Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es auf dem Land im Banat, hier mit Sonderbezug auf Marienfeld, grob drei soziale Klassen, die mit der folgenden Gliederung (fast) alle Gesellschaftsmitglieder umfassten. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Essay, also einen Versuch, die Herausbildung der sozialen Schichten und ihrer Verstetigung zu erklären. Grundlage dieser Überlegungen ist das 1986 erschienene Heimatbuch Marienfeld.
Zur Oberschicht gehörten vor allem die sogenannten „Grundherren“, also Eigentümer von Agrarflächen und Vieh sowie Betriebsmitteln und Vorratsräumen für Landwirtschaft, Viehzucht, Wein- und Obstbau. Die zweite Gruppe waren die „Geschulten“, also Ärzte, Apotheker, Priester, Lehrer, Richter sowie Notare.
Zur Mittelschicht gehörten erstens die Gewerbetreibenden (Handwerker) und Fuhrleute, zweitens die Kaufleute, Großhändler und Gastwirte und drittens die Inhaber von Manufakturen wie Mühlen, die Erzeuger von Wein und von Obstbränden, die Erzeuger von Besen, Sodawasser usw.
Zur Unterschicht gehörten einerseits die Kleinlandwirte, die dauerhaft fremd beschäftigten Arbeitsmänner, Taglöhner, Waschfrauen u.dgl. mit eigenem Wohnraum, andererseits die Knechte und Mägde als Mitbewohner in Nebengebäuden bei Grundherren ohne eigenen Wohnraum.
Eine in Schichten aufgeteilte Gesellschaft zeichnet sich durch soziale Ungleichheiten aus und diese werden nicht vererbt wie in feudalen Gesellschaften. Ungleichheit bedeutet ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Es handelt sich um funktionale gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Schichten. Die Stellung der Einzelpersonen und Familien in der Ortsstruktur war durch ihre wirtschaftliche Leistung bestimmt, durch die unterschiedliche Qualität der Arbeit, jedoch durch ererbten Besitz, Zufälle und lokale Zwänge relativiert. Die Mitglieder einer sozialen Schicht hatten den gleichen sozialen Status und meistens eine ähnliche wirtschaftliche Lage. Die Schichtstruktur steckte jedoch voller Dynamik und bot auch soziale Mobilität. Diese über Jahre gewachsenen Klassenstrukturen wankten im 2. Weltkrieg und lösten sich nach Ankunft der Roten Armee in Marienfeld am 6. Oktober 1944 innerhalb von kurzer Zeit auf.
Das Heimatbuch Marienfeld
Das Heimatbuch aus dem Jahr 1986 ist fast 800 Seiten dick und gründet auf Arbeiten vieler motivierter und fähiger Mitwirkenden. Als es vor 40 Jahren entstand, betraf es eine Vergangenheit von rund 200 Jahren ab der Gründung Marienfelds im Jahr 1770. Die Beschreibung enthält Hinweise, warum sich im Ort eine exzellente Weinwirtschaft entwickelte: Miteingewanderte Fertigkeiten zur Bearbeitung von Rebenplantagen und zur Weinerzeugung sowie die wirksame Förderung der Rebenbepflanzungen durch die früheren Grundherren. Die Autoren machten die früheren Zeiten sinnlich erlebbar. Es ging immer um Weinbau und um Ereignisse in seinem Umfeld, um die Arbeit und Freizeit im Jahresrhythmus.
Die Geschichtsdaten der Gemeinde beinhalten auch viele Schock-Erlebnisse der Bevölkerung: Rückschläge, Brüche und Beben, Epidemien, Missernten, Revolutionen, Auswanderung, Kriegsausbruch, Frontquerung des Ortes, Flucht, Enteignungen, Verschleppungen in die UdSSR und in den Baragan. Erzählungen zeigen schicksalshafte Stürme, die von außen auf den gefühlt wie eine Insel in sich geschlossenen Ort einwirkten, in dem sich ganz eigentümliche Nationalitäts-, Gesellschafts- und Glaubenstraditionen vermischten.
Konflikte zwischen Gerechtigkeit, Gleichheit und realem Leben werden gestreift. Dass der österreichische Kaiser Josef II die Brüder Christoph und Cyrill Nakó 1781 drängte, die Banater Güter Groß-St-Nikolaus und Teremi zu kaufen (nur elf Jahre nach Ansiedlung) wird erwähnt. Kritisiert wird nicht das, sonden die menschenunwürdige Behandlung der Untertanen durch Großgrundbesitzer und Obrigkeit bis zu der Revolution 1848. Auch fehlt der Hinweis nicht, dass die Weinhändler ein Kartell bildeten und den Erzeugern im Ort gedrückte Preise zahlten. Doch wie und wann sich die sozialen Klassen herausbildeten und verstetigten, wird leider nicht thematisiert.
Die Oberschicht
Marienfeld wurde auf ungarischen Kameralgütern angesiedelt, der Begriff Kameralgut beschreibt das Eigentum der ungarischen Herrscherfamilie, das auf den Nachfolger überging. Der Ort wurde 1769/70 mit 113 ganzen (Hausgrund, 24 Joch Äcker und sechs Joch Wiesen) und zehn halben (Hausgrund, zwölf Joch Äcker und vier Joch Wiesen) Sessionen besiedelt. Es bestand Zehent- und Robotpflicht, d. h. der Pflicht, Steuern zu zahlen und kostenlose Leistungen für die Herrschaft zu erbringen.
Da viele Ansiedler wegen fehlender Arbeitskräfte mit der Bewirtschaftung überfordert waren und ihren Besitz verließen, besiedelten die neuen Eigentümer der Nakó-Familie den Ort bereits ein Jahr nach Erwerb des Gutes Teremi im Jahr 1782 zusätzlich mit 44 Kleinhäuslern mit: Hausgrund, je 1 ½ Joch Kleegarten und Hutweide, dazu 1 ½ Joch Weingarten. Unschwer zu erkennen, dass die 44 Kleinhäusler Arbeitskräfte für die Bearbeitung der 113 plus zehn Sessionen darstellten. Das bedeutet, schon eine Dekade nach Ortsgründung gab es Klassen unter den 167 (113 + 10 + 44) Ansiedlern.
Ein Sessionsteilungsverbot bestand bis 1848, gleichbedeutend mit Verkaufsverbot von Teilen der Session. Die Weitergabe der ganzen Session war allgemein geregelt: Der älteste Sohn erbte die ganze Session, allerdings mit den Verpflichtungen: Robotleistungen gegenüber der Herrschaft, Bargeldabfindungen an die Geschwister und dauerhaft für die Eltern zu sorgen.
Ab 1849 war es möglich, die Session unter den Kindern aufzuteilen - mit dem Ergebnis vieler Kleinbetriebe. Andererseits bot sich den Tüchtigen die Möglichkeit, den Betrieb durch Zukauf zu vergrößern. Zugekauft wurde innerhalb und außerhalb der Gemarkung Marienfeld. Eine Option bot die „Herrschaft“ durch Gewähren einer Langzeitpacht. Der unterschiedliche Besitz von Äckern, damals in Joch gemessen, ging einher mit mehr oder weniger Chancen in der Klassengesellschaft. Der Einsatz von Pferden als Zugtiere (Kühe und Ochsen waren im Ort verpönt) und manuelle Arbeit bot in den ersten 100 Jahren ab Gründung kaum Möglichkeiten der Differenzierung unterschiedlicher Produktivität wie später bei der Mechanisierung der Landwirtschaft.
Zur Oberschicht gehörten auch die Geschulten, eine Frühform späterer Intelligenz, die im Dorf vertreten waren. Ab Ansiedlung wirkten „Chirurgen“, Ärzte, Heilpraktiker und Hebammen, ansässig oder von außen kommend. Die selbständige Pfarrei begann 1770, Ortsrichter und Notare wirkten von Anbeginn in der Gemeinde. Eine Schule wurde alsbald gegründet und der Lehrer wohnte zur Untermiete, wie berichtet wurde. Tierärzte praktizierten ab Mitte, die erste Apotheke wurde Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet.
Der Aufstieg der Geschulten zu Priestern, Studenten der Theologie auch aus der Unterschicht, wurde durch die Kirche gefördert. Klassische Studien der damaligen Zeit, wie Jura und Medizin, fernab des Heimatortes, in vielen Fällen sogar in Österreich oder Deutschland. Das konnte nur Söhnen vermögender Bauern oder anderer Familien der Ober- oder Mittelschicht ermöglicht werden.
Die Mittelschicht
Beginnend mit dem Zunftwesen widmeten die Verfasser des Heimatbuches den wichtigen Gewerbetreibenden 40 Seiten. Bereits bei Ansiedlung 1770 waren 28 Handwerker unter den Kolonisten, im Jahr 1940 bereits 98. Handwerksmeister hatten die Möglichkeit, aus der Unter- in die Mittelschicht aufzusteigen bzw. als Meistersohn oder -tochter in der Mittelschicht zu bleiben. Doch der Weg dahin erforderte viel Arbeit und mindestens ein Dutzend Lehr-, Gesellen- und Wanderjahre. Lernen, lehren und zuletzt Lehre mit Taschengeld beanspruchte eine drei- bis fünfjährige Unterweisung in vielfältigen Verrichtungen in Werkstatt und Haushalt der Meister. Für die Aufnahme der Lehrlinge galten strenge Bedingungen, für das Erlernen der Fertigkeiten dagegen genügten oft Mindeststandards. So dass Gesellen auch auf Wanderschaft noch viel lernen mussten, um als Meister in der Gemeinde zugelassen zu werden.
Vor der Motorisierung waren Wagen auf Zugtiere, in Marienfeld Pferde, angewiesen. Mit robusten zweiachsigen Leiterwagen transportierten Fuhrleute die Feldfrüchte der Bauern mühevoll zu Schiffsladestellen. Bei der Weinlese halfen Fuhrleute, die Trauben in Kastenwagen zu den Pressstationen und dann den Exportwein in Fässern auf umgebauten Doppelbalkenwagen zum Bahnhof Kikinda oder Mokrin und später, nach dem Eisenbahnbau 1910, zum Marienfelder Bahnhof zu fahren: Oft Schwerstarbeit für Mensch und Tier auf aufgeweichten Fahrwegen. Diese kernigen, gut verdienenden Mittelschichtler verfügten über Pferde, Ställe für diese, einen Wagenpark für unterschiedliche Produkte und Arbeitskräfte.
Die Entwicklung des Handels ist mit der Dorfentwicklung eng verknüpft. Die frühen Selbstversorger kauften nur Petroleum und Salz. Später trafen Angebot und Nachfrage auf dem Wochenmarkt aufeinander. Im Laufe der Zeit öffneten viele Einzelhändlerläden (für Endverbraucher) im Ort für: Haushaltswaren, Futtermittel, Gewerbebedarf, Bau- und Holz-(Heiz-)Material, Särge usw.
Großhändler als Wiederverkäufer waren im Ort und außerhalb ansässig. Viele kamen während der Hauptsaison des Getreide-, Trauben- oder Weinkaufs selbst oder schickten ihre Agenten nach Marienfeld. Getreidehändler waren im Kernland Ungarns ansässig, Weinhändler hatten ihre Standorte im Ort, in Siebenbürgen, in Wien oder anderen Zentren des Handels in Europa. Auch unter widrigen Bedingungen, bei Kriegen und Katstrophen, fanden Waren Abnehmer. An dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage verdienten die Händler und sicherten sich ihren Platz in der Gesellschaftsmitte.
Über Gasthäuser berichtet das Heimatbuch auf 1 1/2 Seiten. Es gab nach den Inhabern benannte Gasthäuser - das Müllersche, Huniarsche und Miklosche Gasthaus, weitere Gastwirte werden erwähnt. Neben Kirche und Schule boten Gasthäuser Orte für Übernachtung, Zeitvertreib, Vereine, Geschäftsleute und Politiker. Das Müllersche gab es bis 1875, danach wurde das Dörnersche an der Kreuzung Mittelgasse zur Kreuzgasse gebaut, das nach dem 2. Weltkrieg vernachlässigt, in den 1970er Jahren abgetragen und durch einen Wohnblock ersetzt wurde
Manufaktureninhaber betrieben Wertschöpfung als Vorstufe industrieller Prozesse. Die zu veredelnden Produkte gediehen auf den Bauernäckern. Im Heimatbuch wird den Mühlen von allen Manufakturen die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Die in den 1920er Jahren erbaute Mühle war ein gigantisches Dorfprojekt, technologisch, betriebswirtschaftlich, das zweihöchste Gebäude des Dorfes, auch im Scheitern mit ruinöser Vermögensvernichtung.
Zur Herstellung von alkoholischen Getränken wurden vergorenes Obst und Treber verarbeitet. Dieser Produktionszweig war ursächlich für ein einträgliches Einkommen, auch für den Staat, der 1/3 des Verkaufserlöses an Steuern beanspruchte.
Für die Herstellung von Besen wurde das Rohmaterial (Besenreisig) im Ort angebaut, die Verarbeitung zu Zimmerbesen mit einfachen Betriebsmitteln war ein gutes Geschäft mit bis zu 70 beschäftigten Arbeitskräften. Zu erwähnen sind noch die Sodawassermaschinen, bei deren Betrieb es ständig Probleme mit Gasbelieferungen und zu hohen Steuern gab.
Die Unterschicht
Entgegen Großbauern, deren Flächen für die Eigenbewirtschaftung zu groß waren, fehlten Kleinlandwirten mit eigenem Wohnraum Nutzflächen. Familien, die über mehr Arbeitskräfte verfügten als die nutzbringende Scholle erforderte, mussten zusätzliche Arbeit annehmen, weil mit dieser Scholle die Familie nicht zu ernähren war.
Arbeitsmänner waren zuständig für alle im Jahresrhythmus aufkommenden Verrichtungen und arbeiteten dauerbeschäftigt bei den Bauern. Auch ihre Frauen waren als Wäscherinnen dauerbeschäftigt. Sie wurden teils in Naturalien, teils im Taglohn entlohnt. Die Ganzjahresbeschäftigung war ein großer Vorteil, wog aber den kargen Verdienst für überlange Arbeitszeiten nicht auf. Überspitzt wird berichtet, dass sich der abends spät an den Nagel gehängte Hut noch morgens beim Aufstehen bewegte. Dennoch, Männer die solche Dauerbeschäftigung nicht fanden, suchten als Taglöhner wechselnde diskontinuierliche Beschäftigungen.
Knechte schliefen im Stall und Mägde in Kammern der Bauernnebengebäude. Für die Aufgaben der Knechte gab es Hierarchien: Der Großknecht war zuständig für die Pferde, der Kleinknecht für die Kühe und Rinder, die Magd für die Kälber, die Schweine und das Melken der Kühe. Mägde stammten in der Regel aus dem Ort, Knechte dagegen kamen aus anderen Dörfern des Banats oder gar aus Siebenbürgen. Die Magd war für Haus- und Hofarbeiten und die Unterstützung der Bäuerin engagiert. Die Bezahlung des Personals bestand aus Bargeld und Arbeitskleidung. Mit dieser Niedrigstentlohnung war ihr Verbleiben in der Unterschicht verstetigt. (Zsigmund Moricz in „Der glückliche Mensch“ (Ereignisse um Satu-Mare) und Albert Wass in „Gebt mir meine Berge zurück“ (Ereignisse in Mittel-Siebenbürgen) beschrieben sehr ähnliche Verhältnisse in Ungarn des 19. und 20. Jahrhunderts)
In guten Häusern lebte die Bauernfamilie mit den Knechten und der Magd wie in einer harmonischen Großfamilie mit gemeinsamen Mahlzeiten zusammen. Es gab auch schlechte Behandlung, zum Beispiel mit gedehnten Arbeitszeiten der dem Bauer anvertrauten Jugendlichen. Dass Knechte und Mägde untereinander heirateten, soll vorgekommen sein, aber Bauernkinder fanden nie Partner beim Personal.
Zusammenwirken und Gesellschaftsleben
Die Basis für das fein abgestimmte Zusammenwirken der ausgedehnten Landwirtschaft mit einer Vielzahl Gewerbetreibender war der das Dorf umgebende Boden. Getreide und andere Agrarprodukte wurden erzeugt, aber der Hauptgegenstand aller waren die Anpflanzung und Pflege der Reben, die Weinerzeugung und –vermarktung. (Virgil Grecu „2014 – anul de deces al podgorie Teremia-Mare”, ein Weinbauingenieur, beschreibt in dem Internet-Artikel vom 3.12.2014 das Ende der Weinkultur und bewundernd den Fleiß, Stolz und Reichtum der Marienfelder mit dem Hinweis, dass manche Weinbauern in der Zwischenkriegszeit jährlich die neuesten Autos kauften.)
Die Arbeitsteilung zwischen Bodenbearbeitung und den Gewerken und allen drei sozialen Schichten funktionierte harmonisch getaktet mit Routine in guter Koordination, wer welche Aufgaben zu erledigen hatte. Jedes soziale Schichtmitglied hatte seinen Fähigkeiten entsprechend einen individuellen Platz, in einem Ganzen, dessen Stärken darin lagen, arbeitsteilig Strukturen und Abläufe stets zu verbessern, aber auch radikal neue Technologien für den Erfolg zu nutzen.
llerdings büßten Vereine ihre gesellschaftliche Trennschärfe durch Änderungen im Vereinswesen ein. Das Müller-/Dörnersche Wirtshaus stand für Tanz und Unterhaltung der Unterschicht zur Verfügung. Den Jugendverein (erbaut 1911) besuchten die Mittelschichtler, hauptsächlich Söhne und Töchter der Kleinbauern und Gewerbeinhaber, und deren Eltern bei Unterhaltungen, Bällen und Singspielen. Später war das Sängerheim (erbaut 1936) für diese soziale Gruppierung zuständig.
Das Kasino wurde 1885 gegründet und hatte, auch bezüglich des Standorts, eine wechselvolle Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg. Es war Versammlungsort der wohlhabenden Bürger und der Ortsintelligenz, also nur der Vereinsmitglieder aus der Oberschicht. Söhne und Töchter der reichen Bauern waren erstklassig gekleidet und vergnügten sich bei Tanz und Unterhaltung. Die Väter dieser Kinder kamen zusammen, um über die Kommunal- und Weltpolitik, ihr Lieblingsthema Weinbau, ungestört von anderen Bürgerschichten zu diskutieren. Sie hatten Zeit und Muße, um Bücher und dort ausgelegte Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Sie vergnügten sich mit Karten- und Hasardspielen, manchmal nächtelang und ganze Vermögen riskierend.
Die Verwehrung des Zutritts von Personen, die anderen Schichten angehörten, war eine Diskriminierung. Das Kasino beschränkte den Zutritt auf Vereinsmitglieder und die Mitgliedschaft durch hohe Vereinsbeiträge. Über diese soziale Ungleichbehandlung im Kasinobetrieb sind nach über 80 Jahren keine Details mehr bekannt.
Wichtiger war jedoch die Wirkung der netzwerkenden Kasino-Mitglieder auf die wirtschaftliche Entwicklung des Ortes - darüber schweigt das Heimatbuch. Die Vereinsmitglieder entstammten einer homogenen überschaubaren Gruppe (Gemeindeoberschicht), kannten und vertrauten einander und tauschen Informationen oder gar Leistungen miteinander. Sie bildeten damit ein Kartell, um Preise und Vergütungen in der Gemeinde abzusprechen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, Zwangsverkäufe, Agrarlandangebote und andere Ortsereignisse waren sicher Themen. Damit hatte der Oberstock eine große Bedeutung für die Vermögenspolitik seiner Mitglieder und für die Kommune.
Mobilität und Mehrung
Die Ehrgeizigen verfolgten, bewusst oder unbewusst, Strategien des Vermögenswachstums. Dies geschah quantitativ und qualitativ, durch Produktivität und Sparen sowie durch Familienpolitik. Quantitative Mehrung entstand durch Pachten oder Zukauf von Nutzflächen. Die Enge der Ortsgemarkung führte auch zum Kauf von Grund in Mokrin und Kikinda. Allerdings gingen diese Flächen nach der Grenzziehung 1919 verloren. Qualitative Mehrung entstand durch die Umwandlung von Wiesen in Äcker und Äcker in Rebenplantagen, das ließ höhere Jocherträge erwarten. Rationale Bewirtschaftung und Sparen bei der Entlohnung der Arbeitskräfte förderten die Erträge, aber das Sparen vergrößerte auch die Sozialprobleme.
Zur Mehrung des Vermögens durch Familienpolitik gehörte der Verzicht auf Kinderreichtum, da dieser dem Vermögenserhalt abträglich war. Die Vielkindfamilien mehrten die Armut und vertieften die soziale Kluft.
Aus Gründen wie nachfolgend vermerkt ehelichten Männer nur Mädchen aus dem Ort. Begrenzte Mobilität, kombiniert mit dem Stolz der Marienfelder erzwang sozial die Verpaarung der Ortsjungend. Das war auch explizit Thema der anthropologischen Studie der Wiener Universität im Marienfeld der Zwischenkriegszeit. Die Wissenschaftler warnten „… vor den negativen Inzuchtfolgen, damit Grund und Boden beisammenbleiben …“ und empfahlen feinfühlig, dass sich Jungmänner Frauen in den Nachbarorten suchten (siehe Heimatbuch, Seite 324).
Einblicke in die Entwicklung der Gemeinde: Über die Sozialstrukturen in Marienfeld bis 1944
Dokumentation Erstellt von Erich Leitner