Vor 50 Jahren stieg Unirea Triebswetter als erste rumänische Dorfmannschaft in die C-Liga auf
„Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken.“
(Fernando Magellan)
In den Wirren der chilenischen Sozialproteste verschlug es uns im Herbst 2019 während einer Reise durch Feuerland und Patagonien in eine Stadt, die wir eigentlich nicht auf dem Zettel hatten. Als wir, aus Argentinien kommend, in Chile eintrafen, ging der Aufstand in der Hauptstadt Santiago de Chile los. Wir strandeten 2200 Kilometer entfernt in Punta Arenas, der südlichsten Großstadt der Welt. Eigentlich sollten wir von dort nach Puerto Varas in die Seenregion Chiles fliegen, doch die Flugzeuge blieben aus Sicherheitsgründen am Boden. So hatten wir ausreichend Zeit, uns das malerische Punta Arenas anzusehen, Hauptstadt und schönste Ortschaft Patagoniens.
Die „Bruchlandung“ war ein Volltreffer. Denn überall in Punta Arenas begegneten wir den Spuren des berühmten portugiesischen Seefahrers unter spanischer Krone Fernando Magellan. Seiner Victoria, einem von fünf Schiffen, gelang vor 500 Jahren die erste Erdumsegelung – und damit der Beweis, dass unser Planet rund ist, also eine Kugel.
Meine Oma hat oft gesagt: „Alles ist gut für etwas.“ Das waren auch die gewaltigen Unruhen im südamerikanischen Land. Obwohl das chilenische Militär auf den Straßen von Punta Arenas patrouillierte, konnten wir ungehindert vieles in der Schule Gelernte sehen: den wagemutigen Abenteurer Magellan als Statue im Stadtzentrum, den Nachbau seines berühmtesten Schiffes Victoria im gleichnamigen Museum am Stadtrand sowie die Magellanstraße, die der Seefahrer 1520 entdeckt hatte. Sie ist eine 600 Kilometer lange und an ihrer schmalsten Stelle 4,5 Kilometer breite Meeresverbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Doch nicht nur die Wasserstraße wurde nach Magellan benannt, sondern auch eine Raumsonde, zwei Galaxien sowie ganz viele Pinguine.
Die die portugiesischen Schiffe im Atlantik begleitenden Stürme legten sich beim Erreichen des Pazifiks, weshalb ihn Magellan den Stillen Ozean nannte. Durch die Entdeckung der Verbindungsstraße konnte die Schifffahrt die riskante Umrundung des sturmumtosten Kap Horn mit seinen gefährlichen Strömungen vermeiden. Bis zur Eröffnung des Panamakanals, auf dem wir vierzehn Jahre vorher mit dem Schiff gefahren sind, galt sie als eine der wichtigsten Hochseewasserstraßen der Welt.
Doch was hat Fernando Magellan mit Wilhelm Schreiber zu tun? Auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten umso mehr. Denn der anfangs zitierte Spruch des weltbekannten Portugiesen hat՚s in sich. Er bedeutet im übertragenen Sinne: Wer sich nicht raustraut und keine neuen Wege einschlägt, wird immer auf dem alten Stand bleiben. Es gilt, andere Horizonte für sich zu entdecken, kreativ zu sein, neue Dinge auszuprobieren, zu erfahren und zu erkunden. Wer ständig das Gleiche tut, kann nicht zugänglich für andere Methoden sein.
Die Gültigkeit dieses Spruches hat Willi Schreiber bei Unirea Triebswetter bewiesen. Denn auch er beschritt neue Wege. Doch bis dahin dauerte es einige Zeit. Am 17. Januar 1934 in Triebswetter geboren, begann er in der Jugend Fußball zu spielen und erlernte den Beruf des Elektrikers. Nach der Rückkehr aus dem Baragan arbeitete er im Geburtsort beim Staatlichen Landwirtschaftsbetrieb (IAS) als Elektriker und jagte sechs Jahre lang dem runden Leder nach. So sehr, dass er 1957 mit den über die Schultern geworfenen Fußballschuhen auf dem Weg zum Stadion einen Zwischenstopp beim Standesamt eingelegt und seine aus Johannisfeld stammende Ehefrau Inge (geborene Römer) ohne Trauzeugen geheiratet hat.
Seine fußballerische Leidenschaft fiel den Verantwortlichen im Dorf auf und sie baten ihn, das Traineramt bei Unirea zu übernehmen: „In der Wirtschaft läuft es wie am Schnürchen. Die Leute verdienen gut, das Dorf wird immer schöner. Nur sonntags ist bei uns nichts los. Wir brauchen eine gute Mannschaft, und Du wirst das machen.“ 1957 war Unirea Triebswetter aus dem Zusammenschluss der Mannschaften von LPG sowie IAS gegründet worden. Gesagt, getan! Ohne jegliche Erfahrung stürzte sich Schreiber 1968 in die Arbeit. „Ich bin Trainer aus Passion, nicht von Beruf, habe mich selbst ausgebildet“, sagte er – und schlug wie Magellan neue Wege ein.
Schreiber gab sich nicht mit der rumänischen Trainingslehre zufrieden und richtete seine Aufmerksamkeit auf die deutsche. Verständlich, denn Deutschland war schon damals eine Fußballmacht, von der man viel lernen konnte, besonders von Hennes Weisweiler, dem berühmten Trainer von Borussia Mönchengladbach. Der bot in den 1970er Jahren mit seiner Gladbacher Fohlenelf dem großen FC Bayern München erfolgreich Paroli und schnappte den Bajuwaren gleich dreimal die Deutsche Meisterschaft vor der Nase weg.
Weisweiler leitete parallel von 1957 bis 1970 als Chefausbilder des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) die Trainerlehrgänge an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Sein 1959 veröffentlichtes Lehrbuch „Der Fußball. Taktik, Training, Mannschaft“ gilt als Standardwerk für alle Leistungsklassen und als Orientierungshilfe für die Trainingsgestaltung. Daraus hat sich auch Willi Schreiber inspiriert: „Weisweiler hat mir sehr imponiert, vor allem durch seine Härte. Schon beim Aufwärmen jagte er die Spieler mehrmals über zweihundert Meter“, erzählte der Triebswetterer.
Ein Cousin seiner Frau wohnte in Köln und abonnierte die Fachzeitschrift „Der Fußball Trainer“, die monatlich erschien und Schreiber ins Banat geschickt wurde. Darin fand er Adressen von Ansprechpartnern und Verlagen, die ihm mehrere Fachbücher nach Rumänien schickten, darunter auch vom DFB. Er hat viele Erkenntnisse aus Zeitschriften und Büchern angewandt. Auch mit dem damaligen Bundestrainer Helmut Schön stand er in brieflichem Kontakt. Doch am meisten angetan hat es ihm Weisweiler. „Er war der bundesdeutsche Trainer-Guru jener Zeit“, schwärmte Schreiber. „Das Neue ist nicht immer das Bessere, aber das Bessere ist immer neu“, brachte es Günther Baruschke auf den Punkt.
Heuer werden es 65 Jahre seit der Gründung von Unirea Triebswetter. Doch es war kein reiner Fußballverein, wie viele glauben, sondern es gab auch Abteilungen für Tischtennis, Schach, Handball, Tennis und Kegeln. Bemerkenswert für ein Dorf auf der Banater Heide.
Als Schreiber das Traineramt übernahm, spielten die Fußballer ganz unten in der Dorfmeisterschaft und stiegen in die Promotionsliga auf. Es war der erste Erfolg, dem weitere folgen sollten. Im gleichen Jahr 1968 stieß Unirea bis ins Finale des Landeswettbewerbes „Pokal der Dorfjugend“ vor, das im ehemaligen Stadion des 23. August in Bukarest ausgetragen und verloren wurde.
Unter dem Zepter von Willi Schreiber ging es Stück für Stück ins große Glück. 1969 gelang der Aufstieg in die zweite Gruppe der Temescher Kreismeisterschaft und 1970 in die erste Gruppe. Dort belegte Unirea ein Jahr später einen beachtlichen vierten Platz. Die Weichen für den großen Sprung waren gestellt.
Er fand am 2. Juli 1972 im schmucken Heidedorf statt. Als Temescher Kreismeister traf Triebswetter in den beiden Zulassungsspielen zur C-Liga auf Minerul Orawitz, den Champion des Kreises Karasch-Severin. Nach dem Hinspiel sah es nicht gut für Unirea aus. Die Orawitzer gewannen zuhause mit 2:0. Das Rückspiel stieg zwei Wochen später vor ausverkaufter Kulisse. 4000 Zuschauer füllten an jenem Sonntag die Arena. „Einbrecher hätten leichtes Spiel gehabt, da alle Einwohner im Stadion waren“, schrieb der Perjamoscher Sportredakteur Hans Frank im „Neuen Weg“.
Für die Hausherren lief es von Anfang an gut. Unirea holte den Vorsprung der Gäste aus dem Hinspiel auf, führte verdient 2:0. Doch der dritte und erlösende Treffer wollte nicht fallen. Da rief Schreiber seinem zehnjährigen Sohn Ottmar zu: „Es sieht nach Verlängerung aus. Lauf nachhause und sage Deiner Mutter, sie soll noch eine Thermosflasche mit Tee schicken.“ Das mit dem Tee hatte sich der Triebeswetterer Trainer von Weisweiler abgeschaut. Zu jedem Spiel machte Schreibers Frau Inge zwei Thermosflaschen Pfefferminztee mit Zitronenscheiben und Traubenzucker. Weisweiler hatte den Gladbachern das Trinken von kaltem Mineralwasser verboten, weil sie so noch mehr schwitzen würden.
Der Trainersohn machte sich auf den Weg, um Nachschub an Tee zu holen. Doch kaum war er aus dem Stadion, hörte er die Jubelschreie Tausender Menschen und wusste: Das dritte und entscheidende Tor ist gefallen. Die Erlösung folgte nach 87 Minuten. Mit diesem Treffer gewann Unirea das Rückspiel 3:0 und stieg als erstes rumänisches Dorf in die C-Liga auf. Der Jubel kannte keine Grenzen. „Es war mein größter Feiertag wegen der großen Begeisterung der Menschen“, gesteht Willi Schreiber. 50 Jahre ist das jetzt her – aber unvergessen!
Dass Traktoren vor dem Stadion bereitstanden, um das Spielfeld umzupflügen, wenn der Aufstieg nicht gelingen sollte, verweist Schreiber ins Reich der Fantasie. Es war ein Gag aus dem „Pipatsch-Dorfbesm“ von Michl Gradaus alias Ludwig Schwarz und Franz Bittenbinder. So ein Vorgehen hätte wenig Sinn gemacht, weil es sonst mit dem Zeitvertreib für die fleißigen Dorfbewohner vorbei gewesen wäre. Obwohl drei Jahre später sogar der Sprung in die B-Liga gelang, betrachtet Schreiber den Aufstieg in die C-Liga als seinen allergrößten Erfolg.
Dafür mussten zuerst die Voraussetzungen geschaffen werden. Die Bedingungen für die Spieler waren hervorragend. Obwohl sie Berufe wie Schlosser, Techniker, Tischler, Buchhalter, Schofför, Baumeister, Mechaniker, Landwirt oder Ökonomist hatten und bei LPG sowie IAS angestellt waren, ging keiner zur Arbeit. Weil unter Profibedingungen trainiert wurde, manchmal sogar bis zu viermal am Tag. Schreiber selbst arbeitete während der C-Ligazeit halbtags als Elektriker und nach dem Aufstieg in die B-Liga nicht mehr.
Aber es gab auch andere Privilegien. Die Fußballer aßen nicht in der normalen Kantine, sondern in einer separaten. Sie wurden mit Lebensmitteln wie Gemüse, Obst, Brot, Fleisch, Eiern versorgt. Gute Beziehungen gab es zum Kreiswehrersatzamt in Temeswar, so dass die Spieler ihren Armeedienst in der Umgebung absolvieren und bei den Pflichtspielen eingesetzt werden konnten.
Schreiber arbeitete akribisch für den Erfolg. Von jedem Training und Spiel machte er sich handschriftliche Notizen. Nebenbei übersetzte er für rumänische Trainer wie den bekannten Temeswarer Poli-Coach Ion „Jackie“ Ionescu die Trainingsmethoden aus den deutschen Fachbüchern und -zeitschriften. Ein enormer zeitlicher Aufwand. Doch der Triebswetterer Coach handelte nach dem Spruch des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt: „Stecke mehr Zeit in deine Arbeit als Arbeit in deine Zeit.“