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Eine in vieler Hinsicht schwierige Lektüre

Anton Georgescu, der Autor der Rezension, wohnte der Buchpräsentation im Museum des Banater Montangebiets in Reschitza bei.

Zu dem Band über die Verschleppung der Deutschen des Banats in die UdSSR aus der Sicht ihrer Kinder

Den treffendsten Gesichtsausdruck von jemand, der die Erzählungen über die Verschleppung der Deutschen des Banats noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs in die ehemalige UdSSR liest, suggeriert uns Munchs „Schrei“. Das entsetzte „O“-Rund des Mundes auf der Serie der Gemälde des Norwegers, entsprechend dem Rumänischen „oroare“ (sich gruseln, entsetzt sein), führt zur Erkenntnis, dass es Orte (und Regimes) auf der Welt gibt, die weder verstanden, noch erklärt, noch akzeptiert werden können. Welten außerhalb unserer Welt, über welche uns nur spärliche graphische Zeugnisse überliefert sind, kaum Fotos, schon gar keine Filme. 

Auf dem Buchumschlag ist das Jäger-Aquarell „Die Verschleppung nach Russland 1945“ abgebildet. Ein Bild-Zeugnis. Doch von den Lagern „Tief in Russland, bei Stalino“ gibt es kaum realistische Bilder oder Filme, während von den Nazi-Exterminierungslagern zahllose Fotos und Filme existieren – mehrheitlich allerdings nach deren Befreiung entstanden. Doch es gibt Bildmaterial auch aus der Zeit ihres „Betriebs“ (wohl, weil die fatalistische Nazi-Doktrin auf die Nachwelt und den „Nach-Ruhm“ erpicht war...). Eines der wenigen Bild-Beispiele aus den Sowjet-GULAGs verdanken wir dem ehemaligen „ZEK“ (im russischen Volksmund die Bezeichnung für die Häftlinge des Gulag) Viktor Stürmer, einem Banater, der zahlreiche Kohlezeichnungen von seinem unfreiwilligen Sowjetunionaufenthalt zur Stalin-Zeit herausschmuggeln konnte und veröffentlicht hat. 

Für sehr wichtig halte ich die Feststellung dieses Buchs, dass die Russlandverschleppung zehntausender Banater Deutscher zur „Wiederaufbauarbeit“ (!) keinerlei juristische Rechtfertigung hatte. Ergo, dass es ein Willkürakt war, wie die politischen Prozesse jener Jahre. Man schnappte sich die Deutschen und verschleppte sie. Punktum. „… die deutsche Volkszugehörigkeit und die Arbeitsfähigkeit waren die einzigen Kriterien der Verschleppung“, heißt es bei Norbert Neidenbach aus Großjetscha, der seinen Vater zitiert.  

Und damit begann der Leidensweg. Die zwei-dreiwöchige Reise im Viehwaggon, wo Dutzende Frauen und Männer zusammengepfercht wurden, auch Jugendliche, vereinzelt auch Kinder (14-Jährige), ohne Wasser, ohne Nahrung, bei der klirrenden Januarkälte von 1945, mit einem Loch im Waggonboden als „Unisex-Klo“ – so begann der Prozess gezielter Entwürdigung und Entmenschlichung. Man kann als Rezensent noch so sehr versuchen, die Atmosphäre widerzugeben, in der die Deportierten dahinzuvegetieren gezwungen wurden – die Realität muss noch um vieles schlimmer gewesen sein. Da bleibt nur das expressionistische „O“ des Edvard Munch.

Ich habe das Buch ganz gelesen. Über hundertmal kommt die Zugfahrt zu den GULAGs in den Beschreibungen vor. Und immer wieder habe ich gehofft, Erinnerungsspuren an eine Verringerung des gelebten Elends, des Schreckens, der Menschenverachtung zu finden. Unterschiede gab es nur im Eimer mit ausgeschlagenem Boden als Abort, im großen Anfangs-Ekel davor (vor allem bei den Frauen) – bis Gleichgültigkeit und Vegetieren einsetzte:  „…es war wohl überall gleich: schreckliche Hungersnot, schwere Arbeit bis zur Unfähigkeit, weiterzumachen, die Unmöglichkeit, ohne Arzneien die schwersten Krankheiten zu überstehen, Wanzen, viele Tote usw., in allen Arbeitslagern, wohin die Zwangsarbeiter aus dem Banat unter Waffengewalt und mit Gewaltandrohung gezwungen wurden“, heißt es bei Christian Gitzing aus Deutschsanktpeter. 

Viele Kinder blieben zurück, in der Obhut der Großeltern – vorwiegend der Großmütter –, aber auch von Verwandten. Die Daheimgelassenen wurden enteignet, denn in diesem Teil Europas begann der Prozess der Sowjetisierung, am Land mit der Kollektivierung – und am ärgsten traf es wieder die Deutschen, die an allem schuld waren, was der Krieg Schlimmes brachte. Auch im Banat halten Hunger und Armut Einkehr. Aber: „Meine Mutter hat die Deportation als Schicksal, mit großer gottgegebener Gelassenheit getragen, da sie es nicht mehr ungeschehen machen konnte“, schreibt Josef Hell aus Sanktanna. 

Heim-Weh, Sehnsucht der Mütter nach ihren zurückgelassenen Kindern waren schwerste Bürden. Aber es waren auch moralische Anker zum Überleben. Stützen im Überlebenskampf, den ihnen die Russen aufzwangen. Sämtliche menschlichen – kollektiven wie individuellen – Ressourcen mussten aktiviert werden. Menschlichkeit leuchtete als Blitz auf: in den Beziehungen zwischen den Verschleppten, auch mit manchen Einheimischen. Solidarität in Grenzsituationen. Jedes Einzelschicksal war ein Drama für sich, aber Teil des Kollektivdramas Verschleppung. Auch die Er-Lösungen, soweit Verschleppte das erlebten, waren Dramen – wenn sie überhaupt noch das rettende Ufer HEIMAT erreichten. Und dort folgte dann für viele die nächste Verschleppung: in den Bărăgan, an den Donau-Schwarzmeer-Kanal (auch eine „Idee“ Stalins…), in die Kohlengruben von Anina oder des Schiltals. Der „Aufbau der besten und humansten aller Gesellschaftsordnungen, des Sozialismus“ hatte begonnen.

„Die Demütigungen, die uns in diesen fünf Jahren zuteilwurden, sind nicht in Worte zu fassen. (…) Erst im letzten Jahr durften wir zensierte Post an unsere Familien schreiben. Wir wurden gezwungen, darin zu berichten, dass es uns gut gehe und wir gesund seien. (…) Durch die jahrelang erlittene Hungersnot war ich zuhause nicht in der Lage, mich wieder normal zu ernähren. Es dauerte Jahre, bis mein Organismus sich an eine normale Ernährung gewöhnen konnte.“ So Elisabeth Noll.  Ihre Mutter und deren drei Schwestern waren deportiert. Sie zitiert aus einem der komplettesten und beeindruckendsten schriftlich festgehaltenen Berichte, dem ihrer Mutter.

In dieser Dokumentensammlung fällt auf, wie oft die Berichterstatter Bezug nehmen auf Herta Müllers „Atemschaukel“. Erst dieses Buch habe ihnen so richtig bewusstgemacht, welche menschliche und humanitäre Katastrophe die Russen durch die Verschleppung unter der deutschen Bevölkerung des Banats ausgelöst haben. Auch Anton Sterbling unterstreicht das in seiner soziologischen Wertung der Sammlung am Ende des Buches.

Unrecht zuzugeben ist unpassend. Doch besser später als gar nicht. Bedauerlich, dass so viele Menschenleben zwischen 1945-1949 gewaltsam zum Erlöschen gebracht wurden. Ohne jeden Trost, dass ihr Leiden jemals anerkannt wird. Dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren werde. Zumindest symbolisch. Denn unsere Gesellschaft ist in solchen Sachen von hinterlistiger Gleichgültigkeit gegenüber ihren moralischen Bezugsstelen. Die Verschleppten haben uns mit demselben Gefühl der Sinnlosigkeit verlassen müssen, mit dem ihr Leiden auch begonnen hat. 

Das Buch vervollständigt die lange Reihe der Opfer totalitärer Regimes, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Ehemalige politische Häftlinge in Exterminierungs-Gefängnissen, Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, durch Rassengesetze Verfolgte (Juden, Zigeuner…), Erniedrigte auf ethnisch-chauvinistischer Basis (Deutsche, Armenier), Untergrundkämpfer des antikommunistischen Widerstands usw. Aber auch die Liste der nach dem Kriterium der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse Verfolgten ist lang: Chia-buren, Intellektuelle, Menschen mit „ungesunder Herkunft“ – Nachkommen von Großgrundbesitzern, Unternehmern, des höheren Bürgertums, Wohlhabende, „Ausbeuter“. Global gesehen, wurde in der stalinistischen Zeit eine Eliteschicht gezielt ausgerottet und mit einer Mittelmäßig- bis Unterdurchschnittlichkeit ersetzt. Der „Neue Mensch“ übernahm das Ruder. Besser war er nicht.

Das uns geschenkte Buch vervollständigt also auch die Zeugnisse der Opferschichten des Stalinismus. Viele der Zeugen sind sich dessen bewusst, so auch Katharina Scheuer aus Jahrmarkt, von wo 834 Personen deportiert wurden und 131 nie mehr zurückkamen. Sie liefert einen der umfassendsten und erschütterndsten Beiträge und schlussfolgert: „Ich bin froh, dass dieses Erinnerungsbuch geschrieben wurde. Erinnern und Gedenken ist das, was wir, die Nachfolgegeneration, gegen das Vergessen tun können. Ich bete zu Gott, dass nie wieder ein Hitler oder ein Stalin geboren wird, damit so etwas Schlimmes nie wieder passiert. Denn: Unrecht ist niemals Recht!“ 
Die Folgen des Alptraums der jüngeren Geschichte, der Verschleppung der Banater Deutschen, überdauern Generationen. „Die Alpträume verfolgen mich heute immer noch“, schreibt Elisabeth Noll. 

Dieses Buch ist eine schwierige Lektüre, und schon physisch ein schweres Buch – es wiegt etwa 1,2 Kilogramm. 

Die Erzählungen werden durch einen umfangreichen Dokumentations- und Analyseteil ergänzt (Anton Sterbling, William Totok zeichnen dafür – beide, wie Werner Kremm und Albert Bohn und der mit einer Erzählung vertretene Johann Lippet Gründungsmitglieder der „Aktionsgruppe Banat“), aber auch die Vorwörter (von Peter-Dietmar Leber und dem Herausgeberteam sowie den Übersetzern) enthalten Bezeichnendes und Richtungsweisendes. Das Buch ist ein guter Studienansatz für Soziologen, Zeitgeschichtler, Psychologen, für Forscher vieler Bereiche, die ein Interesse haben für die Geschichte und das Werden des heutigen Banats.

Das Buch erfreut sich der exzellenten Übersetzung der Geschwister Sigrid Kuhn und Werner Kremm: Die Atmosphäre wird sprachlich geschickt vermittelt, als Gesamtausdruck einer Epoche, aber auch als Spiegelung des Einzelnen, es herrscht ein genaues und durchdachtes Austarieren der diversen und sehr komplexen Aspekte vor, die im Original vorgestellt werden. Das gilt sowohl für die Erzählberichte als auch für die Begleittexte und Erklärungen, die ein rumänisches Lesepublikum benötigt. An sich ist das Buch durch das flüssige und elegante Rumänisch gut zu lesen – wenn da nicht die vermittelten Inhalte wären, die bedrücken. Persönlich, als Banater von Kindheit an, haben mich die spezifischen Banater Details angesprochen, die Beziehungen und Atmosphäre vergangener Zeiten heraufbeschwören, die von den Übersetzern herausgearbeitet und erklärt sind. Dass ein Teil der Herausgeber und die Übersetzer, wie ich, stark an Großsanktnikolaus gebunden sind, war für mich ein zusätzliches Plus bei der Lesearbeit.

Was kann man sonst noch schreiben, wenn man ein Buch mit solchen Zeugnissen gelesen hat? Nichts. Kann man aber nach einem solchen Buch nichts sagen/schreiben, kann man sich in schützendes Schweigen hüllen? Auch nicht. Verstörtes Stummsein drängt sich nach einer solchen Lektüre auf. Oder der Schrei des Edvard Munch, angesichts des unermesslichen Leids, das heraufbeschworen wird.

Denn was tausende und abertausende Banater Deutsche erlitten haben, ist nicht unmenschlich. Un-menschlich ist es, Tiere zu quälen. Un-menschlich ist es, deinem Nächsten ein Leid anzutun. Un-menschlich ist es, ungerecht zu sein, wissentlich oder auch nicht… Das Leid, über das wir in diesem Buch erfahren, ist diabolisch. Es wird die Hölle auf Erden beschrieben, das Ende der Menschlichkeit in der Welt. Einer der leider zahlreichen Fälle diabolisch geschürten Leids und Leidens, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen.

„Alpträume verfolgen mich heute immer noch…“

(Übersetzung aus dem Rumänischen von Werner Kremm)

Deportarea germanilor din Banat în Uniunea Sovietică. O prezentare a perspectivei copiilor prin relatări (re)povestite. Ed.: Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling și Walter Tonța. Traducerea în limba română și note de   Sigrid Kuhn și Werner Kremm. Timișoara: CosmopolitanArt, 2022. 741 S.