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Schlimme Zeiten und das Schweinchen Itzi - Erinnerungen von Albert Müller

Um an die Ereignisse heranzukommen, die ich euch schildern möchte, musste ich zeitlich weit zurückgehen und tief in meinen Erinnerungen stöbern. Es sind knapp achtzig Jahre, die seither übers Land gezogen sind und viel, sehr viel ist verschüttet und fast in der vergessenheit abgetaucht.
Wir schreiben das Jahr 2024 und der Frühling entfaltet sich in seiner schönsten Blütenpracht. Meine ersten Erinnerungen gehen in den Herbstanfang, in den September 1944 zurück. Damals drohte die Welt aus den Fugen zu geraten. Es war Krieg und die Front war auch in unserem Dorf Traunau im Banat angekommen. Von Lippa her bewegte sie sich über Guttenbrunn der Kreisstadt Arad zu. Die Ungarn kämpften damals an der Seite der Deutschen Armee und sollten die Russen beim Vormarsch aufhalten, was ihnen auch einige Tage lang gelang. Die Ungarn benutzten den Traunauer Kirchturm als Beobachtungsstützpunkt, von wo aus sie das Land weit überblicken konnten. Die Russen ahnten dies und nahmen den Traunauer Kirchturm mit ihren Kanonen ins Visier. Gott sei Dank, dass ihre Geschosse ihn verfehlten. Und doch trafen sie ein für unser Dorf wichtiges Gebäude: das Gemeindehaus. Dieses stand etwas mehr als 50 Meter von der Kirche entfernt. Man hätte den Brand löschen können, aber die Bevölkerung versteckte sich so gut es ging in den Kellern, man hatte Angst um sein Leben.
Einige Tage vorher war durchgesagt worden, dass alle, die vor den Russen flüchten wollen, dies in dden nächsten ein, zwei Tagen tun sollten. Mein Vater war damals in Frankreich an der Front und mein Großvater, der im ersten Weltkrieg Feldwebel war, meinte, dass unsere Familie nicht flüchten sollte, denn “wo die Bewohner weg sind, wird geplündert.” Er wollte den erarbeiteten bescheidenen Wohlstand nicht aufs Spiel setzen.
 An jenem Tag, als die Ungarn von unserem Dorf abzogen und die Russen ohne große Kampfhandlungen nachrückten, waren alle in den Kellern. Unserer war mit uns und den Nachbarn überfüllt. Mehr als zwanzig Leute, darunter auch Kinder, saßen dicht an dicht nebeneinander. Die russischen Soldaten durchsuchten jedes Haus nach Bewaffneten. Auch in unseren Keller schauten sie hinein und sahen nur verängstigte Kinder, Frauen und alte Männer.
Die Ungarische Armee leistete erbitterten Widerstand bei der Eroberung von Arad und die Russen machten Verschnaufpause, indem sie sich in Traunau in den Häusern einquartierten. Bei uns im Haus war ein Offizier mit seinem Gefolge. Er sprach deutsch, nahm mich bei der ersten Begegnung auf den Arm und gab mir Bonbons. Er sagte, dass sein Junge so groß ist wie ich und er mich mag. Ich war gern bei ihm. Er sorgte auch, dass es keine Übergriffe seiner Soldaten gab.
Die Soldaten, die bei uns einquartiert waren, wurden dann abgezogen und andere rückten nach. Diese hatten von ihren Offizieren die Erlaubnis bekommen, zu tun, was ihnen beliebt. Die Frauen mussten sich verstecken, um nicht in die Hände dieser zügellosen Horde zu gelangen. Auch meine Mutter versteckte sich, meine Großeltern halfen ihr dabei. Obwohl die Soldaten das Haus fast auf den Kopf stellten, fanden sie sie nicht. Die Soldaten waren überzeugt, dass dort, wo ein vierjähriges Kind ist, auch eine junge Frau sein musste. Sie wollten meinen Großvater nötigen, das Versteck preiszugeben. Zwei Soldaten stellten ihn im Garten, zum Erschießen hin, gingen in Position und legten ihre Gewehre schussbereit an. In diesem Moment kam ein Offizier und befahl ihnen, die Gewehre abzulegen. Um ihrem Ärger Luft zu machen, erschossen die Soldaten unseren Haushund Taxi, meinen guten Freund. Ich weinte um ihn.
Ob von den Russen oder von den Ungarn eine Granate in unseren Schweinestall einschlug, blieb unklar, aber der Schaden, den mein Großvater vorfand, war groß. Die Muttersau und ihre Ferkel wurden getroffen. Die Sau wurde nur leicht verletzt, aber die Ferkel waren bis auf eines tot. Das eine war am rechten Hinterbein verletzt. Meine Großeltern versorgten die Verletzungen, das kleine Schweinchen blieb aber krumm, es hinkte mit einen Bein. Es bekam auch einen Namen; ich taufte es „Itzi“. Von wo ich diesen Namen aufschnappte, weiß ich nicht mehr, aber das Ferkel ersetzte mir unseren Hund Taxi. Sobald es außer der Schweinemilch auch fressen konnte, brachte ich ihm mit meinen Großeltern das Futter. Auch Itzi gewöhnte sich an mich, da ich jeden Tag nach ihm schaute, oft in den Schweinestall ging und es streichelte. Es wurde immer größer und eines Tages kam mir die abstruse Idee, es an den Hinterbeinen mit meinen Händen zu fassen und es mit den Vorderbeinen zum Laufen zu bringen. Itzi hat mir den Gefallen getan und ich nannte dieses Spiel: “Schubkarrenfahren”. Meine Großeltern ließen mir die Freude. Trotz des Hinkebeins wuchs Itzi zu einem ausgewachsenem Schwein heran und es wurde im folgenden Jahr wieder Herbst. Die kalte Jahreszeit rückte näher und die Schweine-Schlachtzeit war gekommen. Zum Schubkarrenfahren war Itzi zu schwer geworden, aber gestreichelt hab ich ihn trotzdem fast jeden Tag. Ich wusste bereits, was Schweineschlacht bedeutet und ahnte, was mit Itzi passiert. Als es soweit war, hielt ich mir die Ohren zu und weinte bitterlich.
Im Januar des folgenden Jahres wurden die Leute nach einer Namensliste - Männer, Frauen und Jugendliche - von den Russen zusammengesucht, um nach Russland verschleppt zu werden. Das Versteckspiel begann wieder. Meine Mutter stand auf der Liste, nach ihr wurde gesucht. Sie versteckte sich so gut, dass man sie nicht fand. Die Zahl musste beim Abtransport stimmen und man drohte, meinen Großvater, anstatt meiner Mutter nach Russland zu verschleppen. Da kam sie aus dem Versteck und es wurden für sie dreieinhalb Jahre harte Schwerstarbeit bei unzulänglicher Ernährung im Uralgebirge. In dieser Zeit sorgten meine Großeltern für mich.
Es waren für mich prägende Kinderjahre, die mit dem Einzug der rumänischen Kolonisten im Dorf ihren negativen Höhepunkt erreichten. Was uns Kindern in jener Zeit an Seelenschmerz angetan wurde, dürfte nie mehr passieren. Doch wie man sieht, wird dies auf unserer Erde immer ein Wunschdenken bleiben. Der Ukrainekrieg verlangt wieder seine Opfer, auch unter den Kindern. Bei diesem Gedanken werde ich traurig. Ja, mir kommen fast die Tränen.