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Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren - Martin Roos legt ein Monumentalwerk zum Temeswarer Dom vor (Teil 2)

Gewidmet dem Schutzpatron des Banats – der Nepomuk-Altar Quelle: Roos, Kathedrale, Bd. I

Am Tabernakel des Hochaltars, rechts – der Engel der Demut und Anbetung Quelle: Roos, Kathedrale, Bd. I

Wappen und Siegel im Freibrief der königlichen Freistadt Temeswar, verliehen durch Joseph II. Quelle: Roos, Kathedrale, Bd. I

Theologische Konzeption der Kathedrale

Ein zweiter thematischer Schwerpunkt in der Darstellung der neu errichteten Kathedrale ist der theologischen Konzeption, die ihr zugrunde liegt, gewidmet. In seinem Standardwerk Die Entstehung der Kathedrale hat Hans Sedlmayr wie kaum ein anderer die geistesgeschichtlichen, ja theologischen Aspekte einer Kathedrale dargelegt.

Das Glanzstück des Doms ist der von Michael Angelo Unterberger, dem Direktor der Wiener Kunstakademie, geschaffene Hochaltar. Er verleiht dem christlichen Leben unter der Obhut des dreieinigen Gottes Ausdruck. Überragendes Vorbild christlichen Lebens ist der heilige Georg. Der Schutzpatron der Domkirche steht für den Kampf gegen das Böse und Sündhafte, symbolisiert durch den Drachen. Er erinnert gleichzeitig an den ersten Bischof der Diözese, an den heiligen Gerhard. Eingegangen wird auch auf die künstlerische Gestaltung des Tabernakels auf dem Hochaltar als Ort stiller Anbetung. 

Wenn wir Bilder – Gemälde und Figuren – in einer Kirche sehen, so handelt es sich um Kultobjekte, die es erlauben, eine Verbindung zu Gott und dem Jenseits aufzunehmen. Sie werden verehrt, angebetet und für die Fürbitte benutzt. Jesus, Maria, die Mutter Gottes, der heilige Gerhard als Patron der Domkirche oder der heilige Nepomuk, im 18. Jahrhundert der Landespatron des Temeswarer Banats, nehmen da eine besondere Stellung ein. Solange sie im Dom stehen, bleiben sie Kultobjekte, wenn sie ins Temeswarer Diözesanmuseum oder Kunstmuseum wandern, verlieren sie diesen Status und werden zu Kunstobjekten. Für den Betrachter stellen die absichtlich komplizierten und verrätselten Allegorien und Embleme des Barocks eine besondere Herausforderung dar. Martin Roos entschlüsselt und erklärt sie, und bringt ihre Botschaft aus der Perspektive des Theologen und ehemaligen Oberhirten der Diözese auf den Punkt. Die ikonographischen Beschreibungen des Autors sind allgemeinverständlich gehalten. In seiner individualisierenden Betrachtung arbeitet er die formalen Merkmale der beschriebenen Bilder und Artefakte heraus.

Der Zugang zu seinem Untersuchungsobjekt erfolgt über die christliche Ikonographie, worunter eine wissenschaftliche Methode der Kunstgeschichte zu verstehen ist, die sich mit der Bestimmung und Deutung von Motiven in Werken der bildenden Kunst, die zur Ausstattung von Kirchen gehören, beschäftigt. Roos bietet eine kurze formale Beschreibung der dargestellten Bildgegenstände, um sich der Erforschung und Interpretation ihrer Inhalte und Symbolik unter Berücksichtigung vor allem der Theologie zu widmen, die nebst der literarischen Tradition und der Philosophie auf die jeweiligen Motive und ihre Darstellungsweise Einfluss hatten. Das Verständnis des Bildes erschließt sich nicht aus dem Bild allein, sondern wird erst durch einen Bezug zum Text möglich, ebenso wie es sich aus dem Kontext der kirchlichen Zurschaustellung erschließt. In der christlichen Ikonographie sind das die Bibel, Legenden und Heiligengeschichten. Bild und Bezugstext stellen also eine Einheit dar. Die Kommentare des Autors sind eher der „Wahrheit“ als der „Kunst“ zugewandt, um an das Gegensatzpaar zu erinnern, mit dem sich auch Sedlmayr auseinandergesetzt hat. Sie tragen zum Verständnis der Bildwerke und ihrer Botschaft bei. Die dargestellten Exponate sind aber auch historische Zeugnisse, indem sie Präsentationsformen kirchenpolitischer oder sogar politischer Ikonographie zuzuordnen sind. 

Die strukturelle Beschreibung des Domgebäudes wird mit der Krypta abgeschlossen. Im unterirdischen Raum der Kathedrale sind in Nischen die toten Bischöfe, Domherren, aber auch Festungskommandanten und Generäle wie auch wenige Privatpersonen beigesetzt worden.

Im Kapitel „Ordo divinorum“ (Ordnung des Göttlichen) lenkt der Autor seine Aufmerksamkeit auf die Ordnung und Gestaltung des Gottesdienstes im Dom im Laufe der Zeit. Der Dom war stets der Obhut des Domkapitels – des Domstifts – anvertraut, das Kapitel wiederum stand dem Bischof zur Seite. Erörtert werden die Statuten des Kapitels, die Zuständigkeiten der Kapitulare in administrativen und liturgischen Fragen und das Innenleben der Domherrengemeinschaft. Die rumänische Agrarreform nach dem Ersten Weltkrieg (1922), die das Vermögen der Diözese in Mitleidenschaft zog, brachte das Kapitel um Hab und Gut.

Der Autor wendet sich auch der Musik im Dom zu und verfolgt die Orgelausstattung von dem ursprünglichen Musikinstrument mit einem Manual (1762) über die im Wiener Barockstil von Paul Hanke erbaute Orgel (1767) bis zur 1908 in Betrieb genommenen Orgel des renommierten Orgelbauers Carl Leopold Wegenstein. Näher betrachtet werden anhand von Inventarverzeichnissen und Rechnungsbüchern die Anfänge der Temeswarer Dommusik: Musikkapellen, Musiker, Solisten, kirchliche Feierlichkeiten, Feste und Anlässe. Verwiesen wird auf Raritäten wie handgeschriebene Gebetbücher. 

Sonderfunktion als Glaubwürdiger Ort

Eng mit der Tschanader Kathedrale verbunden waren schon im Mittelalter zwei Institutionen: eine des kirchlichen und eine des öffentlichen, staatlichen Rechts. Zum einen handelt es sich um das Domkapitel, das Kollegium der Geistlichen, der sogenannten Domherren, die für den Gottesdienst an der Kathedrale zuständig waren, zum anderen um die Institution des Glaubwürdigen Ortes (lat. locus credibilis), eine Besonderheit des mittelalterlichen ungarischen Königreichs, das damalige öffentliche Notariat, das für die Ausstellung, Niederlegung und Beglaubigung von Urkunden des staatlich-öffentlichen Rechts zuständig war.

Das Führen eines Glaubwürdigen Ortes wurde im Königreich Ungarn meist den Domkapiteln und Propsteien überlassen. Das Tschanader Domkapitel erfüllte diesen Dienst bis zum Ersten Weltkrieg. Dafür hatte es einen eigenen Raum an der Kathedrale, in der oberen nördlichen Sakristei, hinter einer schweren Eisentür, wo das Domarchiv –  zu unterscheiden vom Diözesanarchiv  – untergebracht ist. Ausführlich wendet sich der Autor dieser in der Forschung unterbelichteten Funktion des Domes zu.

Die ältesten Stücke des im Domarchiv deponierten Archivguts gehen in das 16.-17. Jahrhundert zurück. Der Großteil der Tätigkeit des Kapitels als Glaubwürdiger Ort bestand nach dem Beginn der Privatisierung der Banater Kammergüter 1782 in der öffentlichen Einweisung der neuadligen Grundherren in deren durch den König oder Palatin – den Stellvertreter des Königs in Ungarn – verliehenen Domänen. Zu den herangezogenen Fallbeispielen zählt die Einführung der Brüder Christoph und Cyrill Nako in ihre durch Kauf erworbenen Herrschaften Großsanktnikolaus und Marienfeld. Aromunischer Herkunft und aus Makedonien stammend, hatten sich die wohlhabenden Brüder zunächst in Wien als Wollhändler niedergelassen, um nach dem Erwerb der Güter ihren Wohnort ins Banat auf ihre Domänen zu verlegen. Sie zählen zu den markanten Mitgliedern der neuen Banater Adelsschicht, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert herausgebildet hat.

Der Autor bietet einen Einblick in die Aktengattungen des Domarchivs. Zu dessen dokumentarisch wertvollen Überlieferung zählen Adelsbriefe aus dem 17. Jahrhundert, Testamente wie auch die Korrespondenz zwischen der Ungarischen Hofkanzlei und dem Domkapitel. Dem Domkapitel wurde auch die Verwaltung des Kapitals verschiedener Stiftungen anvertraut, das hier beginnend mit dem österreichischen Staatsbankrott 1811 hinterlegt wurde. Angeführt werden mehrere wichtige, von Domkapitularen und Privatpersonen errichtete Stiftungen.

Historische Entwicklung der Kathedrale

Die Entwicklung der Kathedrale von den Anfängen bis in die Gegenwart ist der thematische Schwerpunkt des zweiten Bandes der Monografie. „Der Weg der Kathedrale durch die Zeiten“ führt entlang mehrerer Phasen, die von kirchenhistorischen Zäsuren (Amtszeiten wichtiger Bischöfe) und politischen Umbrüchen bestimmt wurden: 1775-1844, 1834-1889; 1890-1930; 1930-1989; 1990-2020. Anhaltspunkte sind Neuausstattungen (Altargeräte und Paramente), Veränderungen im Alltag oder in der optischen Erscheinung wie der Einzug des elektrischen Stroms oder die Anschaffung einer neuen Turmuhr, Spender und Spenderinnen der Kathedrale, Renovierungen, aber auch politische und kirchenpolitische Ereignisse wie die Einführung der ungarischen Sprache als Sprache der Predigt (1902), der Aufmarsch der rumänischen Truppen auf dem Domplatz Anfang Juli 1919 und der Herrschaftswechsel nach dem Ersten Weltkrieg, der zur territorialpolitischen Aufteilung der Diözese Tschanad und somit auch zur Einengung des Aktionsradius des Domkapitels führte. 

Nach 1918 rückt das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in den Vordergrund. Eindrucksvoll sind die visuellen und die Textbezüge zum Leidensweg der Kirche nach 1948, wobei dem 1930 inthronisierten „Schwaben- und Volksbischof“ Augustin Pacha (1870-1954) eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. War der erste Band der Monografie eher objektzentriert, so räumt die Darstellung jetzt den großen und kleinen kirchlichen Akteuren Priorität ein. Die Darstellung bezieht auch „Kuriositäten aus alten Zeiten“ mit ein, die aufschlussreich sind für den Alltag und die Lebenswelten der Menschen vergangener Zeiten. Martin Roos trägt mit diesem Teil des Buches nicht nur zum Verständnis der Diözesangeschichte, sondern auch zu jenem der Regionalgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Banatdeutschen bei.

Der Autor nimmt auch die Schatzkammer der Kathedrale anhand ausgewählter Exponate in den Blick: Gold- und Silbermonstranzen, Kreuze und Kruzifixe, Reliquiare, Prunkkelche Hirtenstäbe und andere liturgische Geräte – es entgeht ihm nichts Wesentliches.

Im Mittelpunkt des Kapitels „Laiendienste am Dom zur Zeit des Barock“ stehen die „kleinen Leute“ wie Messner und Wachszieher. Unter der Aufsicht und Regie des Messners versahen die Ministranten ihren Dienst. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Backen von Hostien und die Besorgung von Messwein – des Opferweins zur Eucharistiefeier – aus den nahegelegenen Gasthäusern. Wachszieher und frühzeitig auch Wachszieherinnen versorgten den Dom mit Kerzen. Das Ewige Licht vor dem Allerheiligsten im Hochaltar wurde damals mit Olivenöl gespeist, das von „griechischen“ Spezerei-Händlern geliefert wurde. Ein Ladiner aus Graubünden – Pietro Antonio del Biondao –, der über Mercydorf nach Temeswar gekommen war und dreimal zum Bürgermeister des deutschen Magistrats gewählt wurde, betrieb in der Nähe des Doms ein gut gehendes Geschäft, in dem man Weihrauch, Baumöl, Myrrhe oder Seidenstoffe kaufen konnte. Erwähnung finden hier auch die zahlreichen Handwerker verschiedener Berufe, die bis zum Abschluss der Arbeiten um 1775 am Dombau mitgewirkt haben.

Wie so oft im Laufe der Darstellung, wenn es um Bau-, Lohn- und Anschaffungskosten ging, so ist auch hier abschließend von Geld die Rede: Der Autor geht auf die Herkunft der Gelder, durch die sich der Dom finanzierte, ein und leistet damit einen Beitrag zur Herstellung von Transparenz im Finanzgebaren einer wichtigen kirchlichen Einrichtung.

Methodischer Zugang des Kirchenhistorikers

Martin Roos praktiziert eine positive Geschichtswissenschaft, die sich nach dem Tatsächlichen und Gegebenen richtet. Als Historiker sieht er sich zur Erfassung und Erklärung von sinnesgebundenen, wissenschaftlich beobachtbaren Tatsachen verpflichtet. So verweist er auch den spekulativ angelegten architekturgeschichtlichen Vergleich in den metaphysisch-spekulativen Bereich. 

Durch die Beispiele, denen er sich zuwendet, soll ein Verständnis für die einzelnen kirchengeschichtlichen Epochen und Geschehnisse entwickelt werden. Er hebt die Geschichtlichkeit seiner kirchlichen und weltlichen Akteure hervor, deren Verankerung in die kirchliche Tradition. Ihr kirchenpolitisches, mithin auch politisches Handeln, ist oft komplex und gegensätzlich und durch die jeweiligen historischen Kontexte geprägt. So ist Domherr László Kun ein großer ungarischer Patriot des hochnationalen Zeitalters, in dem er veranlasste, dass am Dom nur noch in ungarischer Sprache gepredigt wird, aber gleichzeitig auch ein guter Stifter.

Roos geht ähnlich wie bei anderen seiner Publikationen chronologisch vor, er hält sich streng an die korrekte zeitliche Reihenfolge der Ereignisse. Nur ausnahmsweise weicht er davon ab, fügt Vorausdeutungen in den laufenden Erzählstrang ein, die dem Geschehen vorgreifen, genauso wie Rückblenden, die Voraussetzungen oder die Vorgeschichte einer Handlung preisgeben. Die rein chronologische Darstellung von Ereignissen, schließt jedoch nicht die Herstellung von Bezügen und Zusammenhängen, die sich aus den Fakten ergeben, gänzlich aus.

Ein Markenzeichen seiner historiographischen Methode ist die visuelle Darstellung. Zum Sichtbarmachen und zur Veranschaulichung werden abstrakte Ideen und Zusammenhänge in eine visuell erfassbare Form gebracht, um einen bestimmten Zusammenhang, der sich aus den geschilderten Daten und Fakten ergibt, deutlich zu machen. So bezieht er sich in seinen Objektanalysen stets auf die gestalterischen Entscheidungen der Künstler, welche Umsetzung geeignet ist und welcher Zusammenhang im konkreten Fall betont wird. Er benutzt Visualisierung nicht rein illustrativ. Bilder bilden nicht ein Gegengewicht zum Text, sondern sie ergänzen den Text und transportieren oft eine eigene Aussage. 

Anmerkungen und Ortsregister nehmen jeweils ein Drittel des Buchumfangs in Anspruch, ein weiteres Markenzeichen des Historikers Roos.

Der Autor führt auch kurz und bündig in die Quellen ein, die er seinen Untersuchungen zugrunde legt. Die entscheidenden Quellen zur Geschichte der Kathedrale zum hl. Georg befinden sich im Bischöflichen Archiv, im Archiv des Domkapitels zu Temeswar und  – vor allem für den gesamten Bauvorgang – im Österreichischen Staatsarchiv, Finanz- und Hofkammerarchiv zu Wien, aber auch im Ungarischen Nationalarchiv Budapest. Zu den aufschlussreichsten Primärquellen zum Bau am Dom gehören die Jahresberichte über den Fortgang der Arbeiten, zu denen Hans Diplich seinerzeit keinen Zugang hatte. Herangezogen werden auch die Sitzungsprotokolle des Domkapitels, die Korrespondenz des Bischöflichen Ordinariats wie auch – für alltagsgeschichtliche Aspekte – die Ephemerides, das Tagebuch der Jesuiten.

Fazit: Solide Dokumentation über den Dom zu Temeswar

Die Kosten für den Bau und die Ausstattung des Doms trug von Anfang an und bis zum Abschluss die kaiserliche Landesadministration, die die Aufsicht über die Bauarbeiten führte. Die bisherige Forschung hebt vor allem auf die künstlerischen und technischen Transferprozesse ab, die mit dem Temeswarer Dombau verbunden sind. Roos stellt diese keineswegs in Abrede, hebt aber den eigenen Anteil der Stadtbewohner hervor: „Der Dom zu Temeswar ist in seinem Äußeren wie in seinem Inneren fast ausschließlich das Werk ortsansässiger Künstler, Meister und Handwerker. Lediglich die alte Orgel, die alten Glocken und die Edelmetalle kommen von außen, aus Wien und Ofen (Buda). Die Einrichtung der Altäre, Gestühl und Portale sind Arbeiten Temeswarer Meister, geprägt vom Geist des Barocks und des Klassizismus“ – so das Fazit des Autors im Buchklappentext.

Das Monumentalwerk von Roos bildet eine solide Dokumentationsgrundlage für weiterführende kirchen-, kunst- und regionalgeschichtliche Forschungen.

Martin Roos: Die Kathedrale zum heiligen Georg zu Temeswar. Bischofskirche der Banater Metropole, kaiserliche Stiftung der Habsburger. Bd. I-II. Temeswar: Im Eigenverlag der Diözese Temeswar, 2021. 378, 407 Seiten. Festeinband mit Fadenheftung, zahlreiche Illustrationen. Die Bände sind nicht über den Buchhandel erhältlich.