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Besuch aus anderen Welten: „Ihr wisst gar net, wie arm ihr seid“

Besuch aus Deutschland Foto: privat

Drei Brüder...

Fototermin mit dem Besuch aus Kalifornien.

Unser Großvater hatte einen Sohn aus erster Ehe, dessen Mutter bei der Geburt des zweiten Kindes gestorben war. Diesen Sohn hat er zwölf Jahre lang allein großgezogen, bis er unsere verwitwete Großmutter heiratete. Wir haben als Kinder nicht gewusst, dass Friedrich-Ota nicht unser leiblicher Großvater war, denn er war ein fürsorglicher Vater und Großvater, der es nach den Bărăgan-Jahren ohne viel Aufhebens abgelehnt hatte, mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Deutschland zu ziehen, weil er seine Stieftochter Resi und ihre Familie unterstützen und für uns Kinder dableiben wollte. Oft war die Rede von Peter, dem Sohn in Deutschland, der vor dem Krieg zwei Jahre lang Muttis gleichaltriger Bruder war und jetzt in der Fremde lebte. Es klang so, als ob sie ihn die ganze Zeit zurückerwarteten, wenn nur die Grenzen geöffnet werden würden. Niemand konnte jedoch sagen, ob und wann dies jemals geschehen würde... Ab und zu kam Post "von drüben", dann setzte sich Ota sonntags an den Tisch und schrieb bedächtig ein paar Zeilen als Antwort. Als ich schon schreiben konnte, durfte ich auch jedesmal ein paar Sätze dazu schreiben. Es war ein seltsames Gefühl, ein paar Worte von mir hinaus in die Welt zu schicken! 1959 kam ein Brief mit einem Foto und der Nachricht, dass Peter eine Maria in Deutschland geheiratet hatte und ein Jahr später kündigten sie die Geburt ihres Sohnes an. Die Großeltern freuten sich natürlich über den kleinen Stammhalter, der aber leider viel zu weit weg war.
Das Leben im Dorf ging seinen bedächtigen, bescheidenen Gang, für meine Schwester und mich bestand es aus Schulzeit bei den Eltern und Ferienzeit bei den Großeltern. Die Ferien waren einfach wunderbar, denn wir durften barfuß laufen, mit den Nachbarskindern spielen und alles erleben, was die Kindheit so schön und unvergesslich macht, durften die Verwandten besuchen und auch schon ein bisschen in Haus und Garten mithelfen, z.B. bei der Handaufzucht von zwei verwaisten Lämmchen. 1963 kam überraschend ein Telegramm aus Deutschland: Onkel Peter kündigte seinen Besuch für Ende Juli an und der Wortlaut ließ auf die Mehrzahl der Besucher schließen, denn es hieß darin: "Ankommen 30. Juli, Arad, Wiener Walzer". Unser Großvater war erschüttert, aufgeregt, erwartungsvoll, denn bald würde er seinen Sohn nach neunzehn Jahren wiedersehen, vielleicht auch dessen Frau und Kind kennenlernen.
Damals durften die Besucher nicht bei den Verwandten auf den Dörfern wohnen, sie mussten in Arad oder Temeswar in bestimmten Hotels übernachten, wo man sie unter Kontrolle hatte und wo die Zimmer bestimmt auch von der Securitate abgehört wurden. Die Visa waren nur für drei Tage gültig und es war ganz schön mutig von Onkel und Tante, für dieses kurze Wagnis mit dem kleinen Kind anzureisen. Ich erinnere mich, wie wir in Arad am Bahnhof warteten, die Kontrollen endlos schienen und wir uns dann alle umarmten, auch der kleine Junge war sehr lieb und zutraulich. Wir verbrachten diese Tage mit ihnen in Arad und sogar beim Spaziergang auf der Marosch-Promenade unterhielten sich die Erwachsenen nur im Flüsterton, um nicht irgendwie aufzufallen. Dieser Besuch ging sehr schnell vorbei, aber der Onkel war doch für ein paar Stunden mit Ota nach Sanktpeter gefahren, um das frühere Zuhause zu sehen. Damals sprach der Sohn aus, was sein Vater befürchtet hatte, dass nämlich sein Zuhause jetzt in Bayern war.  Es folgten bald weitere Besuche, bei denen die Verwandten mit dem eigenen Auto kommen und auch in die Heimatdörfer fahren durften. Sie brachten immer Geschenke mit, z.B. bekam jedes Kind Kaugummi und einen Kugelschreiber, es gab duftende Seife, Milka-Schokolade, später auch Perlonstrümpfe, oft bekamen wir auch Kleidungsstücke oder schöne Stoffe für Kleider.
Ein besonderes Ereignis, das im ganzen Dorf Aufmerksamkeit erregte, war der Besuch von Otas jüngstem Bruder Niklos und dessen Frau Evi aus Kalifornien. Sie erzählten viel von ihrer Auswanderung nach Amerika, (nachdem die Flucht aus dem Banat sie zunächst nach Österreich geführt hatte), von ihren Kindern und Enkeln, aber besonders auch von dem exotischen Land, in dem sie jetzt lebten. Für uns war es faszinierend und fast unglaublich, dass es dort immer warm und sonnig war und dass bei ihnen Orangen und Zitronen in den Vorgärten wuchsen. Auch hatte ihr Haus ein Schwimmbecken, wo die Kinder badeten und spielten, das konnten wir Dorfkinder uns gar nicht vorstellen. Die Tante erzählte, dass das Schwimmbecken manchmal sogar beheizt wurde. Sie meinte, die Hitze im Banat sei schon etwas anstrengend, ihr Haus in Los Angeles habe eine Kühlung, die Tag und Nacht läuft. Dann sagte Otas Bruder, der in einem großen Hotel als Liftfahrer arbeitete, so nebenbei einen Satz, der bei uns für immer haften blieb: „Ihr wisst gar net, wie arm ihr seid.“ Wir fühlten uns nie arm, auch wenn sowohl die Eltern als auch die Großeltern sehr sparsam leben mussten, denn die einen wollten ein Haus bauen, die anderen hatten nur das Einkommen aus der Kollektivwirtschaft, wo Ota als Nachtwächter arbeitete. Sie lebten so bescheiden, dass sie sich fast selbst versorgen konnten.
Die Besuche und Besucher aus dem Westen haben unsere frühen Jugendjahre sehr geprägt. Es war ein Tor in eine völlig neue Welt aufgegangen, aber dieses Tor, die unbekannte magische Grenze, öffnete sich nur für diese Menschen aus einer anderen Welt oder für solche, die für immer in den Westen zogen.  Einige Male begleiteten wir solche Verwandte, die die Pässe für die Auswanderung nach jahrelanger Wartezeit bekommen hatten, nach Arad zum Zug, sie saßen still und nachdenklich bei ihrem Gepäck, oft wurden Tränen vergossen und wir Kinder bekamen alles Kleingeld aus den Taschen, um uns Bonbons zu kaufen. Bevor der internationale Zug einfuhr, kamen Grenzsoldaten mit Hunden und schoben uns zum Ausgang, von wo man ein letztes Mal winken konnte.
Der Abschied der „Deutschländer“ im Dorf war ganz anders: er war laut und fröhlich, es wurde alles aufgetischt, was man vorrätig hatte, meist spielte jemand Akkordeon, es wurde bis spät in der Nacht Abschied gefeiert, gesungen und sogar getanzt. Wenn sich - nach der Abfahrt der Besucher - die Staubwolken auf der Dorfstraße gelegt hatten, blieb immer ein seltsam ziehendes Gefühl der Leere und Verlorenheit zurück, das man nicht in Worte fassen konnte...