28. April 1766 als Jacob Glaß registriert worden. Ebenfalls dort ist nachzulesen, dass er 1751 in Mittelwestern bei Alzenau im Spessart geboren wurde. Alzenau liegt östlich von Offenbach und nördlich von Aschaffenburg. Mittelwestern ist in heutigen Atlanten nicht mehr zu finden, dafür aber Oberwestern und Westerngrund. In den Billeder Kirchenbüchern ist ferner festgehalten, dass Jacob Glas mit der 1749 geborenen Margaretha N. verheiratet war. Woher sie stammt, ist nicht belegt. Aus dieser Ehe ist unter anderem Eberhard Glaas (Jahrgang 1772) hervorgegangen. Er ist Bernhard Glaß’ Urgroßvater, der den Mathias Glaßs (1803) und dieser wiederum den Joannes Glasz (1823) gezeugt hat. Joannes, der Susanna Velter geheiratet hat, ist der Vater des Amerika-Fahrers Bernhard Glaß. Letzterer gehört der vierten Generation an, die in Billed geboren wurde. Fünf weitere Generationen sollten folgen, die sechste wird überwiegend im Mutterland nach dem großen Exodus in und nach den kommunistischen Zeiten geboren, einige der fünften Generation aber schon wieder im Westen Deutschlands. Sein vorerst letzter Ururururenkel ist im Oktober 2012 in Bonn geboren worden. Der nächste wird das Licht der Welt vermutlich im März 2013 in Tönisvorst am Niederrhein erblicken.

Die Nachfahren des Bernhard Glaß sind inzwischen über die ganz Welt verstreut: von Australien über Europa bis in die USA. Die meisten leben in Deutschland, und davon wieder der Großteil in Karlsruhe. Mit den Schwestern Katharina (Jahrgang 1919) und Maria Gilde (1921) leben noch zwei seiner Nachfahren im Banat. Es sind zwei seiner Urenkelinnen. Drei Urenkelinnen sind in Deutschland zu Hause. Wie viele seiner vier Urenkel in Australien noch leben, ist unbekannt. Ebenso unbekannt ist, welche seiner Nachkommen in den USA noch leben. Als Bernhard Glaß am 4. Februar 1868 die fünfzehnjährige Catharina Daniel aus dem Nachbardorf Knees heiratet, ist er gerade einmal 18 Jahre alt. In den kommenden 18 Jahren wird er 13 Kinder zeugen, von denen jedoch nicht einmal die Hälfte überleben und Nachkommen haben wird. Von den drei Kindern, die Catharina Daniel zur Welt bringt, sterben die beiden ersten. Sie selbst überlebt die dritte Geburt nicht einmal zwei Wochen.

Bernhard Glaß, mit 23 schon Witwer, heiratet zum zweiten Mal am 30. Juni 1872 Anna Holtz, 1854 im Nachbardorf Kleinjetscha geboren. Mit ihr zeugt Bernhard Glaß zehn Kinder, davon sterben einige Tage nach der Geburt, andere nach Monaten, ein Mädchen wird drei Jahre alt. Am Leben bleiben vier Mädchen und zwei Jungen: Gertrud (Traudl), Anna (Nani), Susanna, Magdalena (Leni), Mathias (Matz) und Johann (Hans). Drei Töchter und ein Sohn werden Nachkommen haben. Der ältere der beiden Söhne, Mathias, wird nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika gehen und spurlos verschwinden.

Als Bernhard Glaß seine drei ältesten Töchter mit Bauern verheiratet hat und die Söhne das Studium beendet haben, ist er mittellos. Susanna (1882) besucht das Gymnasium, stirbt aber im Alter von 20 Jahren an Tuberkulose. Sohn Johann (1885) wird Lehrer. Um im Staatsdienst zugelassen zu werden, muss er einen ungarischen Namen annehmen. Er ersetzt Glaß durch Kertész (Gärtner). Der Entschluss des Sohnes, einen ungarischen Namen anzunehmen, kann der Vater überhaupt nicht verstehen. Bernhard Glaß wird immer wieder sagen: „Net mol, wann ich Haseteiwl hääsche tät, tät ich mich omtaafe losse“ (Nicht einmal, wenn ich Hasenteufel hieße, ließe ich mich umtaufen). Glaß-Kertész ist Lehrer in Segedin (Szeged) und wird zum Schulinspektor aufsteigen. Seine Söhne Emmerich (1910) und Johann (1912) werden Berufsoffiziere und nehmen mit der ungarischen Armee am Zweiten Weltkrieg teil. Nach dem Krieg flüchtet die gesamte Familie. Elisabeth und Johann Glaß-Kertész finden in Dillingen an der Donau ein neues Zuhause. Die beiden Söhne wandern nach Australien aus und lassen sich in Sydney nieder, wo heute ihre Nachkommen leben.

Sohn Mathias (geboren 1879) wird Apotheker in Budapest. Für sein Studium braucht er Jahre, in denen er seinen Vater finanziell bluten lässt. Als der Vater ihm schon längst kein Geld mehr gibt, steckt ihm die Mutter immer wieder welches zu. Bis zum Schluss ist Bernhard Glaß sogar verschuldet, so dass er keinen Ausweg sieht als die Reise nach Amerika mit Tochter Magdalena. Sohn Mathias geht nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Frau nach Kalifornien zu Schwester Magdalena. Kurz darauf erhält Bernhard Glaß einen Brief aus San Francisco, in dem ihm seine Tochter anscheinend eine wichtige Mitteilung macht. Er verbrennt den gelesenen Brief und teilt der Familie mit, dass für ihn Sohn Matz (Mathias) gestorben sei. Weder er noch seine Tochter Magdalena werden Mathias je wieder erwähnen. Für den Rest der Familie bleibt er verschollen. Nachdem Bernhard Glaß seine drei ältesten Töchter versorgt und seine Söhne hat studieren lassen, versucht er vergebens, seine jüngste Tochter mit einem Bauern zu verheiraten. Sein Boden ist verteilt, sein Vermögen verbraucht, er ist verschuldet. Er hat sein letztes Hemd ausgezogen für seine Kinder. Deshalb beschließt er im Alter von 56 Jahren, mit der 19 Jahre alten Tochter Magdalena (geboren 1887) nach Amerika zu gehen, um Geld zu verdienen und nach der Heimkehr Feld zu kaufen und sie zu verheiraten. Seine Frau lässt er in Billed zurück.

Bernhard Glaß geht mit Tochter Magdalena am 8. April 1906 in Bremen an Bord der „Brandenburg“ mit dem Ziel Baltimore und Cincinnati. Ihre Reise endet jedoch in San Francisco. Und dann kommt es ganz anders, als Bernhard Glaß es in Billed geplant hat. Seine Tochter heiratet einen Landsmann und bleibt in Kalifornien. Er kehrt 1908 nach Billed zurück, um sich am 14. März 1910 erneut einzuschiffen. Er ist inzwischen 60 Jahre alt, doch seine Unternehmungslust ist ungebrochen. Er geht in Hamburg an Bord des Riesendampfers „Amerika“, der den Atlantik in rund acht Tagen durchquert. Auf der Schiffsliste der „Amerika“ ist Bernhard Glaß allerdings mit dem Alter von 48 Jahren eingetragen. Vielleicht hat er geschummelt, denn es ist bekannt, dass Leute in New York nicht an Land durften, wenn sie zu alt waren. Diesmal ist seine Frau Anna dabei. Doch dieser zweite Amerika-Aufenthalt wird für Bernhard Glaß nicht einfach. Seine Frau leidet unter Heimweh. Er hat deshalb nur noch ein Ziel: genügend Geld zu verdienen, um die Heimreise antreten und einen Neuanfang in Billed wagen zu können. Doch als er die Fahrkarten für die Heimreise in Händen hält, stirbt seine Frau vor Freude oder Schreck. Es ist der 3. Oktober 1913. Im selben Jahr ist Bernhard Glaß wieder in Billed, kauft ein Haus und ein paar Hektar Ackerland. Er lebt mit einer Witwe in wilder Ehe. Kurz vor seinem Tod, am 27. Januar 1930, heiratet er diese.

Ein Teil der guten Gene des Bernhard Glaß ist anscheinend über Generationen weitergegeben worden. Nicht nur seine beiden Söhne haben studiert, weitere Nachkommen haben es ihnen gleichgetan. Einige Beispiele: Urururenkelin Ingrid Szlavik hat Betriebswissenschaften studiert, Ulrike Steiner Jura. Nach erfolgreichem Jurastudium hat Urururenkel Timo Rademacher ein Stipendium für zwei Zusatzsemester in Oxford erhalten, wo er gegenwärtig weilt. Ururenkelin Dr. Christa Barth-Schoof (1955) arbeitet in Aachen als Chemieingenieurin, ihre Tochter Claudia Barth (1981) als Ärztin. Ururenkel Hans Sehi (1951) ist ebenfalls Chemieingenieur. Seine Tochter Doris (verheiratete Zimmer) ist Apothekerin, Sohn Alexander hat Maschinenbau studiert. Die Urururenkel Günther (1964) und Klaus (1969) Hehn haben beide Medizin studiert. Urururenkel Patrick (1988) studiert Jura in München, seine Schwester Tanja (1990) Kunst in Bremen. Von den beiden Ururenkeln in Australien wird der eine Botaniker, der zweite Zahnarzt. Ururenkelin Julika hat in Deutschland studiert.

 

Die vollständige, ungekürzte Geschichte des Bernhard Glaß kann im Billeder Heimatblatt gelesen werden, das im Dezember erscheint. Es kann zum Preis von 12 Euro (einschließlich Versand) bestellt werden bei Jakob Muttar, telefonisch (0721 / 784177) oder per E-Mail j.muttar@web.de).

 

Anmerkung der Verfasser: Ziel des Berichts war es keineswegs, über alle Nachfahren ausführlich zu berichten, sondern lediglich mit Beispielen zu belegen, was aus den Nachkommen des Bernhard Glaß geworden ist. Zu seiner Zeit war es etwas Ungewöhnliches, zwei Söhne studieren zu lassen, und erst recht eine Tochter aufs Gymnasium zu schicken. Dass so viele seiner späten Nachkommen studiert haben, ist teilweise auch den Kommunisten zu verdanken, die ihnen bewiesen haben: Man kann einem Menschen alles rauben, außer dem, was er gelernt hat.

Anmerkung der Redaktion: Die Autoren dieses Beitrags gehören zu den Ururenkeln des Amerika-Fahrers Bernhard Glaß.