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Dichter einer versunkenen Lebenswelt (Teil 2)

„Am Heidebrunnen“, Gabriels zweiter Gedichtband, ist 1943 in Temeswar erschienen.

Josef Gabriel der Jüngere mit seiner Familie um 1943: Ehefrau Anna mit Tochter Irmgard, die Söhne Richard und Lothar Fotos: Archiv der Banater Post

Zwischen den hochsprachlichen Gedichten Gabriels und jenen in der Mundart gibt es nicht nur sprachlich-formale und thematische Unterschiede, vielmehr lässt sich im „Schwowisch Johr“ eine heitere Distanz zum dargestellten dörflichen Volksleben, zum überlieferten Volksglauben und zum jahreszeitlichen Ablauf in der Natur nachempfinden. Hier ist noch alles festgefügt, noch so, wie es die „Großi“ erlebt hatte, die der Urenkelin die Sage vom „Auswechsler“ erzählte, vor dem junge Mütter ihre Neugeborenen hüten müssen.

Von der emotionalen Kraft der Mundart

Gabriels Mundartgedichte zählen zum Besten, was er geschrieben hat und was überhaupt in den Banater Mundarten verfasst wurde. Sie erschienen erstmalig und unvollständig erst 1969. Das Verdienst, diesen Dichter wieder ins Gespräch gebracht zu haben, gebührt den Temeswarer Hochschullehrern Karl Streit und Josef Zirenner, die in ihrer Mundartanthologie „Schwowische Gsätzle ausm Banat“ Gabriels Zyklus „՚s schwowisch Johr“ zum großen Teil veröffentlicht haben. Manches Gedicht ist wohl der Zensur zum Opfer gefallen, wie das auch bei Josef Gabriel d. Ä. nachweislich geschehen ist. Vor allem Gedichte mit religiöser und selbstbewusst historischer Thematik (Einwanderung und Leistung der Vorfahren) fanden vor der Schere der sozialistischen Zensur keine Gnade.

Die Mundartdichtung Josef Gabriels d. J. wurde von der Kritik mit viel Lob bedacht. Der Schriftsteller Franz Heinz schrieb zutreffend: „Im Zyklus ‚’s schwowisch Johr‘ finden wir einige der schönsten Gedichte des Bandes, den sprachlich und gedanklich schönen ‚Säspruch‘, die stimmungsvollen Verse im ‚Vorbhalder‘. Josef Gabriel d. J. ist vielleicht der einzige schwäbische Mundartdichter, der sich bisher um eine neue Ausdrucksweise und um eine thematische Erweiterung bemüht hat.“ (Neuer Weg, 3. Oktober 1969) Eine umfangreiche, kritische Würdigung des Gesamtschaffens von Gabriel d.J. veröffentlichte Erich Lammert. (NBZ, 4. Oktober 1970)

Gabriels Verhältnis zur geschichtlichen Vergangenheit der Schwaben, deren dichterische Gestaltung sowie die Darstellung der Gegenwart war bedingt von der bäuerlichen Tradition und der eigenen Lebenserfahrung, aber auch vom unruhigen Zeitgeist, vom Einbruch einer bewegten, widerspruchsvollen Außenwelt in die vermeintlich heile schwäbische Idylle. Die Spinnstube seines Großvaters Josef Gabriel d. Ä., die noch ein harmonisches Gemeinschaftsleben vermittelt hatte, war zwar im Schwinden begriffen, doch die alten Traditionen, die die Banater Schwaben aus ihrer deutschen Heimat bei der Einwanderung mitgebracht hatten, lebten noch fort und erfuhren in der neuen landschaftlichen Umgebung und in der neu geformten Lebensgemeinschaft eine Ausprägung mit eigenen Akzenten.

Das „Schwowisch Johr“ setzt ein mit dem Gedicht „Neijohr“, das den meisterlichen Umgang Josef Gabriels d.J. mit dem poetischen Potential der Mundart deutlich erkennen lässt.

Der anheimelnde Vergleich des neuen Jahres mit einem neugeborenen Kind – „Bischt wie e Kind, kannscht noch nix saan“ – ist ein trefflicher dichterischer Einfall, der in einem stimmungsvollen, von der emotionalen Kraft der Mundart getragenen Vers gipfelt: „Mir kuschle dich ins Flockegwand,/ Du kommscht jo aus eem Wunnerland.“ Nicht das „Ich“ des Dichters, sondern das gemeinschaftliche „Mir“ (das Wir) empfängt das neue Jahr mit Zuversicht und wendet sich wiederholt an das personifizierte Jahr: „Kumm rin, kumm rin, du neies Johr,/ mir mache uf die Tir uns Tor.“ Vorausgegangen war der sanfte Abschied vom alten Jahr, der wohl nur in der Mundart so bildhaft und einfach zugleich sagbar ist: „s aldi Johr is ingegumt“.

Im „Schwowisch Johr“ werden die banatschwäbische Lebens- und Denkweise, das Brauchtum und der überlieferte Volksglaube anhand des jahreszeitlichen Ablaufs und der bäuerlichen Arbeitswelt in farbiger Mundart anschaulich gestaltet. Zu den einzelnen Monaten dichtete Gabriel Sprüche mit überlieferten Lebensweisheiten und bäuerlichen Erfahrungen. Dazwischen sind Gedichte eingestreut, die spezifische, für das Brauchtum und kirchliche Leben wichtige Feiertage zum Thema haben oder typische Gestalten und Ereignisse des Banater Dorflebens aufscheinen lassen: Dr Richter, Beim Hausbaue, Dr Nochber, De Gornik, Dr Vorbhalder usw. Die Gedichte sind thematisch verknüpft mit den zur jeweiligen Jahreszeit üblichen Arbeitsvorgängen und Bräuchen, so zum Beispiel im Juni „Phingschtlimmel“ oder im Dezember „Die Schlacht“. Als Kostprobe sei hier der Spruch zum Monat Mai herausgegriffen:

Mai

Kummt de Mai mit warmem Reen,

Werd e jedes Kreidl scheen.

Soll die Sophi nix verkalle,

Muscht dich schun am Pankraz halle.

Dr Urbani is noch eener,

Wu de Mai gar macht zum Jänner.

Awer sunscht gebts, wie schun gsaat,

Vor de Kersche de Zalat.

 

Im „Schwowisch Johr“ hat Gabriel auch Gedichte über geschichtliche Ereignisse der Banater Schwaben eingefügt, wie zum Beispiel „Dr Prinz-Eugenbrunne“ oder „Die Inwannerung“. Das letztgenannte Gedicht durfte wohl nicht in den Band „Schwowische Gsätzle ausm Banat“ aufgenommen werden, ebenso wie die Ballade „Der Auswechsler. Eine Banater Sage“, die sowohl in einer hochsprachlichen als auch in einer mundartlichen Variante vorliegt. Es ist der einzige Fall solcher Doppelform, dem der Verfasser dieses Beitrags bei Gabriel begegnet ist. Der Dichter hatte die Absicht, den „Auswechsler“ in den Zyklus der Jahreszeiten zwischen November und Dezember einzureihen. In der Ballade berichtet die „Ahne“ (oder „Urgroßi“) von einer überlieferten Sage. Darin wird eine junge Mutter aufgefordert, von ihrem Kind das Böse abzuwenden durch ein althergebrachtes Ritual. Andernfalls käme der „Auswechsler“: „Da tut sich ein Schlund auf am Rande des Lands,/ man sieht nur den Schatten des arglistigen Manns“, der das Kind der Frau vertauschen wolle „mit des Teufels wahrhaftig leibeigenem Balg!“ Die Erzählerin ist die Ahne, deren „Antlitz … grau vom Wetter der Zeit“ ist. „Von der Urahne hat sie’s immer gehört.“

Die junge Mutter folgt dem Ratschlag und „tut wie es Brauch ist“. Allem Anschein nach glaubt sie aber nicht mehr an die zauberartige Wirkung der Ahnensprüche, wird jedoch durch das Erzählen der Großmutter umgestimmt. Noch einmal hat die Weisheit und das Traditionsbewusstsein der Ahnen den Widerspruch mit dem Neuen für sich entscheiden können.

Der Zyklus „`s schwowisch Johr“ ist nicht nur als Spiegelung des banatschwäbischen Jahreslaufs zu lesen oder als Abbild dörflicher Lebensweise, sondern auch als Sinnbild des menschlichen Lebens.

Geprägt ist die mundartliche Dichtung Gabriels –  trotz zuweilen düsterer, pessimistischer Anwandlungen – von echtem Humor und heiterer Ironie, von der tiefen Einsicht in das Werden und Vergehen der Natur und nicht zuletzt von festem Gottvertrauen. Die Gedichte zu den religiösen Feiertagen – „Dreikeenich“, „An de Oschtre“, „Weihnachte“ und andere – sind von der Zensur nicht zugelassen worden für den Abdruck im Band „Schwowische Gsätzle ausm Banat“.

Opfer der Russlanddeportation

Das Schicksal des Dichters Josef Gabriel d.J. war eng verbunden mit jenem der banatschwäbischen Gemeinschaft. Er gehörte zu den Todesopfern der Russland-Deportation. Seine Familie – die Ehefrau mit vier Kindern, das jüngste war am Tag der Deportation noch keine Woche alt! – musste die schwere Nachkriegszeit ohne den Vater durchstehen. Sein dichterisches Werk blieb unvollendet.

Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes hat den bürokratisch vermerkten Leidensweg Josef Gabriels dokumentiert anhand von „Akten deutscher Kriegsgefangener und Internierter“, die aus den „Archivbeständen der Russischen Föderation“ stammen. Auf Anfrage teilte der DRK-Suchdienst am 22. März 2022 mit:

„Aus der in Russisch abgefassten Gefangenenakte geht hervor, dass Josef Gabriel am 14.01.1945 in Merțișoara interniert und am 03.02.1945 im Arbeitsbataillon Nr. 1418 registriert wurde. Unserer Kenntnis nach befand sich das Arbeitsbataillon Nr. 1418 damals in Nowomoskowsk, Oblast Dnepropetrowsk, UkrSSr, heute Oblast Dnipropetrowsk, Ukraine. Am 18.07.1945 wurde er in das Arbeitsbataillon Nr. 1001 in Makejewka, Oblast Stalino, UkrSSr, heute Makijiwka, Oblast Donezk, Ukraine verlegt.

Die Akte enthält abschließend den Vermerk, dass Josef Gabriel in die Heimat am 25.12.1946 verlegt und an das Kriegsgefangenen- und Repatriierungslager Nr. 69 in Frankfurt/Oder zur Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft übergeben wurde. Nach der Ankunft in Frankfurt/Oder wurde Josef Gabriel am 12.01.1947 in das Evakuierungshospital gebracht.

Josef Gabriel ist am 13.01.1947 im Evakuierungshospital Nr. 1762 (…) verstorben und wurde am 14.01.1947 auf dem Hospitalfriedhof bestattet. Das Grab befand sich im Quadrant Nr. 13, Grab Nr 1.

Ob sich in/bei Frankfurt/Oder heute noch eine Grabstätte befindet, auf der Gräber deutscher Gefangener erhalten und erkennbar sind, entzieht sich unserer Kenntnis“.

Dies ist die bürokratische Form der Deportationsgeschichte des Dichters und Bauern Josef Gabriel d.J., die das Leid, das ihm angetan wurde, nur erahnen lässt. Wirklich nachempfinden können es nur jene, die die Russlandverschleppung selbst erlebt haben.