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Erinnerungen an die Deportation: Nur mit Gottvertrauen überlebt

Ein Bild aus der Deportation (Krivoi-Rog 1948). Von links: Magdalena Blasy (Stickel), Elisabeth Klein (Römer), Veronika Seibert (Schmidt). Einsenderin des Fotos: Veronika Krastl

Es hatte sich herumgesprochen, dass alle deutschen Arbeitskräfte nach „Russland“ müssen. Wir wollten es aber nicht wahrhaben. Viele haben überlegt, wenn es soweit kommt, sich zu verstecken. Auch wir hatten den Plan und bekamen das Angebot von unserem rumänischen Gastwirt in Temeswar, uns bei ihm zu verstecken. Er sagte: „Bei uns findet euch keiner“. Die Alternative wäre aber gewesen, dass sie dann möglicherweise meine Mutter mitgenommen hätten. Das war nicht zumutbar, denn da waren noch zwei jüngere Schwestern zu versorgen.
Am 13. Januar 1945, Samstag abends, waren wir – eine Gruppe Mädels – beisammen. Auf dem Heimweg waren ich und meine Freundin Anna Urban aus der oberen Hauptgasse nach Hause unterwegs. Plötzlich standen zwei rumänische Soldaten mit Gewehr vor uns und sagten: „Stai“, stehen bleiben. Die beiden unterhielten sich mit uns und fragten, wie alt wir sind, wir wollten aber unser Alter nicht sagen. Zum Schluss sagten wir es doch: Ich war 20 Jahre alt und meine Freundin Anna 22. Die Soldaten schwiegen und schüttelten nur die Köpfe. Die wussten, dass wir in der Früh dabei sein werden. Das Dorf war umzingelt von rumänischem Militär, genauso waren Soldaten im ganzen Ort.
In Viehwaggons zusammengetrieben
An jenem Abend ging Anna mit mir nach Hause und schlief bei mir, was wir im Wechsel öfter getan haben. Um 5 Uhr klopfte Annas Vater bei uns ans Fenster und sagte: „Anna du musst sofort kommen. Es waren zwei Soldaten mit Gewehren im Haus, die holen dich mit“. Mein Vater, Hans Seibert, war bereits bei Kunden zum Rasieren und er kam gewöhnlich erst gegen Mittag nach Hause. Wir hätten genügend Zeit gehabt zum Einpacken, haben aber vor lauter Schreck nichts tun können. Wir wussten auch nicht, was man mitnehmen sollte oder durfte. Warme Kleidung hatten wir nicht. Im Winter haben wir nicht draußen gearbeitet. Wenn wir gewusst hätten, was uns erwartet, hätten wir noch warme Kleidung besorgen können. Zur Sicherheit haben wir Geld mitgenommen, was uns leider nicht geholfen hat, denn wir mussten es wegwerfen. Mittags haben Soldaten mich und meinen Vater abgeholt. Die Soldaten gingen mit uns ins Haus der Familie Schuld, wo die Sowjets ihr Büro eingerichtet hatten. Sie hatten Listen mit den Namen und dem Alter von den Personen, die sie brauchten. Hier wurden wir nochmals registriert. Danach ging es in die Zigeunergasse. Die Bewohner mussten ihre Häuser räumen und wir wurden hier für 2-3 Tage – was wir vorher nicht wussten – untergebracht, bis alle zusammengetrieben waren und die Zahl stimmte. Am dritten Tag standen russische Lastwagen mit Planen in der Straße, mit denen wir nach Temeswar an den Hauptbahnhof gefahren wurden. Hier standen leere Viehwaggons, in die wir „reingetrieben wurden“, wie sonst das Vieh. Die russischen Soldaten waren nervös, sie schrien und fluchten, sie hatten Angst, dass welche durchgehen. Die Zahl musste stimmen, ansonsten wurden sie bestraft. Ab und zu gelang es jemandem, wegzulaufen. Wenn die Soldaten merkten, dass jemand fehlte, holten sie irgendjemand von der Straße, der gerade greifbar war. In einem Viehwaggon waren 60 bis 80 Männer und Frauen. Das zu erleben, war für alle sehr peinlich. Als Klo war ein Loch aus dem Boden ausgesägt. Im Waggon war es sehr kalt. Wir waren ca. 8-10 Tage unterwegs. Der Krieg war noch nicht zu Ende und in den größeren Bahnhöfen mussten wir über Stunden und Tage stehen bleiben. Das russische Militär fuhr Richtung Westen. Damit diese Züge fahren konnten, mussten wir warten. Im Bahnhof Iași wurden wir in russische Viehwaggons verladen, da die rumänischen Waggons nicht auf die russischen Gleise passten. Ende Januar kamen wir in Krivoj Rog (heute Ukraine) an. Unser Gepäck wurde erst im Hof auf einen Haufen geschmissen. Als erste Erinnerung und Überraschung gab es eine warme Suppe, die bereits auf dem Tisch in Tellern stand. Die Vorfreude war zu früh, denn in dieser Suppe waren getrocknete Erbsen samt Käfern und Würmern drin. Keiner hat was davon gegessen. Die Russen haben uns dafür bestraft; die Lebensmittel, die wir noch von zuhause hatten, Schinken und Wurst, haben sie uns weggenommen. Somit waren wir gezwungen, das zu essen, was sie uns vorgesetzt haben.
Nach dem Begrüßungsessen ging es in die Baracken, wo uns unser Raum zugeteilt wurde. Er war ausgestattet mit meterlangen Pritschenreihen aus nackten Brettern. Dort wurden wir gleich nebeneinander platziert. Meine Cousine Kathi Schmidt, meine Großcousine Susi und ich hatten zusammen drei Decken. Eine legten wir quer als Unterlage und mit den beiden anderen haben wir uns zugedeckt. Warm hatten wir nicht, nur Schutz vor dem Erfrieren. Unterhalb der Pritsche war ein Durchgang und an der Wand waren Fenster mit Eisengittern, wo die meisten Scheiben fehlten. Am gleichen Abend mussten wir noch in die Entlausung. Draußen war ein heftiger Schneesturm und wir mussten über Bahngleise gehen, was uns den Weg erschwerte. Dort war ein großer Duschraum und daneben die Kammer, in der die Kleider entlaust wurden. Wir mussten uns ausziehen und die Kleider in der Kammer abgeben. Unfassbar, was wir da erleben mussten. Wir konnten uns nicht vorstellen, was noch auf uns zukommt. Jeden Abend mussten wir alle Kleider und die Haare nach Läusen absuchen.
Der erste Arbeitstag
Am 5. Februar 1945 war der erste Arbeitstag. Wir wurden an ein Gerätehaus gebracht und bekamen unser Werkzeug: eine Schaufel, einen großen Eisenhammer, ein Steinmeißel und eine Trage. Ich wurde für die Sandgrube eingeteilt, wo noch kein Sand gefördert wurde, d. h. es sollte erst eine eingerichtet werden. Der Boden war hart gefroren und es war bitterkalt. Da sollten wir Frauen und nur zwei Männer die Erde mit Pickel und Eisenhammer lockern und dann beiseite tragen. Daneben war bereits eine angelegte Sandgrube. Mittags mussten wir zum Essen ins Lager gehen. Der Weg dahin führte über einen Fluss, der Weg über die Brücke war zu weit, dann hat man zwei Eisenbahnschienen gelegt, um so rüberzukommen. Ich hab’ gesagt, ich habe Angst und gehe da nicht drauf. Musste ich aber und bin gleich ins kalte Wasser gefallen. Zum Glück kamen die von der anderen Schicht und Nikolaus Schmidt (mein späterer Mann) hat mich aus dem Wasser gezogen. Es gab zu Mittag einen Esslöffel Gerste und ein Maß Öl, so groß wie ein Fingerhut. Es war nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Beim Frühstück gab es ca. 500g Brot als Tagesration, klebrig wie Seife und voller Spieße von den Ähren. Zum Abendessen gab es im Winter eine saure und im Sommer eine grüne frische Gurke. Was ich noch berichten wollte: Wir hatten im Lager eine jüdische Dolmetscherin, sie war sehr gut zu uns und sagte immer: Mädels, macht euch aus euren weiten Röcken Kleider. Fast jeden Tag kam dann später eine Botschaft: Wir gehen bald nach Hause. Diese Nachricht kam immer von einem anderen Lager. Als die Dolmetscherin das hörte, sagte sie: „Mädels, ihr müsst noch lange hier bleiben“. An einem schönen Tag war sie verschwunden. Was haben wir mit unseren Kleidern gemacht? Alle verkauft, um uns Essen zu besorgen. Für ein Kleid bekamen wir 700 Rubel. Obwohl wir nicht warm angezogen waren, mussten wir das machen, sonst wären wir verhungert. Arbeitskleidung gab es keine. Was noch schlimmer war: Wir mussten jeden Abend nach der Arbeit im Hof antreten. Wir waren ca. 2000 Personen im Lager und standen stundenlang unnütz da – bei jedem Wetter, bei Regen, Schnee, Frost, bis alle vorgelesen waren. Bei verschiedenen Namen lachte der Offizier eine halbe Stunde, weil er wusste, was der Name auf Deutsch bedeutet, wie Maus, Kumaus usw.
Sandgrube und Bau
Nach dem Abtragen der Erde ging es an den Bau. Da standen große Häuser, aber nur die Wände – kein Dach, kein Fenster. Als erstes haben wir diese renoviert und die Mauern verputzt. Es war noch sehr kalt und es musste mit heißem Wasser Mörtel in der Lore gemacht werden. In der Nähe unseres Lagers waren auch russische Gefangene, die vom Krieg zurückgekommen und bestraft waren und deswegen nicht nachhause durften. Sie arbeiteten mit unseren Landsleuten auf dem Bau. Den Mörtel haben die Männer gemacht. Meine Freundin Anna Kronenberger (verh. Ruttner) und ich mussten den Mörtel am ersten Bau zu zwei jungen Russinnen zum Verputzen der Mauern bringen. Die waren sehr schnell bei der Arbeit und riefen immer wieder: „Davai, davai bistro!” (Los, los schneller!) Als diese Häuser fertig waren, mussten wir Fundamente ausgraben für neue Häuser. Auch da mussten wir wieder Mörtel tragen, es war nicht leichter. Das Fundament haben die Russen gemauert und wir den Mörtel darauf geschüttet, da hieß es immer, wir sind zu langsam. So haben wir eine ganze Siedlung gebaut. Ich war von Anfang an dabei. Von Fundament, Stuck und bis zum Streichen haben wir Frauen alle Arbeiten ausgeführt. Nach Fertigstellung der Häuser haben wir davor alles eingeebnet und angelegt.
Wegen der schlechten Versorgung mit Lebensmitteln und den unzureichenden Mahlzeiten war mein Vater sehr geschwächt und wurde sehr krank. Hätten wir nicht noch Essen dazugekauft, hätte er diese Zeit nicht überlebt. Mein Vater kam daher 1946 in einen Krankentransport. Mich hat das schwer getroffen, ich lag auf meinem Bett und habe bitterlich geweint, als ein russischer Offizier kam und sagte: „Dein Vater ist nicht nach Hause, sondern nach Ostdeutschland transportiert worden“. Dort wurden solche Menschen auf Bauernhöfen als Helfer in der Landwirtschaft verteilt. Mein Vater hatte Glück, er wurde zuerst gepflegt und ernährt, so dass er wieder arbeiten konnte.  Am 30. April 1947 musste ich mit meiner Cousine Susanne Kelter das Rathaus streichen. Nachts hatte es viel geregnet, das Holzgerüst war nass und der Boden durchweicht. Das hätte man sehen müssen. Trotzdem hieß es: an die Arbeit.
Handgelenk gebrochen
Auf dem Gerüst stand eine Leiter und beim Aufsteigen hat sich das Gerüst in den weichen Boden gesenkt und ist mit uns beiden umgestürzt. Ich wurde mit einem Pferdewagen ins Krankenhaus gebracht. Es wurde festgestellt, dass das Handgelenk gebrochen ist und die Ärzte haben den Arm auf ein Brett festgebunden. Das war ein großer Fehler. Nach acht Tagen kam unser Lagerarzt, Dr. Schneider, ein Temeswarer (Anm.: Allgemeinmediziner Dr. Hans Schneider hatte seine Praxis in der Temeswarer Ispirescu-Str.), mich besuchen und sagte sofort, dein Arm ist gebrochen. Er nahm mich mit ins Lager und wollte den Arm retten. Er bereitete Gips vor, nahm noch zwei Männer hinzu, die sollten den Arm auseinander ziehen. Ging nicht mehr, denn der Arm war schon zu fest zusammen gewachsen. Der Arzt hat trotzdem den Gips auf dem Arm festgemacht und ich wurde noch für einen Monat krankgeschrieben. Eines abends, Ende Mai, kam Dr. Schneider und sagte: Morgen machen wir den Gips ab. Am darauffolgenden Tag kam die Nachricht: Es geht ein Transport nach Rumänien. Als Dr. Schneider dies hörte, kam er und sagte: „Wir machen den Gips wieder an den Arm und du gehst zur Kommission“. Hat alles soweit geklappt und wir zwei, Susanne und ich, sollten uns fertigmachen für den Heimweg. Zwei Tage später kam die Nachricht, dass der Transport abgesagt ist. Die Folge war, dass wir fünf Jahre bleiben mussten.
Durch den Unfall konnte ich nicht mehr am Bau arbeiten und kam in die Wäscherei. Das war nicht mehr so schwer. Ich hatte Schmutzwäsche einzusammeln und saubere auszugegeben. Die Wäsche war für unser Lager und für das russische Soldatenlager. Zu der Wäscherei gehörte die Zentralheizung, hier musste ich ab und zu helfen, die Schlacke aus dem Ofen zu entfernen. Ich hatte einen guten Brigadier, war oft bei dem zuhause. Seine Mutter war 90 Jahre alt und da bekam ich immer eine „Borschtsch-Suppe“. Wenn die Chefs der Wäscherei gefeiert haben, wurde ich auch eingeladen.
Der Chef der Wäscherei hat mich als Kindermädchen beim obersten Lagerleiter engagiert. Im Sommer wurden unsere Räume entlaust, da kamen die Kammerjäger. Fenster und Türen wurden zugeklebt und die Wanzen und Läuse wurden mit Gas getötet. In dieser Zeit mussten wir im Hof auf der Grasfläche schlafen. Die Schlafräume wurden ständig gewechselt, so dass es immer andere Pritschen gab und am Schluss waren es sogar Eisenbetten.
Endlich heimwärts
Im November 1949 kam die Nachricht, dass wir nicht mehr arbeiten müssen, wir konnten acht Tage vor der Heimreise im Lager bleiben. Dann wurden wir mit Lkw an den Bahnhof gebracht und konnten die Heimreise antreten. Hier waren dann Heimkehrer aus verschiedenen Lagern. Es ist wie ein Wunder, dass ich das nach alldem – nur mit Gottvertrauen – überlebt und heute das Alter von 95 Jahren erreicht habe. Diese Zeit bleibt unvergessen und so was soll niemand auf der Welt mehr erleben. Zuhause wurde kaum davon geredet, weil man mit der Angst lebte, dass dies ungute Folgen haben könnte. Mein späterer Ehemann Nikolaus Schmidt war anfangs bei mir im Lager. Er musste später in ein anderes Lager und arbeitete dort in der Grube. Tagelang stand er nur mit Gummilatschen im kalten Wasser und hatte dadurch immer Schmerzen in den Beinen.

Anmerkungen der Tochter:
Ich, Veronika Krastl, geborene Schmidt, kann mich als Tochter nur an Bruchteile erinnern, da dieses Schicksal mir gegenüber nicht thematisiert wurde. Ab und zu habe ich erfahren, dass meinem Vater in „Russland“ die Füße erfroren waren, oder, wenn ich etwas nicht essen wollte, hieß es: „Ach, wenn wir das in Russland bekommen hätten“. Die schlimme Zeit wurde stets nur mit kurzen Bemerkungen erwähnt.

Veronika Schmidt, geborene Seibert, (geb. am 11. Januar 1925) wurde zusammen mit ihrem Vater Johann Seibert (geb. am 13. Januar 1904) im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Erst Ende November 1949 kam sie wieder nachhause. Ihre Erinnerungen hat sie vor mehreren Jahren für das Buch der Erinnerungen an die Deportation aufgeschrieben. Die Autorin ist am 13. September 2023 verstorben.