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Ukraine-Krieg: Rumänische Gastfreundschaft in Krisenzeiten

Nicht viel los in Halmeu, Kreis Sathmar: Die meisten Ukrainer kommen anderswo über die Grenze.

Andrea und Tamás arbeiten als Freiwillige an der Grenze.

Temeswar hilft: Die Initiative „Timișoara pentru Ucraina“ in der Josefstadt. Fotos: Thorsten Muth

Seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar sind bereits über vier Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflüchtet. Mehr als die Hälfte von ihnen reiste über Polen in die EU ein, etwa 310000 Flüchtlinge sind bisher in Deutschland angekommen. Weitere sieben Millionen Binnenflüchtlinge sollen innerhalb der Ukraine unterwegs sein. Als unmittelbares Nachbarland ist auch Rumänien zum Ziel von Menschen geworden, die Schutz vor Putins zerstörerischem Krieg suchen. Ganze 650000 Flüchtlinge aus der Ukraine wurden bis Anfang April an rumänischen Grenzübergängen gezählt, einschließlich mehrerer hunderttausend Personen, die über die Republik Moldau eingereist sind. Doch von den Menschen, die sich hinter dieser gewaltigen Zahl verbergen, ist im Westen Rumäniens nicht viel zu sehen. In den Straßen von Temeswar, Sathmar und anderen Großstädten gehen die wenigen Autos mit ukrainischen Nummernschildern im Feierabendverkehr unter.

„Die meisten Ukrainer bleiben höchstens eine Nacht und fahren dann weiter nach Ungarn“, erklärt Tamás, der mit seiner Kollegin Andrea am Grenzübergang Halmeu vor einem kleinen Wohnwagen der Malteser steht. Hier, im äußersten Nordwesten, arbeiten die freiwilligen Helfer aus dem Kreis Sathmar in Sechs-Stunden-Schichten, bieten den ankommenden Ukrainern Informationen und kostenloses Internet an. Die Kommunikation mit den Neuankömmlingen findet normalerweise auf Englisch statt, erzählen Andrea und Tamás, die beide in den Zwanzigern sind. Weil sehr viele Ukrainer die Sprache nicht beherrschen, behelfen sich die beiden jungen Leute mit Übersetzungs-Apps auf ihrem Handy. Momentan ist das allerdings gar nicht nötig: An der Grenzstation, wo man am Horizont in der sonst flachen Landschaft die Ausläufer der Ostkarpaten ausmachen kann, herrscht an diesem milden Frühlingstag kaum Betrieb. „In den ersten beiden Wochen des Krieges war es ganz anders“, meint Andrea. Damals seien auch über Halmeu noch sehr viele Menschen nach Rumänien eingereist, statt dem strahlend blauem Himmel gab es eiskalten Regen. Heute ist es anders. Während wir uns unterhalten, kommt eine einzige Frau über die Grenze. Sie erkundigt sich nach einer Versicherung für ihr Auto und fährt dann weiter nach 
Süden.

Verpflegung für die Durchreise

Auch wenn sich die Lage in Halmeu ruhig präsentiert, haben Cristian Silaghi und sein Team alle Hände voll zu tun. Der orthodoxe Seelsorger, der gleichzeitig Verantwortlicher des Kreiszentrums für die Koordinierung der Hilfsmaßnahmen (CJCCI) in Sathmar ist, trifft mich am Morgen in der Lobby meines Hotels. Silaghi hat nicht viel Zeit. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen, in zwanzig Minuten steht schon der nächste Termin an. Am Handy zeigt er mir, wie verschiedene Organisationen jeden Tag auf WhatsApp den neuesten Stand vermelden. So hat etwa die Hans-Lindner-Stiftung gestern 36 Menschen versorgt, während eine Pfingstkirche sieben Personen langfristig einquartiert hat. Die Kirchen der Stadt sind sehr aktiv, die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß. Kreiskoordinator Silaghi hat selbst eine Familie aufgenommen. Drei Generationen, eine junge Frau mit Kind und Mutter.

„Die Einreise aus der Ukraine ist ohne weiteres möglich“, erzählt Silaghi. Die meisten Menschen kämen über Siret in der Bukowina oder Isaccea bei Tulcea, deshalb sehe man in Halmeu zurzeit nicht sehr viele Ukrainer. Rumänien sei außerdem nur für wenige das Ziel der Reise, der Großteil wolle schnell weiter nach Westen. „In Ungarn hat man sich allerdings dafür entschieden, 
alle Flüchtlinge biometrisch zu erfassen“, sagt Silaghi weiter. Das führe an den anderen Grenzübergängen des Kreises, vor allem in Petea, zu langen Warteschlangen. In Nădlac im Kreis Temesch sehe es teilweise ganz ähnlich aus. „Es ist daher sehr wichtig, den Menschen auf der Durchreise wenigstens einen Kaffee und etwas Verpflegung anzubieten.“

Hilfstransporte nach Norden

Die wenigen, die heute über Halmeu nach Rumänien einreisen, werden an der Grenze von den freiwilligen Helfern des Kreises empfangen. Diese haben direkt neben dem Malteser-Wohnwagen von Andrea und Tamás mehrere große Zelte aufgebaut. Im blauen Zelt gibt es wichtige Informationen, in den beiden orangenen werden Hilfsgüter gelagert und verteilt. Neuankömmlinge bekommen von den Volontären, zu denen auch ein orthodoxer Priester gehört, einen Kaffee und alles was sie für die Weiterreise brauchen: Babynahrung, weibliche Hygieneartikel und Süßigkeiten. In den Zelten sind alle Spenden nach Bereichen sortiert und auf Biertischen angeordnet. Auch ich bekomme einen Kaffee.

Die koordinierte Hilfe der Kreisverwaltung beschränkt sich nicht auf Flüchtlinge: Umfangreiche Transporte bringen humanitäre Hilfsgüter direkt zu den Menschen in der Ukraine. Am Rande von Halmeu ist auf privatem Gelände ein Logistik-Zentrum eingerichtet worden. In einer großen Lagerhalle werden hier Güter aus Sathmar und Großwardein gesammelt und dann von ukrainischen Fahrern nach Iwano-Frankiwsk transportiert. Vom dortigen Lager würden die Hilfsgüter aus Sathmar dann weiter verteilt.

„Auf die ukrainischen Fahrer sind wir angewiesen“, sagt Kreiskoordinator Silaghi. Im Nachbarland sei das Navigationsgerät nämlich keine große Hilfe. Alle Fahrer hätten eine Sondergenehmigung, erklärt er, denn männliche Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren dürften ihr Land nicht verlassen. Ein Gesetz aus den ersten Kriegstagen hat das so festgelegt. 

Allerdings erfahre ich an der Grenze von Andrea und Tamás, dass sich unter den Flüchtenden immer mal wieder auch Männer im entsprechenden Alter finden. Die große Mehrheit seien aber in der Tat jüngere Frauen und Kinder. Senioren kämen ebenfalls, erzählt Andrea. Aber viel seltener: „Alte Menschen geben selbst im Krieg ungern ihre Häuser auf.“

Temeswar hilft

Auch im äußersten Westen Rumäniens ist die Flüchtlingshilfe gut koordiniert: Die Initiative „Timișoara pentru Ucraina“, deren Beratungszentrum sich nur wenige Meter vom Nordbahnhof entfernt in der Temeswarer Josefstadt befindet, konnte Ende März bereits auf acht erfolgreiche Hilfstransporte ins ukrainische Czernowitz zurückblicken. Initiatorin war die Stadtverwaltung, doch ähnlich wie in Sathmar arbeiten hier Akteure aus ca. 30 Organisationen zusammen: zivile Helfer, verschiedene Religionsgemeinden sowie örtliche Geschäftsleute. Die meisten Ukrainer kommen per Zug in Temeswar an, nicht alle wollen gleich weiterziehen. Diejenigen, die bleiben, werden von den Freiwilligen bei der Jobsuche oder beim Beantragen von Sozialhilfe unterstützt. Vielen Menschen tun aber bereits ein paar warme Worte und ein warmes Essen gut.

Temeswar sei die erste rumänische Stadt gewesen, die damals vom Kommunismus befreit wurde, und „kenne den Preis der Freiheit nur zu gut“, heißt es auf der Webseite der Initiative. Deshalb zeigt sich die Stadt an der Bega, die 2023 als Europäische Kulturhauptstadt bis zu einer Million Besucher empfangen möchte, bereits jetzt von ihrer gastfreundlichen Seite: Etwa 800 Ukrainer sind über „Timișoara pentru Ucraina“ langfristig in 193 privaten Unterkünften untergebracht worden, bei normalen Temeswarern. Über 150 Kinder wurden auf die hiesigen Schulen und Kindergärten verteilt, denn um das Kriegstrauma zu verarbeiten, brauchen gerade die Jüngsten Stabilität und einen geregelten Alltag.

Über den Krieg, über seine politischen Hintergründe oder seine Folgen machen sich die Helfer nur wenige Gedanken. Keiner mag darüber nachdenken, wie viele Menschen noch ihre Heimat verlieren müssen, bis in der Ukraine wieder Frieden herrscht. Oder was diejenigen vorfinden werden, die zurückkehren. In Sathmar, Temeswar und überall anderswo in Rumänien steht jetzt der Mensch im Vordergrund. Die Solidarität mit den Nachbarn ist groß und die Hilfsbereitschaft ungebrochen. Viele Helfer waren selbst noch nie auf der anderen Seite der Grenze, auch die jungen Freiwilligen in Halmeu nicht. Andrea ist optimistisch: „Vielleicht nach dem Krieg.“