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Er machte uns zum Weltmeister - Jupp Posipals 25. Todestag

Bericht von Helmut Heimann über den Lugoscher Posipal in der „Gazeta Sporturilor“ aus Bukarest.

Peer Posipal und Sohn Patrick mit einem Foto, auf dem ihr berühmter Vater bzw. Opa im HSV-Trikot zu sehen ist Foto: Florian Neuhaus

Jupp Posipal (Mitte) mit Ehefrau Gisela beim Empfang durch HSV-Fans auf dem Hamburger Flughafen Foto: picture alliance

„Es kommt darauf an zu gewinnen, nicht zu siegen.“ (Rupert Lay)

Dies ist die Geschichte von einem, der auszog, um die große Welt zu erobern. Und dem das nach vielen Hürden gelungen ist. Bis dahin war es ein langer und beschwerlicher Weg. An dessen Ende stand er ganz oben. So hoch, dass es höher nicht mehr ging: Am 4. Juli 1954 wurde Jupp Posipal, der Banater Schwabe aus Lugosch, in der Schweiz mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die favorisierten Ungarn Sensationsweltmeister. Ein WM-Gewinn für die Geschichtsbücher. Der Erfolgsgipfel war erreicht – der Olymp der Besten, Glückseligen, Unsterblichen, Legenden, Fußballgötter, in deren Reich unser Landsmann Aufnahme gefunden hat.

Sein Weg dahin begann am 20. Juni 1927 in Lugosch, als Josef Posipal geboren wurde. In den römisch-katholischen Kirchenmatrikeln seiner Heimatstadt steht mit Poszipál die ungarische Schreibweise des Familiennamens. Für damalige Verhältnisse nichts Ungewöhnliches. Sein Vater Peter, ein waschechter Lugoscher, führte in der Stadt an der Temesch eine gut gehende Bäckerei in der Karansebescher Straße, gegenüber der evangelisch-lutherischen Kirche. Seine Mutter Anna Maria, geborene Hillier, stammte aus dem nahen Darowa und war als Verkäuferin im Bäckereiladen tätig. Er ermöglichte der Familie ein ausreichendes Auskommen. Zu ihr zählte auch die 1929 geborene Margit Ilona, die im Alter von viereinhalb Monaten starb.

Der kleine Josef besuchte den Kindergarten und anschließend die deutschsprachige Volksschule Nr. 1 in der Kirchengasse. Als er in der ersten Klasse war, starb sein Vater und Joschi blieb mit sieben Jahren Halbwaise – zwei herbe Schicksalsschläge innerhalb kurzer Zeit. Posipals Mutter führte die Bäckerei weiter und heiratete zweieinhalb Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes den aus Bethausen stammenden Josef Herbacsek.

Sportlicher Siebenkampf

Zwischen 1938 und 1942 besuchte Josef Posipal das deutschsprachige Gymnasium in Lugosch. Er war nicht nur ein guter Schüler, sondern ein ebensolcher Sportler, dazu ein vielseitiger: Der groß gewachsene, gelenkige und sprungstarke Joschi schien wie geschaffen zu sein für den Weitsprung, das Handball- und Tischtennisspiel sowie Rudern auf der Temesch, ebenso fürs Skifahren und Schlittschuhlaufen. Außer diesen sechs Sportarten übte er bald noch eine siebte aus, die alle anderen in den Schatten stellen sollte: das Fußballspiel. 

Er erlernte es auf den Gassen und Wiesen seiner Geburtsstadt und sollte bald die anderen Mitspieler nicht nur körperlich überragen. Darüber berichtete Nikolaus Reiter in „Chronik der Familie Reiter“: „Meine Brüder waren mit Zikusch, wie er noch gerufen wurde, gut befreundet und spielten mit ihm Fußball auf der Grünen Wiese, besonders auf dem Dorobanți-Platz unweit unseres Hauses in der Honorici-Gasse. Posipal wohnte in der Oituz-Gasse, gleich neben der Eisenbahnlinie Richtung Busiasch. Sie spielten aber auch im Fußballverein Vulturii-Textila. Im Jahre 1942 zog er dann mit vielen anderen Schulkollegen nach Deutschland zur Ausbildung. Kurz davor waren wir noch mit sechs bis sieben Jungs aus der Nachbarschaft zu Fuß vierzehn Kilometer nach Darowa gelaufen, um mit der dortigen Mannschaft Fußball zu spielen. Danach schliefen wir alle bei Metz-Großvater in der Tischlerei am Boden auf Hobelschatten. Als Abendessen gab es kuhwarme Milch und köstliches Landweißbrot. Wie hat das gut geschmeckt nach dem großen Sieg. Mit von der Partie war selbstverständlich Jupp, der beste Spieler auf dem Feld. Schon als Gymnasialschüler war er allen anderen sportlich weit überlegen.“

Über Posipals Wegzug nach Deutschland gab sein Enkel Patrick, ebenfalls Fußballer, am 13. Juni 2014 in einem Interview mit Petre Dobrescu in „Libertatea“ Auskunft, der ersten unabhängigen Tageszeitung Rumäniens nach dem Umschwung: „Meine Eltern haben mir viel über Opa erzählt. So zum Beispiel über seine Flucht aus Rumänien, wo er geboren wurde. Eines Tages hat er sich einfach im Gymnasium entschlossen, das Land zu verlassen. Es war Winter, er sprang durchs Fenster, so mit den Kleidern auf sich und weg war er durch die Kälte und den Schnee, fast barfüßig. In zwei Wochen gelang es ihm, nach  Deutschland zu kommen. Lange Zeit trug er dort den Namen Berwanger, ausgeliehen von demjenigen, der ihm Unterkunft in einer Art von Jugendherberge verschafft hat.“

Das war in Würfel bei Hannover, wo Posipal im lokalen Eisenwerk den Beruf des Maschinenschlossers erlernte. Er kam am Wehrdienst vorbei und fand seine erste Anstellung in den MNH-Werken im nahen Hannover, einer Panzerfabrik. Dass er an der Herstellung von Kriegswaffen beteiligt war, die Menschen getötet haben, belastete ihn sehr. MNH gehörte zu den neun führenden Panzerfabriken und hat von 1943 bis 1945 circa 30 Prozent der in Deutschland produzierten Panzer hergestellt.

Nach Kriegsende war es mit den Panzern vorbei und Posipal zunächst arbeitslos. Anfangs hielt er sich, wie viele andere, mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser, arbeitete eine Zeit lang als Gerichtsdolmetscher für Ungarisch und Französisch. Er dachte ans Auswandern nach Amerika oder an eine Rückkehr ins Banat. Davor warnte ihn seine Mutter in Briefen, da er Gefahr laufen würde, wie so viele seiner Landsleute zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert zu werden.

Deshalb blieb Jupp Posipal in Deutschland und versuchte sein Glück mit dem Fußballspiel. Damit hatte er gleich nach seiner Ankunft in der Vertriebenenmannschaft Weiße Adler begonnen, anschließend in der Werkself gekickt und gelangte über die Stationen TSV Badenstedt, Linden 07 und Arminia Hannover zum Hamburger SV, wo er den nationalen Durchbruch schaffte. „Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen, auf denen wir in die Höhe steigen“, meinte Friedrich Nietzsche. Posipal bestätigte die Worte des großen Philosophen eindrucksvoll. Der vielseitige Banater konnte auf allen Defensivpositionen eingesetzt werden, vorwiegend als Mittelläufer und Stopper. Jahrelang spielte er beim HSV mit dem jungen Uwe Seeler zusammen, der ihn als Vaterfigur verehrte.

In Hamburg verdiente Jupp anfangs 180, später 400 Mark im Monat. Ab und zu gab's Kohlen und an Weihnachten eine Gans. 1952 wollte der weltberühmte Verein Real Madrid ihn verpflichten, aber Posipal blieb dem HSV treu, mit dem er achtmal die Oberliga Nord gewann. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gründung der Bundesliga 1963 waren die vier Oberligen (Süd, Südwest, West und Nord) höchste deutsche Spielklasse. Ihre Meister und teilweise Vizemeister spielten den Deutschen Meister aus.

Schneller Heilungsprozess

Posipals starke Leistungen fielen Sepp Herberger auf. Der Bundestrainer hatte ein besonderes Auge auf den 1,76 Meter großen, 76 Kilogramm schweren Lugoscher geworfen. Und wollte ihn im ersten deutschen Nachkriegsländerspiel beim 1:0 über die Schweiz 1950 in Stuttgart einsetzen, aber der Banater Schwabe hatte noch keinen deutschen Pass. Sieben Monate später war es soweit, und Posipal konnte sein Debüt in der deutschen Nationalmannschaft geben – als rechter Läufer bei der 1:2-Niederlage in Berlin gegen die Türkei.

Jupps internationaler Aufstieg war nicht mehr aufzuhalten. Im Oktober 1953 wurde er als einziger Deutscher in die Weltauswahl berufen, die England im Wembley-Stadion ein 4:4 abtrotzte. Er bekam das Attribut „Kontinentstopper“ verliehen und 1000 Pfund Gage (damals 12000 D-Mark), die höchste Geldprämie seiner Karriere. Bei der Wahl zum „Sportler des Jahres“ 1953 in Deutschland belegte er den zweiten Rang, eine hervorragende Platzierung für einen Fußballer – hinter Werner Haas, dem zweimaligen Weltmeister im Motorradstraßenrennsport.

Bundestrainer Herberger hielt weiterhin große Stücke auf Posipal. Er nahm ihn im November 1953 sogar als Beobachter ins Londoner Wembley-Stadion mit, wo Ungarn den Engländern die erste Heimniederlage ihrer Geschichte zufügte. Und er machte ihn zum Stellvertreter von Kapitän Fritz Walter.

Trotz der guten Vorzeichen begann die WM 1954 in der Schweiz nicht wie erhofft für Posipal. Werner Liebrich schnappte ihm den Stammplatz als Mittelläufer weg. Aber Widerrede war nicht Jupps Sache. Er wirkte nach außen zwar stabil und robust, wurde aber von Selbstzweifeln geplagt. Denn er war ein bescheidener, feinfühlender, empfindlicher und zurückhaltender Mensch. Kapitän Fritz Walter lobte ihn: „Mit Posipal hat es nie Probleme gegeben. Er hat immer Charakter gezeigt.“ Auch als er im Viertelfinale gegen Jugoslawien auf die Ersatzbank musste und es dadurch nur auf fünf von sechs WM-Einsätzen brachte. Herberger: „Ich bot ihm an, das Spiel neben mir auf der Trainerbank mitzuerleben. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass damit der Anfang eines schnellen Heilungsprozesses meines jungen Freundes gemacht wurde.“

Kein Wunder, dass Posipal im Halbfinale gegen Österreich wieder dabei war, aber als rechter Verteidiger. Seinen Platz als Mittelläufer nahm weiterhin Liebrich ein. Jupps Stärken waren seine große Schnelligkeit und ausgeprägte Sprungkraft. Vor anderthalb Monaten erzählte mir Peer Posipal, wie sein Vater sich diese Tugenden angeeignet hat: „Den langen Weg zur Schule in Lugosch lief er und sprang an den Bäumen am Straßenrand hoch, um die Äste zu berühren.“ 

Deutscher „Spion“

Diese Stärken kamen ihm im Finale gegen die übermächtigen Ungarn zugute, unter ihnen einige magyarisierte Donauschwaben wie Trainer Gustav Sebes (Gustav Scharenpeck), Sándor Kocsis (Alexander Wagner), Nándor Hidegkuti (Ferdinand Kaltenbrunner) und Topstar Ferenc Puskás (Franz Purczeld). Wie sagte Erfolgstrainer Dettmar Cramer: „Solange besser möglich ist, ist gut nicht genug.“ Das war auch Posipals Devise. Er spielte mit der Nummer sieben als rechter Verteidiger groß auf. Zur Halbzeit stand es 2:2. Und Jupp, der als Herbergers Spion galt, weil er schon seit seiner Lugoscher Zeit gut Ungarisch sprach, informierte den Trainer in der Kabine über die während des Spiels von den Ungarn aufgeschnappten taktischen Informationen.

Nach dem Seitenwechsel überraschte Trainer Sebes mit einem Positionswechsel. Er ließ Angreifer Zoltán Czibor statt über rechts nun über links stürmen. Dabei kam es zum direkten Duell Posipal gegen Czibor – und zu einer Legendenbildung, die bis heute anhält: Czibor und Posipal sollen in Lugosch in der gleichen Schulbank gesessen und im Vulturii-Verein zusammen Fußball gespielt haben. Sogar Bundestrainer Herberger erzählte davon in einem seiner letzten Fernsehinterviews: „Deshalb musste ich mir keine Gedanken mehr über den Ausgang dieses Duells machen.“

Er sollte recht behalten. Posipal stellte Czibor kalt und rettete mehrmals auf der Linie. Die deutsche Abwehr war dank ihm wesentlich stabiler. Auch der legendäre Reporter Rudi Michel, der vier WM-Endspiele (darunter drei mit deutscher Beteiligung) im ARD-Fernsehen kommentierte und 1954 in der Schweiz als Radioreporter dabei war, sagte über die gemeinsame Zeit von Posipal und Czibor, dass „man sich darüber erzählte.“ Wer diese Geschichte in die Welt gesetzt haben soll, wurde bis auf den heutigen Tag nicht bekannt.

Verständlich, weil nichts dran ist. Ich habe bei fünf Zeitungen und Onlinediensten in Lugosch sowie dem Bürgermeisteramt nachgefragt. Aber niemand konnte Beweise dafür vorlegen. Klar, denn Czibor wurde zwei Jahre nach Posipal in Ungarn geboren und konnte schon aus diesem Grund nicht mit Jupp in einer deutschsprachigen Lugoscher Klasse die Schulbank gedrückt haben. Czibor begann mit dreizehn Jahren in Ungarn Fußball zu spielen. Warum sollte es ihn als Knirps für ein paar Jahre nach Lugosch und dann wieder zurück nach Ungarn verschlagen haben? Davon weiß auch Peer Posipal nichts: „Mein Vater hat nie von Czibor als Schul- und Mannschaftskameraden gesprochen.“ Eine Geschichte, viel zu schön, um wahr zu sein.    

Keine Fiktion war Gyula Lóránt als Mittelläufer bei den Ungarn. Sieben Jahre vorher stand er bei UTA Arad unter Vertrag und gewann mit den Banatern ihren ersten von sechs rumänischen Meistertiteln. Später wurde Lóránt ein berühmter Bundesligatrainer.

Die Rechnung des ungarischen Trainers mit dem Positionswechsel Czibors ging also nicht auf. Deutschland wurde mit 3:2 zum ersten Mal Weltmeister – und der Jubel kannte keine Grenzen! Mittendrin: Jupp Posipal. „Erfolg ist ein scheues Reh. Der Wind muss stimmen, die Witterung, die Sterne und der Mond“, meinte Kaiser Franz Beckenbauer. So war es auch an jenem historischen Tag im Berner Wankdorfstadion.

Jeder deutsche Spieler erhielt zehn Mark Tagesgeld. Die meisten mussten sich als Amateure unbezahlten Urlaub nehmen. Profis gab's damals keine. Pro Einsatz bekam jeder Spieler vom DFB 200 Mark sowie 1000 Mark als Prämie für den WM-Gewinn. Außerdem erhielten die Sieger einen Motorroller. Sie konnten damit aber nicht fahren, weil sie keinen Führerschein hatten. Sonst gab's für jeden eine Armbanduhr, einen Kühlschrank, Persilwaschmittel, ein Kaffeeservice und eine Obstschale. Die Heimkehr mit dem Zug aus der Schweiz nach Deutschland gestaltete sich zur Triumphfahrt. Tausende Menschen strömten in die Bahnhöfe, um die Helden von Bern zu feiern. „Im Allgäu haben sie uns den Käse in die Abteile geworfen“, erzählte Posipal.

Schönes Familienritual 

Genauso groß war die Freude bei den Banater Schwaben (siehe Banater Post, Nr. 2 vom 20. Januar 2022). Der Weltmeistertitel hat auch bei unseren geschundenen Landsleuten zum Wiedererwachen ihres Deutschtums in jener schweren Zeit beigetragen. In meiner Familie wurde der WM-Gewinn über Jahrzehnte hinweg zum schönen Ritual. Jedes Jahr am 4. Juli sprachen wir darüber. Das lag an meinem Vater, der damals noch in Schimonydorf im Kreis Arad lebte. Heuer begeht die am nördlichsten gelegene Ortschaft des banatschwäbischen Siedlungsgebietes den 140. Jahrestag ihrer Gründung. 1954 lebten circa 1300 Ungarn, 300 Deutsche und eine Handvoll Rumänen in dem Ort nahe der Schwarzen Kreisch.

An jenem 4. Juli zog es auch meinen Vater in die Dorfmitte, wo ein Radioapparat im Kulturhausfenster stand. Umringt von zahlreichen Ungarn hörte er sich mit ein paar Deutschen die Übertragung von György Szepesi im ungarischen Rundfunk an. Vater war damals 27 Jahre alt und ein unerschrockener, mutiger Mann, der neun Jahre vorher monatelang auf der Flucht war, um der Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion zu entgehen. Was ihm trotz mehrerer Festnahmen, mit Ausbrüchen gelungen ist. Nicht selten geriet er dabei in Lebensgefahr, wie bei seiner Flucht über die zugefrorene Schwarze Kreisch, als er mitten im Fluss einbrach und sich erst in letzter Sekunde retten konnte.

Natürlich hielt er während der Radioübertragung des WM-Finales inmitten der vielen Ungarn nicht still und jubelte ausgiebig mit der deutschen Mannschaft. Nach dem Spiel fragte ihn der frustrierte ungarische Parteisekretär des Dorfes, warum er mit den Deutschen gehalten habe. „Aus dem gleichen Grund wie Du mit den Ungarn“, entgegnete ihm mein Vater schlagfertig. Seit jenem Tag hat der Apparatschik kein Wort mehr mit ihm gesprochen.
Jedes Jahr am 4. Juli hat mir Vater diese Geschichte erzählt. Ich kannte sie bereits in- und auswendig, habe ihm aber immer aufmerksam zugehört. Und ich hegte und pflegte seine Erinnerungen an jenen denkwürdigen Tag. So fuhr ich 2004 mit ihm nach Speyer, wo im Historischen Museum der Pfalz zum 50. Jahrestag des WM-Gewinns die Ausstellung „Am Ball der Zeit – Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaften seit 1954“ gezeigt wurde.
Hatte mein Vater das Ereignis damals im Radio gehört, konnte er sich fünf Jahrzehnte später ein Bild davon machen. Gezeigt wurden unter anderem die Fußballschuhe von Horst Eckel und Ottmar Walter, der Endspielball, eine Sitzbank aus dem Wankdorfstadion, die Spielerausweise von Fritz Walter und Werner Liebrich, eine Eintrittskarte fürs Finale sowie der bronzierte Schuh des Siegtorschützen Helmut Rahn. Vertiefen konnte Vater seine Eindrücke durch drei Bücher über die WM '54, die ich ihm zu verschiedenen Anlässen geschenkt habe, sowie den 2003 gedrehten Spielfilm „Das Wunder von Bern“ von Sönke Wortmann, mit Peter Lohmeyer und Sohn Louis Klamroth in den Hauptrollen, den ich zusammen mit meinen Eltern im Kino gesehen habe.

Große Fußstapfen

Die Wirklichkeit war noch viel beeindruckender als im Film, aber bei den direkt Beteiligten forderte sie ihren Tribut. Rücken und Beine schmerzten Jupp Posipal immer stärker. Der weltmeisterliche Meniskus konnte auf Röntgenaufnahmen nicht mehr gesehen werden, weil der Zwischenknorpel im Kniegelenk total zerrieben war. „Wir bekamen viel Cortison gespritzt, was sich rächte“, klagte er. Deshalb bestritt er am 6. August 1958 sein Abschiedsspiel für den Hamburger SV, für den er zwischen 1949 und 1958 insgesamt 251 Oberligaspiele mit 13 Toren absolviert hat. Obwohl der Verein 1957 und 1958 das Finale um die Deutsche Meisterschaft erreichte, hat er es nicht gewonnen.

In der Nationalmannschaft brachte Posipal es zwischen 1951 und 1956 auf 32 Länderspiele mit einem Tor. 

Nach dem Karriereende arbeitete er zunächst als Bankbeamter in Hamburg und machte sich später als Handelsvertreter für den Polstermöbelhersteller Wagner aus Coburg selbstständig, für den er pro Woche bis zu 2000 Kilometer im norddeutschen Raum unterwegs war. „Meine Popularität hat mir beim Verkauf geholfen“, bemerkte er.

Ruhe und Geborgenheit fand Jupp in der Familie. 1949 lernte er beim HSV seine spätere Ehefrau Gisela, geborene Schliemann, kennen. Er sah der Hamburgerin beim Hockeyspielen zu. Als sie sich verletzte und ein blaues Auge davontrug, kümmerte er sich rührend um sie. 1952 wurde geheiratet. Später kamen die Kinder Cornelia (1952) und Peer (1962) zur Welt.

Die Fußstapfen des Vaters waren für seine Nachkommen zu groß. Peer brachte es immerhin auf 30 Bundesligaspiele für Eintracht Braunschweig. Sein Sohn Patrick (33) spielte zuletzt beim VfB Oldenburg in der Regionalliga Nord, wo er seine Laufbahn mittlerweile beendet hat. „Es ist korrekt, ich habe einen schweren Namen. Aber ich bin sehr stolz auf Opa. Das Wunder von Bern wird für immer einmalig bleiben“, so Jupps Enkel.

Mit seiner Familie lebte Posipal im Hamburger Stadtteil Lokstedt, wo er eine Villa gebaut hat, nur einen Steinwurf von Hagenbecks Tierpark entfernt. 1993 ging er in Rente und hatte mehr Zeit, sich um seinen 1400 Quadratmeter großen Garten zu kümmern, vor allem um die Rosen und den englischen Rasen. Sohn Peer übernahm vom Vater bis heute die Generalvertretung für die Möbelbranche in Norddeutschland.

Rührendes Wiedersehen

Bis zu ihrem Tod 1974 im Alter von 79 Jahren pflegte Jupp Posipal eine innige Beziehung zu seiner Mutter. Darüber schrieb die „Banater Post“ am 15. August 1963 unter der Überschrift „Zwanzig Jahre von der Mutter getrennt“: „Nach der Kapitulation Rumäniens im Jahre 1944 hatte Mutter Posipal zwei Jahre lang nichts von ihrem Sohn gehört. 1946 kam der erste Brief und 1956 hörte Mutter Posipal zum ersten Mal wieder die Stimme ihres Jungen, dem es bei einem Spiel in Moskau geglückt war, eine telefonische Verbindung nach Rumänien herzustellen. Später gingen Briefe und Pakete von Hamburg nach Lugosch. Aber auf eine Ausreisegenehmigung zu ihrem Sohn musste Mutter Posipal jahrelang warten. Nach wiederholten Abweisungen ihrer Gesuche bekam sie im Juni endlich ihre Ausreisepapiere. Sie hatte bis dahin die Kleinstadt Lugosch, wo die Posipals seit dem 18. Jahrhundert ansässig waren, in ihrem ganzen Leben nicht verlassen. In Hamburg, wo ihr Sohn Kaufmann ist, will sie nun ein neues Leben beginnen. Jupp hat seiner Mutter den Weg dazu geebnet.“ Der Schluss dieser Geschichte stimmt nicht, wie Peer Posipal klarstellt: „Meine Oma ist nie ausgereist, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Dann hätte sich mein Vater mit Sicherheit darum gekümmert. Er hatte ein ganz enges Verhältnis zu seiner Mutter und oft Tränen in den Augen, wenn er von ihr gesprochen hat.“

Jupps Mutter war 1963 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen, ein Jahr nachdem ihr zweiter Mann in Lugosch gestorben war. Sie besuchte ihren Sohn noch zweimal in Hamburg, zuletzt 1974. „Daran kann ich mich erinnern. Damals war ich zwölf Jahre alt“, erzählte Peer Posipal. Nach jedem Besuch kehrte Jupps Mutter nach Lugosch zurück. Dort wurde ihr Grab und das ihres zweiten Ehemannes vor zehn Jahren eingeebnet.

Ich habe mehrmals über Jupp Posipal geschrieben: im „Donautal-Magazin“, in der „Gazeta Sporturilor“ (der früheren „Sportul“) in Bukarest und in meinem Buch „Tarzan, Puskás, Hansi Müller – Stelldichein donauschwäbischer Spitzensportler“. Dazu gratulierte mir der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in einem Brief, in dem er schrieb: „Ich habe die Biographien aller mir bekannten Namen mit großer Freude und mit Gewinn gelesen.“ Dazu gehörte Jupp Posipal. 

Während der Recherchen damals sprach ich mit seiner Witwe Gisela, einer netten und aufgeschlossenen Frau, die im Frühjahr 2020 mit 88 Jahren verstorben ist. Drei Jahre vorher kam sie in ein Pflegeheim in Travemünde. Die Hamburger Villa der Posipals mit zwei Wohneinheiten und einer Wohnfläche von 190 Quadratmetern im Wert von 1,4 Millionen Euro wurde verkauft.

Frau Posipal hat mir über das Verhältnis ihres Mannes zu seiner Heimatstadt erzählt: „Oft sagte er zu mir: ‚Ich muss Dir unbedingt einmal mein schönes Lugosch zeigen.‘ Nach dem Umsturz wollten wir hin. Doch dann hörten wir nur Negatives und verzichteten auf die Reise.“ Den heimatlichen Dialekt hatte Jupp nicht verlernt, ebenso wenig die rumänische Sprache. „Am liebsten hat er auf Rumänisch geflucht“, schmunzelte Peer. Wie sein Vater zum Vornamen Jupp kam, weiß er nicht. Jupp ist die rheinische Koseform für Josef. Aber Posipal lebte nicht im Rheinland, sondern in Norddeutschland.

Unerwarteter Tod

1976 und 1979 haben die Lugoscher Jupp Posipal zu ihren ersten Treffen in Deutschland eingeladen. Einmal entschuldigte er sich wegen einer Messeteilnahme, das zweite Mal wünschte er seinen Landsleuten ein frohes Wiedersehen. Er war ein ruhiger, geduldiger, stiller und gelassener Mensch, der Rummel und Personenkult mied. „Dem Geduldigen laufen die Dinge zu, dem Eiligen laufen sie davon“, lautet ein japanisches Sprichwort. 
Selbstdarstellung war ihm ein Gräuel. „Er wollte nie sein, was man heute einen Star nennt“, erzählte seine Gattin. Ob das alles eine Rolle in seinen Überlegungen gespielt haben mag, den Treffen seiner Landsleute fernzubleiben und seine Heimatstadt nie mehr zu besuchen? Die Antwort hat Posipal mit ins Grab genommen. Vor 25 Jahren, am 21. Februar 1997, starb er während einer Routineuntersuchung im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf an plötzlichem Herzversagen. Wie das Schicksal so spielt: 30 Jahre vorher war in der gleichen Klinik Reporter Herbert Zimmermann nach einem Verkehrsunfall gestorben, der das WM-Finale 1954 im Radio kommentiert hat (siehe Banater Post, Nr. 3 vom 5. Februar 2022).

Karl-Heinz Heimann, langjähriger Herausgeber des „kicker“, schrieb in seinem Nachruf: „Posipal war eine durch nichts aus der Ruhe zu bringende Spielerpersönlichkeit. Einen verlässlicheren Freund als ihn konnte man sich nicht vorstellen. Ohne viel Aufhebens hat er vielen Menschen geholfen.“

Beerdigt wurde der Hanseat aus dem Banat im Alten Friedhof in Hamburg-Niendorf. Wer sein Grab besuchen will, kann den Eingang Niendorfer Markt benutzen, Abteilung 6, Reihe 3, Grab 77-80, circa 200 Meter links an der Kirche vorbei.

Jupp Posipal war der sechste verstorbene Held von Bern. Als Letzter starb Horst Eckel am vergangenen 3. Dezember. Auch alle ungarischen Spieler aus dem legendären WM-Finale sind tot. Ewig bleiben wird das „Wunder von Bern“, zu dem ein Lugoscher beigetragen hat.

Posipal machte uns Banater Schwaben zum Weltmeister, auch diejenigen, die das vielleicht nicht wahrhaben wollen. Wir können zu Recht stolz auf unseren Landsmann sein, der die ganz große Fußballwelt erfolgreich erobert hat. „Bei den meisten Erfolgsmenschen ist der Erfolg größer als die Menschlichkeit“, meinte die britische Schriftstellerin Daphne du Maurier. Im Falle von Posipal hat sie sich geirrt.

Kommen Sie gut durch die Zeit!