zur Druckansicht

»Die Leidensgeschichte Banater Deportierter hat mich zutiefst berührt« (I)

Vor kurzem ist das Buch "Silent no More" (Nie mehr schweigen) von Erika Vora erschienen.

Erika Vora im Gespräch mit unserer Zeitung (links Franziska Graf, Leiterin der Banater Seniorengemeinschaft Ingolstadt). Foto: Walter Tonta

Interview mit Prof. Dr. Erika Vora (USA), Autorin des Buches »Silent no More«

Anfang Dezember vergangenen Jahres weilte Dr. Erika Vora, Professorin für interkulturelle Kommunikation an der St. Cloud State University in Minnesota (USA), in Ingolstadt. Im Gepäck hatte sie ihr druckfrisches Buch „Silent no More. Personal Narratives of German Women who Survived WWII Expulsion and Deportation“ (Nie mehr schweigen. Leidensberichte deutscher Frauen, die Flucht, Vertreibung und Deportation als Folge des Zweiten Weltkriegs überlebt haben). Etwa die Hälfte der in dem Buch dokumentierten Zeugenberichte basiert auf Interviews, die die Autorin mit ehemaligen Banater Russland- und Baragandeportierten 2007 und 2009 im Seniorenzentrum Josef Nischbach in Ingolstadt geführt hat. Erika Vora war es ein Herzensanliegen, den Befragten das von ihr signierte und mit einer Widmung versehene Buch persönlich zu überreichen.

Professor Vora, geborene Wenzel, erblickte im Warthegau das Licht der Welt in einer Zeit, die unter keinem guten Stern stand. In den Vereinigten Staaten, wo sie seit 1962 lebt, absolvierte sie ein Universitätsstudium und promovierte in Kommunikationswissenschaften. Vora schlug eine akademische Laufbahn als Hochschullehrerin für interkulturelle Kommunikation ein. Sie war Fulbright-Stipendiatin in Taiwan (Republik China) und leitete einige internationale Studienprogramme ihrer Universität in Deutschland. Als Gastprofessorin und Beraterin wirkte sie weltweit. Vora versteht sich als Brückenbauerin zwischen Völkern und Kulturen und tritt entschieden für die Überwindung religiöser und kultureller Grenzen ein. 

Dank der Vermittlung durch die rührige Leiterin der Banater Seniorengemeinschaft Ingolstadt, Franziska Graf, hatte der verantwortliche Redakteur der Banater Post die Gelegenheit, mit Erika Vora zu sprechen.

Frau Professor Vora, im Jahr 2010 ist Ihr Buch „The Will to Live. A German Family’s Flight from Soviet Rule“ (Der Wille zum Leben. Die Flucht einer deutschen Familie vor der Sowjetherrschaft) erschienen. Es handelt von der Leidensgeschichte Ihrer eigenen Familie in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Ihre aus dem Warthegau stammende Herkunftsfamilie musste sich im Januar 1945 auf die Flucht begeben. Sie waren damals noch ein Baby ...

Meine Familie lebte im Bezirk Konin im Warthegau – im heutigen Polen gelegen – über mehrere Generationen. Wie fast alle Bewohner dieses Landstriches waren meine Vorfahren Bauern. Meine Eltern besaßen einen Hof im Dorf Lubomysle und beschäftigten sich mit Ackerbau, Rinder- und Pferdezucht. Meine Großmutter bewirtschaftete ihren eigenen Bauernhof im Nachbarort Mostki. Auf beiden Höfen arbeiteten polnische Landarbeiter. Alle Mitglieder meiner Familie waren Deutsche. Sie lebten und arbeiteten in deutscher Umgebung, und die Kinder besuchten deutsche Schulen. Wegen der ethnischen Vielfalt der Region sprachen die meisten Deutschen auch Polnisch und einige auch Russisch. Dann kam der Zweite Weltkrieg, der das Leben aller Deutschen dieser Region und aller deutschen Ostgebiete für immer veränderte.

Es war Januar 1945, und es herrschte ein extrem kalter Winter, als meine damals 34-jährige Mutter mit einem Säugling auf dem Arm (das war ich) und mit meinen drei Schwestern im Alter von 9, 11 und 12 Jahren vor der herannahenden Roten Armee und herumwütenden Polen fliehen musste. Unsere Familie verlor ihr Heim, ihre Lebensgrundlage, ihre ganze Habe und ihre Rechte. Eisige Kälte, quälender Hunger und Angst waren ständige Begleiter unserer Flucht. Es wurde uns alles geraubt: Wagen und Pferde, die wenigen Habseligkeiten, die wir mitgenommen hatten, dazu noch die Winterschuhe der Mutter, die nun barfuß im Schnee laufen musste. Wir hatten nicht mehr als das, was wir auf dem Leibe trugen.

Bis Frühjahr 1947 wurden meine Mutter und meine Schwestern wie Sklaven zur Schwerstarbeit bei zwei polnischen Bauernfamilien gezwungen, denen sie völlig rechtlos ausgeliefert waren. Wir litten schlimmsten Hunger. Als meine Mutter für ihre Kinder um Milch bat, wurde sie fast zu Tode geprügelt. Das gleiche wiederholte sich, als sie sich meiner Adoption durch die Ehefrau eines polnischen Majors widersetzte. Sie zog es vor, eher zu sterben, als ihr jüngstes Kind zur Adoption freizugeben. Die Stärke und der Mut meiner Mutter im Bestreben, ihre vier Kinder vor Erfrierung und Hungertod zu schützen, ist bewundernswert. Sie schöpfte diese Stärke aus dem Glauben und bat den Allmächtigen immerfort: Wohin immer wir auch gehen müssen, lass uns zusammenbleiben und lass mich kein Kind verlieren.

Sie erwähnten, dass die Mitglieder Ihrer Familie bis 1947 Sklavenarbeit leisten mussten. Was geschah danach?

Meine Großmutter und meine fast achtzigjährige Urgroßmutter wurden durch Polen als Zwangsarbeiterinnen auf ihrem vormals eigenen Bauernhof in Mostki zurückgehalten. Wie durch ein Wunder konnten alle vier Generationen der weiblichen Familienmitglieder 1947 aus Polen in die Sowjetische Besatzungszone fliehen, wo sie in den Ruinen eines Schlosses in Klein Rosenburg, in der Nähe von Magdeburg, eine ärmliche Bleibe fanden. Unsere Urgroßmutter starb hier an Auszehrung. Da meine Mutter und Großmutter in der von Russen besetzten DDR mit ihrer allgegenwärtigen Geheimpolizei keine Zukunft sahen, flohen wir in den folgenden Jahren in den Westen und gelangten nach Westfalen. All dies findet sich in meinem Buch „The Will to Live“ wieder.

Nun legten Sie mit „Silent no More“ einen weiteren Band vor. Er enthält über dreißig Erlebnisberichte deutscher Frauen über Flucht, Vertreibung, Deportation. Wie kam es zu diesem Buch?

Eigentlich wollte ich nur ein Buch schreiben. Dafür hatte ich den Titel „Daughters of the Vaterland“ (Töchter des Vaterlandes) vorgesehen. Das Unterfangen erwies sich aber als problematisch. Zum einen, da ich über das Schicksal der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien zu schreiben gedachte. Da stellte sich die Frage: Welches ist das Vaterland? Und wenn wir von der verlorenen Heimat sprechen: Um welche Heimat handelt es sich? Für Amerikaner wäre dies alles viel zu kompliziert. Zum anderen fand ich die Geschichte meiner Familie so schrecklich und erschütternd, dass sie irgendwie nicht zu den anderen passte. So ist daraus ein eigenes Buch entstanden. Förderlich für mein zweites Buchprojekt war die Tatsache, dass ich Direktorin eines internationalen Studienprogramms meiner Universität in Ingolstadt wurde. Insgesamt neunmal war ich hier.