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Glücksbringer für die alte Dame

Kolumnist Helmut Heimann am Arbeitsplatz auf der Pressetribüne im Arader Stadion Franz von Neumann Foto: Levente Balint

Zwischen den beiden von Helmut Heimann besuchten UTA-Spielen liegen 22 Jahre. Collage: Hans Vastag

Generalmanager Attila Brosovszki, Trainer Mircea Rednic, Journalist Helmut Heimann und UTA-Chronist Radu Romanescu (v.l.n.r.) Foto: Tudor Vasil

„Wiedersehen macht Freude” (Redensart)
Unverhofft kommt oft. Und alles ist gut für etwas, wie meine Oma zu sagen pflegte. Hätte Fußball-Erstligist UTA Arad nach der Playout-Runde nicht auf einem Relegationsplatz gestanden, hätte sich mein Stadionbesuch während unseres Aufenthaltes im Banat von vornherein erledigt. Hätte, hätte, Fahrradkette. So aber muss UTA in die Relegation. Und ich habe nach 22 Jahren Gelegenheit, wieder ein Spiel des Arader Traditionsklubs zu besuchen. Aber nur, weil die erste Partie zuerst auswärts stattfand. Umgekehrt wäre ich noch nicht in Rumänien gewesen. Jetzt aber passt alles. Also nichts wie hin zum Rückspiel.
Los geht's aus Temeswar Richtung Arad. Wir machen einen Abstecher ins nahe Maria Radna. Vor 54 Jahren war ich als Elfjähriger mit meiner Mutter auf einer Wallfahrt aus Großjetscha zum einzigen Mal hier. Die Tür der päpstlichen Basilika steht offen. Das nutzt ein schwarzer Hund, um sich in die Kirche zu schleichen. Er läuft gemächlich den Mittelgang entlang bis zum Altar. Au weia, ist das etwa ein Höllenhund auf meinem Weg zu UTA? Ob das gut geht? Oder werden die Arader im Überlebensspiel auf den Hund kommen?
Wir sind relativ früh in der Stadt an der Marosch. Genügend Zeit fürs Abendessen im Hotel Continental Forum, vielen Landsleuten als Astoria bekannt. Plötzlich fährt ein rot-weißer Bus vor. Wir erfahren, dass UTA einen Tag vor jedem Heimspiel hier absteigt, völlig abgeschottet auf einer komplett für die Mannschaft reservierten Etage mit 16 Zimmern. Viel Ruhe und eine ausgewogene Sportnahrung mit fünf Mahlzeiten pro Tag sind angesagt, zusammengestellt von einem Ernährungsberater. Auch früher hat UTA hier gewohnt und große Siegespartys gefeiert wie jene 1970 gegen den amtierenden Welt- und Europapokalsieger Feyenoord Rotterdam mit dem berühmten Trainer Ernst Happel.
Um 19.15 Uhr schlendern die Spieler aus dem Hotel zum Bus. Gelegenheit für mich, um kurz mit Trainer Mircea Rednic (61) ins Gespräch zu kommen. Zum ersten Mal habe ich ihn 1984 in Bukarest als rechten Außenverteidiger von Dinamo im Europapokal gegen Girondins Bordeaux erlebt. Mein erstes internationales Spiel als frischgebackener Sportredakteur der Neuen Banater Zeitung. Für sie interviewte ich Torjäger Dieter Müller, der beim französischen Meister kickte und mit sechs Treffern in einem Punktspiel bis heute Rekordtorschütze der Bundesliga ist. Die seither vergangenen fast 40 Jahre haben unser Aussehen verändert - bei Rednic und mir. Unverändert jedoch ist unsere Liebe zum Fußball geblieben. „Ich kann nicht verlieren“, sagt er mir und steigt als Letzter ein. Der Bus fährt Richtung Stadion los, eskortiert von Polizei.
Wir lassen das Auto am Hotel stehen und fahren mit dem Taxi zur neuen Arena Franz von Neumann. Parkplätze sind rar. Ohnehin ist hier alles ganz anders als früher. Nur Josef Petschovszky steht immer noch mit wachen Augen da. Das Denkmal für den banatschwäbischen Spieler befindet sich wie früher in Stadionnähe. Csala, wie der vielleicht beste rumänische Fußballer aller Zeiten wegen seiner fintenreichen Dribblings genannt wurde, hat nach wie vor alles im Blick. Die Fans strömen singend zum modernen Stadion, das vor drei Jahren eingeweiht wurde, darunter der harte Kern mit großen Fahnen.
Ich gelange auf die Pressetribüne und schaue mich staunend um. Eine tolle Spielstätte, komplett überdacht, das Flutlicht strahlt, der Sektor für die Journalisten hat Internetanschluss und ist viel größer als im früheren altehrwürdigen Stadion, in dem ich so oft saß, UTA sechs Meisterschaften gewann und zu einer der erfolgreichsten rumänischen Provinzmannschaften wurde. In der gesamten Arena gibt es Wifi. Ein Kollege kann sich noch an meine Berichte in der NBZ erinnern, für die ich oft über UTA geschrieben habe.
Um 21 Uhr pfeift der Schiedsrichter an. Für UTA geht's um alles oder nichts. Beim Abstieg und den damit verbundenen geringeren Fernsehgeldern droht wegen Schulden von umgerechnet 2,7 Millionen Euro die Insolvenz  Fast alle der 11 200 Zuschauer singen nonstop, schwenken Fahnen, halten Fanschals hoch, peitschen ihre Lieblinge unentwegt nach vorn. Gänsehautatmosphäre pur! Das Stadion ist rappelvoll, die Zuschauer sind in den Vereinsfarben Rot und Weiß gekleidet, meine bessere Hälfte unbeabsichtigt auch. Gerti darf aus verständlichen Gründen nicht neben mir am Pressetisch sitzen, sondern ein paar Reihen unterhalb, ebenfalls auf der Haupttribüne.
Gegner ist Zweitligist Gloria Buzău. Moment mal, wer? Buzău? War da nicht mal was? Ja, richtig. Am 10. Juni 1979, einem Sonntag wie jetzt, verlor UTA zu Hause gegen Gloria 0:1. Der Anfang vom Ende der Arader in der A-Liga. Damals hatte der Verein gute Spieler wie Ladislaus Brosovzky, Flavius Domide, Marcel Coraș und unsere Landsleute Helmut Duckadam (Semlak) sowie Erhardt Schepp (Segenthau/Dreispitz), 17 Chancen, darunter drei Lattenschüsse - aber gewonnen hat Buzău durch ein Kontertor. Es war das drittletzte Saisonspiel. Am Ende fehlten den Aradern ausgerechnet diese beiden Punkte und sie stiegen nach 32 Jahren in Folge in der A-Liga, weshalb sie  „alte Dame“ genannt werden, zum ersten Mal in ihrer Geschichte ab. Da Buzăus Torschütze vom Lande stammte, hieß es:  „Un țăran din CAP ce-a bägat UTA în B.“ (Ein LPG-Bauer brachte UTA in die B-Liga). Radiokommentator Mircea M. Ionescu schluchzte am Mikrofon. Die große UTA in der B-Liga - das wollten viele wie er nicht wahrhaben. Von diesem Schock sollten sich die Arader nie ganz erholen. In den folgenden 44 Spielzeiten reichte es gerade mal für neun Teilnahmen in der obersten Spielklasse. Viel zu wenig!
Doch jetzt kann UTA endlich den Fluch der Vergangenheit besiegen - und schießt Buzău mit 5:1 vom Platz. Erste Liga gehalten! Das Stadion tobt. Tausende Fans überfluten den Rasen, erdrücken vor Freude fast ihre Lieblinge. Eine Farbsymphonie in Rot und Weiß. Die Anhänger rufen „Rednic, Rednic“, den Namen ihres Retters. Der routinierte Trainer war früher mit Dinamo und Rapid rumänischer Meister und mit Standard Lüttich belgischer Pokalsieger geworden. Jetzt hat der aus Hunedoara stammende ehemalige Nationalspieler (83 Länderspiele) UTA vor dem Abstieg bewahrt - in nur sechs Spielen seit seinem Amtsantritt vor 40 Tagen, von denen er keines verlor! Seine Verpflichtung war für die Arader Gold wert. Wie sagte mir der Coach vor dem Hotel? „Ich kann nicht verlieren“. Von Rednics unbändigem Siegeswillen hat UTA profitiert, weil er ihn seinen Spielern eingeimpft hat. (Anmerkung des Autors: Als Dankeschön für die Rettung wird Rednics Vertrag gleich am nächsten Tag um zwei Jahre verlängert.)
„Sie waren Zeuge des wichtigsten Spieles der jüngeren Vereinsgeschichte“, sagt mir Kollege Bogdan Cioara von Fotbal Vest, der besten Fußballzeitung des Landes, die in Temeswar erscheint und über UTA berichtet. Ich schaue hinüber zu Baron Franz von Neumann auf der Gegentribüne, wo seine Statue nicht steht, sondern sitzt. Der Vereinsgründer wird in Arad abgöttisch verehrt. Es sieht so aus, als würde er zufrieden lächeln. Eine Zentnerlast scheint von seinen Schultern aus Bronze gefallen zu sein. Das von ihm vor 78 Jahren mit der Gründung von UTA begonnene Lebenswerk kann fortgeführt werden.
Drinnen mache ich mich auf den Weg durch die Stadionkatakomben zur Pressekonferenz. Draußen jubeln noch immer die Anhänger auf Rängen und Rasen. Die Fiesta will und kann kein Ende nehmen. Es ist das Happyend einer schwachen Saison, in der UTA oft torkelte und nahe am Abgrund stand. Viel zu oft. Doch das ist in diesen Momenten vergessen. Schwamm drüber, allein die Rettung zählt!
Die Pressekonferenz findet anders als in der Bundesliga statt. Dort erscheinen beide Trainer zusammen, hier getrennt. Zuerst gibt der Gästecoach seine Erklärung ab, dann folgt der Heimtrainer. Mircea Rednic ist ein charmanter und jovialer Mann mit viel Flair. Zum schwachen Start seiner Mannschaft gegen Buzău sagt er: „Wir haben wie ein Diesel begonnen, prrr, prrr.“ Dann sorge ich mit meiner Frage für einen heiteren Moment: „Wie hat Ihre Mannschaft dann nach der Pause gespielt, als sie vier Tore geschossen hat?“ Rednic lächelt: „Fast wie ein Bentley.“ Die Journalistenkollegen schmunzeln.
Nach der Pressekonferenz treffe ich Attila Brosovszki, den Generalmanager von UTA und Neffen von Legende Ladislaus „Gioni“ Brosovszky sowie den langjährigen Pressesprecher Radu Romanescu, der bisher 17 Bücher über UTA geschrieben und ein weiteres in Vorbereitung hat. Ich habe mein Sportbuch mitgebracht, das in einem zukünftigen UTA-Museum im Stadion ausgestellt werden soll, weil es drei Porträts ehemaliger Arader Spieler beinhaltet (Petschovszky, Duckadam, Josef Leretter). Im Gegenzug bekomme ich von Romanescu seine Bücher über die UTA-Legenden Coco Dumitrescu und Gioni Brosovszky, die beide einen Beitrag von mir enthalten.
Ich frage den Manager nach seiner Tante Annemarie, Witwe von Ladislaus, eine Banater Schwäbin aus Wiesenhaid. Sie war nicht im Stadion. „Es geht ihr gesundheitlich nicht gut“, nennt er den Grund. Wir plaudern über die neue Saison, die bereits Mitte Juli beginnt. „Bei uns wird es einen Umbruch geben“, kündigt Brosovszki an. „In Zukunft werden wir vermehrt auf junge rumänische Spieler setzen.“
Ich winke Csala zum Abschied zu. Es ist Mitternacht, und wir müssen schnell nach Temeswar zurück, wo in wenigen Stunden unser Flieger nach Deutschland geht. Zum Schlafen bleibt kaum Zeit. Mein Wiedersehen mit UTA nach 22 Jahren war jedoch die Mühe wert. Wir schütteln uns die Hände und Brosovszki sagt: „Sie müssen wiederkommen, weil Sie uns Glück gebracht haben.“ Ein Sportjournalist als Glücksbringer - das hat es in meinem fast 40jährigen Berufsleben auch noch nicht gegeben. Aber für alles gibt es ein erstes Mal. Zurück in Temeswar hallen Brosovszkis Worte immer noch in mir nach. Bevor ich einschlafe, muss ich an die Verse von Johann Wolfgang von Goethe denken: „Heute geh ich. Komm ich wieder,/Singen wir ganz andre Lieder./Wo so viel sich hoffen läßt,/Ist der Abschied ja ein Fest.“ Mach's gut, UTA!