zur Druckansicht

Als die großen Brehme und Briegel entzaubert wurden

Țicleanu (links) und Cămătaru nehmen Geye in die Zange (Foto links) / Zweikampf zwischen Briegel (links) und Cămătaru (Foto rechts) Fotos: Universitatea Craiova

Programmheft des Spiels

„Wer die Gegenwart genießt, hat in Zukunft eine wundervolle Vergangenheit.“ (Verfasser unbekannt)

Es gibt Fußballspiele, die nie vergessen werden. In Deutschland sind es das Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 in Bern, das WM-Finale 1966 mit dem Wembley-Tor oder das Jahrhundertspiel bei der WM 1970 in Mexiko gegen Italien. In Rumänien bleibt das Finale von Sevilla 1986 um den Europapokal der Landesmeister unvergessen, als unser Landsmann Helmut Duckadam für Steaua Bukarest den Sieg mit vier parierten Elfmetern festhielt. Aber schon davor gab es ein Spiel, das sich in zwei Monaten zum 40. Mal jähren und für immer in Erinnerung bleiben wird. Am 16. März 1983 schaltete Universitatea Craiova den 1. FC Kaiserslautern im UEFA-Pokal aus und stieß als erste rumänische Mannschaft ins Halbfinale eines Europacups vor. Nicht nur damit schrieb Universitatea Fußballgeschichte, sondern auch weil es der erste Sieg eines rumänischen Vereins über einen bundesdeutschen war. 

Dieses denkwürdige Spiel gilt als Türöffner für andere rumänische Teams, die es Craiova nachmachten: 1984 erreichte Dinamo Bukarest das Halbfinale im Pokal der Landesmeister, 1986 gewann Steaua als erste osteuropäische Mannschaft den bedeutendsten Europapokal und stand zwei Jahre später nochmal im Endspiel. 1990 stieß Dinamo im Pokal der Pokalsieger ebenso bis ins Halbfinale vor wie Steaua 2006 im UEFA-Cup.

Die Sensation von Craiova gegen Lautern ist somit die Mutter aller rumänischen Europapokalbegegnungen. Und ich war dabei, obwohl noch nicht als Redakteur bei der „Neuen Banater Zeitung“ in Temeswar angestellt. Ein Jahr vorher begann ich mit der Mitarbeit an der NBZ-Sportrubrik und lernte in der Redaktion Adalbert Horosz kennen. Er stammte aus Klausenburg und arbeitete als Sportstatistiker in Temeswar. Dabei profitierte er von seiner großen Erfahrung als Leistungssportler. In den 1930er Jahren war Horosz sechsmal rumänischer Eiskunstlaufmeister im Herren-Einzel. Er absolvierte die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, arbeitete als Trainer und Sportjournalist. 1930 war er sogar bei der Gründungssitzung des Rumänischen Fußball-Verbandes dabei. Später verschlug es Béla-Bácsi nach Temeswar, wo er mit seiner deutschen Ehefrau Anna Magdalena in der Nähe der Druckerei in der Arader Straße wohnte.

In der Begastadt war Horosz als Statistiker ein gefragter Mann bei Poli und anderen Fußballmannschaften, für die er während der Spiele Daten sammelte – mit Bleistift und Stoppuhr in der Hand: Wie viele Schüsse aufs Tor gemacht wurden, wie oft der Ball daneben ging, in welchem Spielabschnitt die meisten Gegentreffer fielen usw. Heutzutage sind Computer dafür zuständig, und die Reporter haben bereits während der Spiele Zugriff auf diese Daten. Jene von Béla-Bácsi waren schon damals für Sportjournalisten interessant, die sie in ihre Berichterstattung einfließen ließen. 

Obwohl Adalbert Horosz um fast 50 Jahre älter war als ich, freundeten wir uns an. Ich kann mich noch gut an seine Besuche im Temeswarer Kreisspital erinnern, wo er mich während meiner zehnwöchigen Internierung regelmäßig besuchte und wir über Gott und die Welt plauderten. Dabei habe ich von seinem riesigen Erfahrungsschatz als Sportjournalist profitiert, wofür ich ihm heute noch dankbar bin.

Eines Tage fragte mich Béla-Bácsi, ob ich ihm einige Angaben zu den Kaiserslauterer Spieler besorgen könnte wie Geburtsdatum, Körpergröße und Gewicht. Er wolle den Biorhythmus der Fußballer berechnen, also ihre guten sowie schlechten Phasen und sie Uni Craiova fürs Rückspiel gegen Lautern zur Verfügung stellen. Gesagt, getan. Er bekam die gewünschten Fakten von mir und berechnete die Leistungsparameter der Spieler. Heutzutage kann jeder seinen Biorhythmus selbst mit Hilfe von Apps bestimmen, vor 40 Jahren war das noch nicht möglich. 

Horosz fragte mich, ob ich mit ihm nach Craiova zum Spiel fahren möchte. So ein Angebot ließ ich mir natürlich nicht entgehen. Wir machten uns einen Tag vorher mit dem Zug auf den Weg und quartierten uns im Jiul-Hotel ein, wo die oltenische Elf untergebracht war. Dort gab Béla-Bácsi Uni-Trainer Constantin Oţet die Biorhythmusdaten. Oţet war ein intelligenter Mensch. Er hatte einige Jahre als Professor am Institut für Köpererziehung und Sport in Craiova gelehrt, dokumentierte sich akribisch und las sehr viel.

Das Hinspiel hatte der 1. FCK zwei Wochen vorher mit 3:2 auf dem Betzenberg gewonnen, ein Unentschieden hätte ihm in Craiova zum Weiterkommen gereicht. Es schien machbar, denn bei Kaiserslautern kickten hervorragende Fußballer. Hans-Peter Briegel war drei Jahre vorher Europameister und ein Jahr zuvor Vize-Weltmeister mit Deutschland geworden. Andreas Brehme sollte die DFB-Auswahl sieben Jahre später in Rom mit seinem Elfmetertor zum Gewinn des WM-Titels schießen. Aber auch andere Rote Teufel waren teuflisch gut wie die Nationalspieler Hannes Bongartz, Reiner Geye und Thomas Allofs sowie der schwedische Auswahlkicker Torbjörn Nilsson. Die Kaiserslauterer werden wegen ihres 54-er Weltmeisters Fritz Walter Rote Teufel genannt. Im Zweiten Weltkrieg kickte er für die Militärmannschaft „Rote Jäger“. Teufel wurde von der Spielweise abgeleitet, weil die Lauterer mit Fritz Walter teuflisch schnell spielten. Der Name Rote Teufel ist zum Markenzeichen der Pfälzer geworden.

Jetzt drehe ich die Zeit in Gedanken 40 Jahre zurück und lasse die Geschehnisse wie in einem Film Revue passieren. Der 1. FC Kaiserslautern kommt mit dem Charterflugzeug aus Saarbrücken via Bukarest nach Craiova und landet auf einem Militärflughafen in der Nähe. Mit im Flieger sind drei angesehene Reporter vom Südwestfunk (SWF) aus Baden-Baden: Fernsehkommentator Walter Johannsen, Redakteur Volker Kottkamp, der das Hinspiel im deutschen Rundfunk übertragen hat, und Radiokommentator Wolfgang Fritsch-mann. Ein Koch ist nicht mitgekommen. Die Pfälzer müssen im Hotel essen, was ihnen die Gastgeber servieren: ganz viel Gemüse, vor allem saure Gurken und nur wenig Fleisch. Kein Wunder, denn das ist im Kommunismus Mangelware. 

Aus anderen Landesteilen machen sich zahlreiche Rumäniendeutsche auf den Weg nach Craiova. Sowohl im Banat als auch in Siebenbürgen gibt es viele Bundesligaanhänger. Sie hören Woche für Woche die beliebte Bundesligakonferenz im Radio. Aus dem Banat fährt der Kleinjetschaer Erwin Wiener mit dem Zug zum Spiel. Es ist regnerisch und kühl. Kein schöner Frühlingstag. Erwin besucht öfters Spiele in Rumänien mit deutscher Beteiligung. Sogar mit Gerd Müller hat er in Bukarest geredet, als Bayern München 1972 bei Steaua angetreten war. Wiener arbeitet als Feinmechaniker im AEM-Betrieb in Temeswar und hat Urlaub fürs Spiel in Craiova genommen. Die Reise buchte er bei ONT, inklusive Eintrittskarte zum Spiel.

Das muss ich nicht tun. Als angehender Sportjournalist erhalte ich eine Pressekarte (siehe Faksimile auf der nächsten Seite). Béla-Bácsi und ich können uns für den Spielbesuch Zeit lassen, nicht so die Anhänger. Drei Stunden vor Anpfiff sind bereits 30000 Zuschauer im Central-Stadion. Sie haben Essen sowie Getränke mitgebracht und riechen die Sensation, die in der Luft liegt. Universitatea ist gespickt mit Stars, hat die beste Mannschaft der Vereinsgeschichte. Nach der knappen Hinspiel-Niederlage genügt den Hausherren ein 1:0-Sieg zum Weiterkommen.

Trotzdem macht ihnen die Kommunistische Partei Druck. Am Vorabend der Begegnung werden Spieler und Trainer um 20 Uhr ins Hotelrestaurant beordert. Was sollen wir dort, fragen sie sich. Wir haben doch schon gegessen. Erwartet werden sie von Radu Ion, Erster Sekretär des Kreisparteikomitees Dolj. Er ist auch Vorsitzender des Exekutivkomitees beim Volksrat Dolj und sagt: „Liebe Genossen, wir haben Anweisung von der Partei aus Bukarest bekommen, die Deutschen zu schlagen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt, oder?“ Sie hätten es auch ohne den Befehl aus der Hauptstadt gewusst. „Wichtig ist, dass wir kein Tor bekommen. Gegen Spielende schlagen wir zu. Kümmert Euch um Brehme, er ist ihr gefährlichster Spieler und darf keinen Stich machen“, fordert Oţet. Der Trainer zeigt seinen Fußballern einige Videokassetten mit Spielausschnitten von Lautern, die Außenminister Ştefan Andrei besorgt hat, ein großer Uni-Fan, schließlich ist er in Oltenien geboren.

Adalbert Horosz und ich nehmen Platz auf der Pressetribüne. Neben uns sitzen die wenigen schreibenden bundesdeutschen Journalisten, darunter Wolfgang Tobien vom kicker. Ich erzähle ihm, dass viele Rumäniendeutsche im Stadion sind, das mit 55000 Zuschauern ausverkauft ist. Der Kollege wird meinen Hinweis in seinem Spielbericht verwenden.

Um 14 Uhr pfeift der englische Schiedsrichter Keith Hackett an. Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Man sieht die Schatten der Spieler auf dem Rasen. Bei Kaiserslautern stehen acht Spieler auf dem Platz, die vor einem Jahr die Königlichen von Real Madrid mit 5:0 vom Betzenberg gefegt haben und ins Halbfinale eingezogen sind. Eine Sternstunde der UEFA-Cup-Geschichte und eine der schlimmsten Niederlagen des berühmtesten Vereins der Welt.

Craiova geht von Anfang an unbeeindruckt und zupackend zur Sache. „Selbst die Betreuer rennen wild gestikulierend zur deutschen Bank. Wollen sie die Gäste einschüchtern?“, fragt sich Erwin Wiener auf der Tribüne. Universitatea gibt Vollgas, erspielt sich Chance um Chance. Doch ein Tor will und will nicht fallen. Mit 0:0 wären die Pfälzer weiter. Nur noch acht Minuten. Dann schlägt es doch ein – genauso wie von Oţet vorausgesagt. 82. Minute: Cămătaru zieht aus 25 Metern mit links ab, Torwart Reichel macht sich lang und dreht den Aufsetzer um den Pfosten. Eckball Balaci von links. Die Lederkugel senkt sich in den Strafraum, flutscht Dusek durch die Beine genau vor den linken Fuß des aufgerückten rechten Verteidigers Negrilă. Er knallt aus fünf Metern unhaltbar in den linken Winkel. 1:0 für Universitatea! 

Hinter uns sind die Kabinen der Radioreporter. In der rumänischen explodiert Sebastian Domozină am Mikrofon. Der im ganzen Land beliebte Kommentator gerät völlig in Ekstase und schreit vierzehnmal „goooool“, dreimal „extraordinar“ (außerordentlich) und noch dreimal „gooooool“. In der Kabine nebenan ringt sein deutscher Kollege Wolfgang Fritschmann um Worte: „Wir wussten, dass der Teufel Balaci, Cămătaru oder Țicleanu heißt. Aber er erschien unter seinem richtigen Namen und heißt Negrilă.“

Oder Negoro, wie Negrilăs Spitzname lautet. Ein Abwehrspieler, der sich so gut wie nie in den Angriff einschaltet. Doch diesmal ist es anders, und dann schießt er auch noch ausgerechnet mit seinem schwachen linken Fuß. Die Mitspieler erdrücken ihn fast vor Freude. „Küsst mich mehr als Eure Frauen, denn durch mich werdet Ihr reich“, jubelt er. Verständlich, denn als Prämie wird es 40000 Lei für jeden Spieler geben. Viel Geld in jener Zeit. Ganz im Sinne des irischen Schriftstellers Oscar Wilde: „Als ich klein war, glaubte ich, Geld sei das Wichtigste im Leben. Heute weiß ich: Das stimmt.“

Mit 12:3 Schüssen, davon 9:1 aufs Tor, und 5:2 Eckbällen für Craiova ist der Sieg mehr als verdient. Es spielten: für Craiova: Lung – Negrilă, Tilihoi, Spielführer Ştefănescu, Ungureanu – Ţicleanu, Donose, Balaci, Geolgău (75. Cârțu) – Crişan (46. Beldeanu), Cămătaru; für Kaiserslautern: Reichel – Wolf, Spielführer Briegel, Melzer, Dusek – Geye, Bongartz, Brehme – Eilenfeld (84. Hübner), Nilsson, T. Allofs. Hüben wie drüben eine Ansammlung von Stars. Bei Universitatea pflegt Trainer Oţet vor Spielen die Trikots in der Kabine in die Luft zu werfen. Wer sie fängt, darf auflaufen. So viele gute Fußballer hat er um sich. Torjäger Cămătaru bekommt zwei Wochen vorher das Angebot, eine Deutsche zu heiraten und nach Kaiserslautern zu wechseln. Er lehnt es ab. Torschütze Negrilă (46) ist der Spieler mit den meisten Europapokalpartien für Universitatea vor Ştefănescu (45) und Ungureanu (43).

Nach der Sensation steht ganz Craiova kopf. Vor dem Jiul-Hotel, wo neben Uni auch der 1. FCK untergebracht ist, versammeln sich 100000 siegestrunkene Menschen. Sie schwenken Vereinsfahnen in Weiß-Blau, singen und rufen die Namen der siegreichen Spieler. Auch Erwin Wiener kommt am Hotel an und gelangt sogar hinein. Die niedergeschlagenen Lauterer machen sich bereit für die Fahrt zum Militärflughafen. Erwin erhält ein Autogramm von „Spargeltarzan“ Bongartz und Trainer Rudi Kröner. Der schenkt ihm außerdem eine Broschüre über die Stadtgeschichte von Kaiserslautern.

Mühsam bahnt sich die deutsche Delegation einen Weg durch die tobende Menschenmenge zum Bus. Mit dabei sind die drei SWF-Reporter. Wolfgang Fritschmann sucht verzweifelt die Schlüssel des Leihwagens, mit dem er nach der Landung in Deutschland heimfahren will. Er findet sie erst im Flugzeug, wo er sie beim Aussteigen auf seinem Sitz vergessen hat. Fünf Tage nach der Rückkehr wird Trainer Kröner nach nur neun Monaten im Amt entlassen.

Aus der Gegenwart des Jahres 1983 kehren wir in jene von 2023 zurück. Ich rufe Wolfgang Wolf an. Wir kennen uns seit mehr als drei Jahrzehnten aus meiner Zeit als BILD-Reporter, während der ich auch die Stuttgarter Kickers begleitet habe. Wolf hat nach seinem Wechsel von Kaiserslautern insgesamt zehn Jahre lang für die Schwaben gespielt, als ihr Trainer und Manager gearbeitet. Später war er Bundesligacoach beim VfL Wolfsburg, 1. FC Nürnberg und seinem Heimatverein Kaiserslautern.

Fürs Rückspiel in Craiova wurde Lauterns Elf auf einer Position verändert. Als rechter Außenverteidiger kam Wolf für Dieter Kitzmann rein. Im Hinspiel musste Wolle verletzt passen. An die 0:1-Niederlage kann er sich noch gut erinnern: „Wir wurden von den Zuschauern hitzig empfangen. Eine neue Erfahrung für uns. Die Rumänen waren technisch ganz gut und eklig zu spielen. Balaci kickte überragend genauso wie Ştefă-nescu, der als Libero alles abgeräumt hat. Der Platz war eine Wiese. Wir dachten, das 0:0 über die Zeit schaukeln zu können, Craiova hat verdient gewonnen.“

Ob die Biorhythmusdaten von Béla-Bácsi dazu beigetragen haben, weiß ich nicht. Wir fuhren nach dem Spiel ins Banat zurück und haben nie wieder darüber gesprochen. Jetzt kann ich ihn nicht mehr fragen. Er starb 1997 mit 88 Jahren in Temeswar. Auch andere Akteure von damals sind nicht mehr unter uns: die Radioreporter Sebastian Domozină und Wolfgang Fritschmann, die Trainer Constantin Oţet und Rudi Kröner sowie die Spieler Costică Ştefănescu, Nicolae Tilihoi, Ilie Ba-laci, Zoltan Crişan und Reiner Geye. Vielleicht treffen sie sich am kommenden 16. März hinterm Horizont. Da, wo die Sonne aufsteht, wenn sich der Mond schlafen legt. „Jetzt ist es hell, der Tag beginnt. Die Zeit ist egal, weil wir Zeitlose sind“, schreibt die Buchautorin Birgit Hassencamp. Bestimmt werden die Zeitlosen bei ihrem Rendezvous im Jenseits über das denkwürdige Spiel von vor vierzig Jahren reden, in dem die großen Andreas Brehme und Hans-Peter Briegel entzaubert wurden. 

Kommen Sie gut durch die Zeit!