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Peter Becker und das Fußballwunder von Temeswar

Trainer Peter Becker und seine Mannschaft CFR Temeswar Foto: Privat

Peter Becker 1967 Foto: privat

„Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.“ (Thomas von Aquin)

Nicht nur zurzeit befindet sich der Temeswarer Fußball in einem desolaten Zustand. Die Parallelen zu den 1960er Jahren sind frappierend: keine Mannschaft in der 1. Liga, zwei mittelmäßige in der 2., alles grau in grau. 1967 stieg Poli Temeswar als Tabellenletzter aus der A-Liga ab, spielte wie Lokalrivale CFR in der 2. Klasse – beide mit mäßigem Erfolg. In der Saison 1968/69 wurde Poli Sechster, CFR Elfter. Außer Spesen nichts gewesen. Da kamen die kommunistischen Behörden der Bega-stadt auf die Idee, aus zwei schwachen Mannschaften eine gute zu machen, die in die A-Liga aufsteigen soll.

Ihre Wahl fiel 1969 auf Poli. Die Studenten hatten bis dahin einen Titel gewonnen (Rumänienpokal 1958), CFR keinen. Poli war zwölf Jahre früher gegründet worden als CFR und hatte das größere Stadion. Die Bonzen beschlossen sogar, Poli in Ripensia umzutaufen, als ob mit einem berühmten Namen der Erfolg zurückkehren würde. Ripensia Temeswar war in den 1930er Jahren viermal Meister und zweimal Rumänienpokalsieger. Doch damit nicht genug. Denn auch die besten Fußballer von CFR wurden zu Poli abkommandiert: Borislav Panici, Dumitru Seceleanu, Ioan Mafa, Dumitru Kalinin. „Zeigt uns noch eine Mannschaft mit so vielen Klassespielern“, schwärmte die Zeitung „Sportul Popular“ in einem Bericht über Poli. Von dort wurden Cicerone Manolache sowie Mircea Răcelescu aussortiert und zu CFR abgeschoben. Somit war alles für den Erfolg von Poli angerichtet. Doch es kommt anders,  als die Apparatschiks gedacht haben: Nicht die aufgepäppelte Mannschaft von Poli stieg am Ende der Saison 1969/70 in die höchste rumänische Spielklasse auf, sondern ausgerechnet die von den kommunistischen Parteikadern geschwächte CFR.

Entscheidenden Anteil daran hatte ein Banater Schwabe: Peter Becker aus Neupetsch machte das Temeswarer Fußballwunder wahr. Der Trainer war der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz. Er übernahm CFR im Oktober 1969, als der Klub nach den ersten acht Etappen Viertletzter in der B-Liga war. Becker krempelte die Mannschaft um. Als großer Motivator fraßen ihm die Spieler aus der Hand. Verständlich, denn er war charakterstark, bienenfleißig, akribisch, ein ausgezeichneter Pädagoge. Seine Devise lautete: „Nicht den Fehler jagen und beschimpfen, sondern seine Ursache zeitlich sowie räumlich im Voraus erkennen und sagen, wenn du es anders machst, wird՚s besser.“

Unlängst rief ich Gheorghe Chimiuc an, der damals zu den jüngsten Fußballern in der ersten Mannschaft von CFR gehörte. Wir kennen uns seit circa vierzig Jahren. Während meiner Zeit als Sportredakteur bei der „Neuen Banater Zeitung“ habe ich ihn als Trainer verschiedener Temeswarer Mannschaften interviewt. „Peter Becker war ein guter Mensch. Er hat uns zu einer Einheit geformt. Wir waren wie Brüder, sind einer für den anderen gerannt“, spricht Chimiuc auch nach so langer Zeit immer noch voller Hochachtung von Becker.

Die Eisenbahnerelf kam mit dem banatschwäbischen Coach immer besser in Fahrt, und obwohl die beiden Stadtderbys gegen Poli (1:2/0:0) nicht gewonnen wurden, hatten die Weichselroten, die wegen ihrer Vereinsfarbe so genannt werden, am Ende die Nase vorn. Sie belegten punktgleich vor Hermannstadt den ersten Platz mit einem um zwölf Treffer besseren Torverhältnis und stiegen sensationell in die A-Liga auf. Poli wurde abgeschlagen Vierter mit drei Punkten weniger. So nannte sich die Mannschaft ab der Rückrunde wieder. Als hätte man geahnt, dass allein der Name Ripensia keine Erfolgsgewähr ist. Peter Becker hatte den Kommunisten einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Und Poli sollte erst 1973 die Rückkehr in die Eliteklasse gelingen.

Der bei der Studentenmannschaft ausgemusterte Cicerone Manolache blühte bei CFR auf und schoss das Team mit zwölf Toren in die A-Liga. Als Aufstiegsprämie bekam jeder Spieler von der Eisenbahnregionale 1500 Lei. Die Anhänger feierten den Aufsteiger auf dem Temeswarer Opernplatz. Von dort trugen die Spieler ihren Trainer auf den Schultern bis zur Eminescu-Terrasse an der Bischofsbrücke (Podul Tinereţii), wo die Siegesfeier stattfand.

Doch bis zu diesen Jubelszenen war es ein langer und steiniger Weg für Peter Becker. Geboren wurde er am 10. Juni 1916 in Neupetsch. Mit sechs Jahren kam er in die deutsche Volksschule. Von seinem Großvater Wilhelm Kalkbrenner, der seine Kinder und Enkel in den USA besucht hatte, erhielt er mit 13 Jahren einen aus Amerika mitgebrachten Gummiball. Damit begann er auf dem Sportplatz beim Bahnhof so hart aufs Tor zu schießen, dass der Ball nach acht Tagen platt war. 

Am 15. September 1926 gelangte Peter zur Banatia. Die deutschsprachige Bildungseinrichtung war siebzehn Tage vorher in Temeswar eingeweiht worden. Dort lernte er Geige, Harmonium und Orgel spielen, später kam noch Cello hinzu. 1936 bestand er als Siebter von 96 Studenten die Abschlussprüfung und konnte an deutschen staatlichen Volksschulen unterrichten. Er tat dies in mehreren banatschwäbischen Ortschaften, zuletzt in der Temeswarer Fabrikstadt. 

Auf dem Neupetscher Sängerfest lernte er 1934 seine Frau Juliane (geborene Weber) kennen, drei Jahre später heirateten sie und bekamen vier Kinder: Hadamut (die frühere Schauspielerin am Deutschen Staatstheater Temeswar), Siegfried (ein erfolgreicher Leichtathletiktrainer), Peter und Heidrun.

Während des Zweiten Weltkriegs war Peter Becker zunächst in der rumänischen, später in der deutschen Armee und geriet in amerikanische Gefangenschaft. Seinem geliebten Fußball blieb er in all den Jahren treu. Als Banatia-Schüler kickte er bei Banatul Temeswar. In den Dörfern, wo er später unterrichtete, war er als Spieler und Trainer tätig, selbst im Gefangenenlager gründete er eine Fußballmannschaft. In den Nachkriegswirren verloren die Eheleute Becker ihre Arbeitsplätze als Lehrer. So kam Peter 1951 als Verwalter zum Sportklub Progresul Temeswar, wo er eine Kindermannschaft gründete und seinen Trainerschein bei einem Kurs auf der Schulerau machte. 1960 wechselte er zu CFR Temeswar und arbeitete zunächst in der Verwaltung, dann als Trainer der Jugendmannschaft und jener der Werkstätten. Als die erste Elf in der B-Liga in Abstiegsgefahr geraten war, schlug ihn der damalige Technische Leiter des Eisenbahnerklubs Roland Köröschi als Trainer vor. 

„Will man etwas Schweres bewältigen, muss man es leicht angehen“, meinte der Dramatiker Bertolt Brecht. So war es auch bei Peter Becker. Der Neupetscher ging seiner Arbeit gewissenhaft nach, gestaltete ein abwechslungsreiches Training, in dem die Arbeit mit dem Ball oberste Priorität hatte. Er sagte mit wenigen und leisen Worten viel, schimpfte so gut wie nie. Sohn Siegfried ging ihm als Konditionstrainer zur Hand. Auf ihre Initiative hin wurde hinter einer Tribüne des CFR-Stadions ein 130 Meter langer und sechs Meter breiter Leichtathletiktunnel gebaut, in dem auch die Fußballer getrimmt wurden.

Becker hat sich stets für neue Trainingsmethoden interessiert. So bezog er 18 Jahre lang die Fachzeitschrift „Der Fußball Trainer“ aus der Bundesrepublik Deutschland – genauso wie sein Kollege Willi Schreiber aus Triebswetter (siehe „Banater Post“, Nr. 16 vom 20. August 2022). Auch sonst hatten beide Landsleute viele Gemeinsamkeiten, besonders die Anwendung neuer Trainingslehren.

Nach dem Aufstieg in die A-Liga lief es nicht gut für CFR. Die Kommunisten unterstützten den Verein weiterhin nicht: kein Geld, keine neuen Spieler, keine Punkte. Mit nur zwei Zählern aus zehn Spielen wurde CFR Schlusslicht und holte aus den letzten vier Hinrundenbegegnungen ebenfalls nur zwei Punkte. Kein Wunder, dass Coach Becker in der Winterpause durch Dumitru Macri, den früheren Spieler von Rapid Bukarest, ersetzt wurde. Mit Ion „Jackie“ Ionescu bekam er auch einen neuen Assistenten zur Seite gestellt. Aber sie konnten trotz Umstellung des Spielsystems den Abstieg nicht mehr verhindern. Am Ende der Meisterschaft wurde CFR Letzter mit 19 Punkten aus 30 Partien und kehrte nach einem Jahr in die B-Liga zurück. Das war am 27. Juni 1971, als die Eisenbahner daheim gegen Steaua Bukarest 0:0 spielten. Es sollte der letzte Auftritt von CFR in der A-Liga bleiben.

Nach der Entlassung nahm Peter Becker drei Monate Urlaub, arbeitete danach als Kindertrainer bei CFR und in der Verwaltung des Vereins. Die Securitate wollte ihn anwerben, was er ablehnte. 1972 ermöglichte ihm  Ilie Morodan die Ausstellung eines Passes zum Besuch der Bundesrepublik Deutschland. Der stellvertretende Vorsitzende des Temescher Kreisrates war ein großer Anhänger von CFR Temeswar und bewunderte Becker sehr. Wenig später reisten Sohn Siegfried und seine Ehefrau Marion ebenfalls in die BRD, zu den Olympischen Sommerspielen in München, wo die aus der DDR stammende Weltklassespeerwerferin für Rumänien antrat. Die drei Beckers kehrten nicht mehr ins Banat zurück. Bis die restliche Familie in die Bundesrepublik Deutschland nachreisen durfte, vergingen fünf Jahre.

Peter Becker ließ sich mit Gattin in Bayern nieder und arbeitete auch in Deutschland als Lehrer. Seine letzten Lebensjahre verbrachte das Ehepaar im Banater Seniorenzentrum Josef Nischbach in Ingolstadt, wo der Erfolgstrainer am 21. November 2010 nach 73 Jahren Ehe im Alter von 94 Jahren starb. Von den ehemaligen CFR-Aufstiegshelden sind nicht mehr am Leben Stefan Korek, Ludovic Tatar, Nicolae Hanganu und Constantin Gorduna.

Peter Becker war ein Feingeist: Banatiaschüler, Schwimmer, Lehrer, Turner am Reck, Musiker, Läufer (100 Meter in 11,4 Sekunden), Sänger, Springer, Chorleiter, Kugelstoßer. Er widerlegte den weitverbreiteten Spruch „Dumm kickt gut“ eindrucksvoll. 

Ein anderes Temeswarer Fußballwunder blieb vor dreißig Jahren aus. Am 16. September 1992 traf Poli in der ersten Runde des UEFA-Pokals auf Real Madrid, schon damals die berühmteste Fußballmannschaft der Welt. Saß ich früher jahrelang als NBZ-Sportredakteur auf der Pressetribüne im Stadion des 1. Mai, war ich diesmal als BILD-Reporter anwesend. Fünfzehn Monate nach der Auswanderung weilte ich erstmals zu Besuch in Rumänien und meldete mich als Angestellter der größten europäischen Tageszeitung für dieses Spiel an. Die Akkreditierung (siehe das abgebildete Faksimile) und das Presseformular mit den Aufstellungen  habe ich über all die Jahrzehnte aufbewahrt.

Wegen der hohen Eintrittspreise war das Stadion mit 26000 Zuschauern nur zur Hälfte gefüllt. Poli kam zu einem 1:1-Remis und flog nach der 0:4-Niederlage zwei Wochen später in Madrid raus. Den Ausgleich in Temeswar hatte Ovidiu Cuc erzielt, der unlängst Vorsitzender beim derzeitigen Zweitligisten Poli wurde. Gegen die Königlichen aus Madrid saß ich nur ein paar Meter von der Reporterkabine entfernt, in der Nicolae Secoşan das Spiel für den rumänischen Rundfunk kommentierte. Er gilt als Stimme des Banater Sports und ist eine lebende Legende. Während der Recherche für diese Kolumne rief ich den Ehrenbürger Temeswars mehrmals an, und wir plauderten über die guten, alten Zeiten. 

„Nicse“, wie sein Spitzname lautet, ist 77 Jahre alt und seit 14 Jahren in Rente. In seiner fast vierzigjährigen Karriere übertrug er im Radio 1113 (!) Spiele im Fuß-, Hand- und Basketball. Hut ab! Secoşan trifft sich einmal im Monat in einer Patisserie unweit des kürzlich renovierten Temeswarer Fischbrunnens mit ehemaligen Poli-Stars wie Emmerich Dembrovszki, Dănuţ Laţa, Romică Petrescu, Petre Mehedinţu, Viorel Vişan sowie Trainer Jackie Ionescu. Vor kurzem besuchten einige von ihnen ihren ehemaligen Kollegen Josef Leretter (327 A-Ligaspiele für Poli und UTA), der nach 32 Jahren und dem Tod seiner zweiten Ehefrau Alexandra aus Deutschland nach Temeswar zurückgekehrt ist und im Harmonia-Altenheim lebt.

Nicolae Secoşan kommentierte auch das Rückspiel in Madrid. „Dabei hatte ich die Genugtuung, den Geruch des Rasens im weltberühmten Stadion Santiago Bernabeu einzuatmen“, sagte er mir am Telefon. Sein großes Vorbild war die ungarische Reporterlegende György Szepesi (siehe „Banater Post“, Nr. 2 vom 20. Januar 2022).

Der Geruch des Rasens im altehrwürdigen CFR-Stadion in Nähe des Nordbahnhofs, wo einst die legendäre Mannschaft von Chinezul (Kinizsi) Temeswar sechs Meistertitel in Folge gewann, kann nicht mehr eingeatmet werden. Das Verteidigungsministerium nahm die Arena im Frühjahr 2020 in Beschlag, ließ das Spielfeld betonieren und darauf ein Lazarett für Covid-19-Kranke errichten. CFR musste auf einen Nebenplatz ausweichen, wo der Verein in der 6. Liga spielt, der niedrigsten Klasse in Rumänien.

Nächstes Jahr wird das traditionsreiche Stadion, in dem in der A-Liga bis zu 20000 Zuschauer zu den CFR-Spielen kamen, 110 Jahre alt. Zum Feiern wird keinem zumute sein. Doch die erfolgreichen Zeiten bleiben unvergessen, als ein Banater Schwabe aus Neupetsch das Temeswarer Fußballwunder vollbracht hat. Ganz im Sinne des englischen Journalisten und Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton: „Das Wunderbarste an den Wundern ist, dass sie manchmal wirklich geschehen.“ Wie bei Trainer Peter Becker und seiner Mannschaft von CFR Temeswar.

Kommen Sie gut durch die Zeit!