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Wie ich der Zensur ein Schnippchen schlug - Aus dem Nähkästchen geplaudert (Teil 1)

Der Systemkritische Bericht von Helmut Heimann erschien in der „Fußball-Weltzeitschrift“, Nr. 15/1988

Interview mit Dieter Müller in der NBZ, Nr. 6838 vom 6. Dezember 1984

Gernot Rohr, Helmut Heimann und Dieter Müller (von links) am 6. November 1984 in Bukarest Foto: Branko Vuin

„Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“  (Karl Kraus)

In der Ankündigung meiner Sportkolumne (siehe Banater Post, Nr. 1 vom 5. Januar 2021) habe ich geschrieben: „Manchmal werde ich aus dem Nähkästchen plaudern, Vergleiche zwischen der Presseszene von drüben (Rumänien) und hüben (Deutschland) ziehen, in der ich tätig war und bin. Hin und wieder erzähle ich Anekdoten und Erlebnisse aus meinem Reporterleben.“ Nach zwanzig Kolumnen ist es heute soweit.

Der eingangs zitierte Spruch des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus hat՚s in sich. Das Wort Zensur stammt vom Lateinischen censura. Damit wurde eine strenge Prüfung durch einen Sittenrichter (Censor) im Römischen Reich bezeichnet. Was die Massenmedien betrifft, bedeutet Zensur die Kontrolle des Informationsverkehrs, um die Verbreitung unerwünschter oder gesetzeswidriger Inhalte zu unterdrücken oder zu verhindern. Zensur wird in unserer Zeit mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht, während Zensur im Kapitalismus nicht vorkommen soll. Ein Trugschluss! Während meiner 38-jährigen journalistischen Tätigkeit im kommunistischen Rumänien und anschließend im kapitalistischen Deutschland habe ich so manchen Unterschied zwischen beiden Presseszenen festgestellt, aber auch mehrere Gemeinsamkeiten.

Als ich am 1. September 1984 bei der „Neuen Banater Zeitung“ in Temeswar als Redakteur eingestellt wurde, gab es die Funktion des Zensors offiziell nicht mehr. Sie war zwei Jahre vorher abgeschafft worden. Bis dahin fand die Zeitungszensur in der Druckerei statt, wo jede Nacht ein Zensor Dienst hatte. Verschwunden war sie aber nicht. Heuer werden es vierzig Jahre, seit die Chefredakteure die Aufgaben des abgeschafften Zensors übernahmen. Wir mussten unsere Beiträge dem Chefredakteur, seinem Stellvertreter oder jemand anderem aus dem Redaktionskollegium vorlegen. Sie lasen die Manuskripte mit Argusaugen, nahmen daran die aus ihrer Sicht notwendigen Veränderungen vor und brachten sie zum Redaktionssekretär, der die Zeitung layoutete. Danach gelangten die Texte per Kurier in die Druckerei an der Arader Straße.

Beim „Neuen Weg“ in Bukarest war es ähnlich. Die langjährige NW-Journalistin Rohtraut Wittstock, zuletzt Chefredakteurin der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ und unlängst mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, erinnerte sich: „Man hat den Zensoren die Seiten einzeln im Pressehaus ins Büro getragen. Irgendwann wurde die Zensur noch zu kommunistischer Zeit offiziell aufgelöst. Dabei hat man vorher nie gesagt, dass es sie gab. Danach kam eine der Zensorinnen zu uns in die Redaktion, die früher dort gelesen hatte. Sie hat ihre Arbeit dann bei uns fortgeführt. Es gab aber im Grunde auch eine Art Eigenzensur. Man wusste, dass bestimmte Sachen beim Vorgesetzten wahrscheinlich nicht durchgehen. Vieles musste man zwischen den Zeilen andeuten, es war ein Code, der gut funktionierte. Man wurde sehr bewusst im Benutzen der einzelnen Wörter und der Sprache überhaupt.“

Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky hatte recht: „Zensur besteht aus Frechheit und Angst.“ Aus diesem Teufelskreis gab es für die betroffenen Journalisten so gut wie kein Entrinnen. Wie sagte der auch im kommunistischen Rumänien populäre französische Schauspieler und Sänger Fernandel: „Der Mut ist wie ein Regenschirm. Wenn man ihn am dringendsten braucht, fehlt er einem.“ Um der kommunistischen Zensur ein Schnippchen zu schlagen, war sehr viel Mut notwendig, da solch ein Schritt weitreichende berufliche und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte.

Trotzdem hatte ich mich entschlossen, die Zensur in Rumänien auszutricksen. Erleichtert hat mir das meine Lebenseinstellung, die der Kabarettist, Schauspieler und Schriftsteller Werner Finck so ausdrückte: „Ich habe in meinem Leben viel gehalten, aber nicht den Mund.“ Dadurch macht man sich nicht nur Freunde. Aber das muss man in Kauf nehmen, wenn man seinen Prinzipien treu bleiben will – egal, ob im Kommunismus oder Kapitalismus.

Bestimmt erinnert sich noch so mancher Leser an das berühmt-berüchtigte Finale um den Rumänienpokal im Fußball zwischen Steaua und Dinamo am 26. Juni 1988 im ehemaligen Stadion des 23. August in Bukarest. Kurz vor dem Abpfiff gelang Balint für Steaua die 2:1-Führung. Der Schiedsrichter erkannte das Tor zunächst an, annullierte es aber, nachdem er die wegen Abseits gehobene Fahne seines Assistenten gesehen hatte. Es kam zu wütenden Protesten von Steaua. Die anstehende Verlängerung fand nicht mehr statt, denn Steaua zog sich aus Protest gegen den aberkannten Treffer vom Spielfeld zurück. Radio und Fernsehen blendeten sich kommentarlos aus der Direktübertragung aus, und am nächsten Tag erschien kein einziger Spielbericht in den Zeitungen. 48 Stunden nach dem Endspiel sprach eine eilig einberufene Schiedskommission Steaua den Sieg kampflos zu.

Auch in der „Neuen Banater Zeitung“ durfte nicht über das Skandalspiel berichtet werden. Deshalb fand ich eine andere Lösung, über die ich niemand einweihte, nicht einmal meine Eltern und schon gar nicht die Redaktionsleitung. Ich verfasste einen Bericht unter der Überschrift „Das 50. rumänische Cupfinale – der Fußball-Skandal des Jahres“, steckte ihn in einen Brief, den ich einem auf Besuch weilenden Landsmann mit der Bitte übergab, ihn in Deutschland aufzugeben. Mein Beitrag erschien in der November-/Dezemberausgabe 1988 der „Fußball-Weltzeitschrift“ in Wiesbaden. Sie wurde von der Internationalen Föderation für Fußballgeschichte und -statistik (IFFHS) unter Präsident Dr. Alfredo W. Pöge herausgegeben, als deren Rumänienmitarbeiter ich fungierte. Unterschrieben war der Bericht mit meinem vollen Namen, dahinter stand in Klammern Rumänien.

Im Beitrag schilderte ich den verheerenden Einfluss der kommunistischen Politik auf den rumänischen Fußball am Beispiel der erbitterten Rivalität zwischen dem Militärklub Steaua, der sich unter den Fittichen des Ceauşescu-Clans befand, ganz besonders des stellvertretenden Verteidigungsministers Ilie Ceauşescu, Bruder des Diktators Nicolae, und dessen Sohn Valentin einerseits sowie Dinamo, dem Klub des Innenministeriums, also der Miliz und Securitate, andererseits. Im Bericht schrieb ich über das Skandalurteil: „Es ist eine Vergewaltigung des Fußballs, stempelt die Federaţia Română de Fotbal zu einer Marionettenfigur ab und zeigt deutlich, wer im rumänischen Fußball das Sagen hat. Es ist die oberste Instanz der rumänischen Armee, deren Machtverhältnisse gegenwärtig sogar ausreichen, um die rumänische Polizei ins zweite Glied zu verweisen.“

Es waren Zeilen mit einer enormen Sprengkraft, deren Explosion mich hätte hinwegfegen können. Denn die Zeitschrift kam per Post nach Rumänien. Mein Vater war damals Briefträger in Großjetscha und brachte das Päckchen nach Hause. Dort blätterten meine Eltern in der Zeitschrift, entdeckten meinen Bericht, lasen ihn und waren regelrecht geschockt. Als ich heimkam, machten sie mir große Vorwürfe, weil ich die systemkritischen Zeilen unter meinem Namen und nicht unter einem Pseudonym veröffentlicht habe. Doch für mich hatte ein Zitat des südafrikanischen Politikers Nelson Mandela oberste Priorität: „Ich habe gelernt, dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst ist, sondern der Triumph über sie.“ Bei den anderen Kollegen triumphierte die Angst. Ich habe den damaligen Fernsehkommentator Dumitru Graur (75) gefragt, wie er das Skandalspiel heute, im Abstand von 34 Jahren, sieht. „Genauso wie damals“, antwortete der Vorsitzende der Rumänischen Sportpresse-Vereinigung. „Zu schweigen, war in jenem Moment meine klügste Entscheidung.“ Aber keine Heldentat. Ein rumänisches Sprichwort besagt: „Das gesenkte Haupt wird nicht vom Schwert abgeschlagen.“

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ich einen Schutzengel hatte. Damals haben wir mehrere westliche Zeitungen und Zeitschriften in die NBZ-Redaktion bekommen wie „Süddeutsche Zeitung“ aus München oder „Kleine Zeitung“ aus Graz. Doch immer, wenn etwas Kritisches über Rumänien darin erschienen ist, kamen sie nicht an. Denn die Securitate kontrollierte die ausländische Post und fing sie ab. Mein Glück war, dass die berüchtigte Geheimdienstpolizei nicht auf die Idee gekommen ist, eine Fußballzeitschrift auf regierungskritische Beiträge zu durchsuchen. Sonst würde ich diese Zeilen jetzt vielleicht nicht schreiben können. Beim „Neuen Weg“ in Bukarest gab՚s in der Redaktion einen Raum, genannt „Giftküche“, in dem die westliche Auslandspresse aufbewahrt wurde. Manche Zeitungen trugen den Stempel „secret“ (geheim). Keine einzige durfte hinausgenommen werden.

Als die „Fußball-Weltzeitschrift“ mit meinem Bericht in Großjetscha ankam, weilte ich in Bukarest bei einer Vorstandssitzung der Rumänischen Sportpresse-Vereinigung (APSR), in deren Exekutivbüro ich acht Monate vorher gewählt worden war. Die Zusammenkunft fand diesmal nicht in der Redaktion der Fachzeitung „Sportul“ statt, sondern im damaligen Pressehaus „Casa Scînteii“. Eine bizarre Situation! Da saß also jemand im kommunistischen Zeitungstempel, der aus der UTC geflogen, kein Parteimitglied war und das sozialistische System in einer kapitalistischen Zeitschrift kritisiert hatte. Wäre ich aufgeflogen, hätte ich mich vielleicht ein paar Kilometer weiter im Rahova-Gefängnis wiedergefunden. Verrückte Geschichten, die das Leben manchmal schreibt. In meinem Fall gehörten sie zu den allerverrücktesten. Und es war sogar noch eine Steigerung möglich.