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Geschichten von Grenzgängern: Tagungsband zur 56. Kulturtagung erschienen

Wie komme ich über die Grenze? Dieses Thema bestimmte das Denken und Handeln der Menschen im Banat über viele Jahrzehnte. Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland setzte eine unter dem Oberbegriff „Familienzusammenführung“ ständig wachsende Auswanderungswelle ein, deren Hintergründe und Mechanismen erst nach der Wende umfänglich aufgedeckt werden konnten. Viele Auswanderungswillige entschieden sich auch für den riskanten und gefährlichen illegalen Weg über die Grenze. Beide Wege wurden von Fluchthelfern und Trittbrettfahrern flankiert, deren genaue Zusammenhänge bis heute nicht verlässlich geklärt sind. Es lag nahe, diese unterschiedlichen Aspekte der Überwindung einer dichten und streng bewachten Grenze zum Thema der Sindelfinger Kulturtagung zu machen. Sie trug den Titel „Über die Grenze! – Auswanderung, Freikauf und Flucht der Banater Schwaben in der Zeit des Kommunismus“.

Allerdings konnte die Tagung im November 2020 wegen der Pandemie-Beschränkungen nicht wie gewohnt stattfinden. Der veranstaltende Landesverband Baden-Württemberg entschloss sich jedoch, neue Wege zu beschreiten und die Tagungsbeiträge der Referenten als Videos auf dem eigenen YouTube-Kanal zur Verfügung zu stellen. Sie fanden guten Zuspruch und sind auch heute noch abrufbar. 

Dennoch erschien nun auch der zugehörige Tagungsband, der die Referate in ausführlicher schriftlicher Form mit reichhaltigem Bildmaterial enthält. Durch die wechselnden Blickwinkel entstand eine Bestandsaufnahme der Beweggründe und auch der Auswirkungen der „banatschwäbischen Völkerwanderung“ und damit ein wichtiges Dokument der Banater Zeitgeschichte.

Mit einem Grußwort führt sich der neue Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg der Landsmannschaft der Banater Schwaben Richard S. Jäger ein, der sich auch einen „persönlicheren“ Einstand gewünscht hätte. Nach 
einer Einleitung in das Thema durch die Tagungsleiterin Halrun Reinholz bietet Hans Vastag, Kulturreferent des Landesverbandes und grenznah in Hatzfeld aufgewachsen, ein paar grundsätzliche Gedanken zum Thema „Grenze“ und verknüpft sie mit den eigenen Erfahrungen: „Immer wieder hörte man auf der Straße von geglückten, leider häufig auch von missglückten Grenzüberschreitungen. Die gestellten Grenzläufer wurden immer wieder von den Grenzsoldaten in Handschellen und Fußfesseln durch die Stadt geführt, erniedrigt, beschimpft und letzten Endes auch zu monate- oder jahrelangen Haftstrafen verurteilt.“

Ernst Meinhardt, langjähriger Journalist bei der „Deutschen Welle“, packt mit seinem Beitrag ein heißes Eisen an: Schmiergeld für die Ausreise – Für viele noch immer ein Tabuthema. Trotz umfangreicher Recherchen klaffen noch viele Lücken über die Hintergründe der „inoffiziellen“ Zahlungen an den „Gärtner“ oder sonstige dubiöse Kontaktpersonen, die der Referent soweit möglich eruiert hat. Auch aus der zeitlichen Distanz sind viele ehemalige „Opfer“ der Zwischenhändler oft nicht bereit, darüber zu sprechen. Meinhardt äußert seine Vermutungen, warum das so ist. Dagegen ist über die (auch nicht wirklich offiziellen) Zahlungen an das Ceauşescu-Regime mittlerweile einiges bekannt. Ernst Meinhardt ist einer der ersten gewesen, der Dr. Heinz Günther Hüsch nach der Freigabe der Akten zu diesem Thema befragen konnte. Auch darüber berichtet er in seinem Beitrag. 

Einen ungewöhnlichen Blickwinkel bietet Georg Herbstritt, der seit 1999 als Historiker an der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin beschäftigt ist. Anhand der Stasi-Akten beschreibt er unter der Fragestellung Ein Tor zum Westen? die Versuche von DDR-Bürgern, die rumänische Grenze zu Jugoslawien zu überwinden, weil es ihnen leichter schien, als über die innerdeutsche Grenze in die Bundesrepublik zu gelangen. Aktenkundig sind natürlich vor allem die gescheiterten Versuche und damit das weitere Schicksal der vereitelten „Republikflüchtlinge“. 

Luzian Geier, der als NBZ-Redakteur viele Informationen und einen guten Überblick über die Stimmungslage der Banater Deutschen hatte, beschreibt in seinem Beitrag Die Entwurzelung, die Familienzusammenführung und der Druck „von unten“ die vielfältigen Faktoren im Alltag, die den Wunsch der Banater Schwaben nach Grenzüberschreitung verstärkten. 

Den Abschluss macht Herbert Werner Mühlroth, der ebenfalls im grenznahen Hatzfeld aufgewachsen ist und selbst einen minutiös ausgeklügelten Fluchtplan erfolgreich durchgezogen hat. Dass die Umsetzung mit vielerlei Widrigkeiten verbunden war, beschrieb er ausführlich in seinem Buch Eine Eisenbahn in meinem Traum. Meine Flucht aus dem kommunistischen Rumänien. Als Tagungsbeitrag präsentierte er eine Lesung des Kapitels mit dem spannungsreichen Fluchtmoment, das auch in den Tagungsband aufgenommen wurde.

Die Kulturtagung in Sindelfingen ist seit vielen Jahren ein Ort des Austauschs und der Diskussion, aber auch der Begegnung und Geselligkeit. Das alles fiel bei der digitalen Tagung aus, ebenso wie das traditionelle Konzert von Franz Metz und seinen Musikern. Es wurde wie die Referate als Video aufgenommen, der Tagungsband enthält zumindest Bilder davon und das Konzertprogramm mit Werken der Banater Musik und der Klassik.

Der Tagungsband 2020 wurde wie immer an die bereits registrierten Besucher früherer Tagungen verschickt, ein Zahlschein liegt mit der Bitte zur Überweisung bei. Ansonsten kann er zum Preis von 15 Euro (zuzüglich Versandkosten) bei der Landesgeschäftsstelle Baden-Württemberg in Stuttgart bestellt werden.     

Halrun Reinholz (Hrsg.): Über die Grenze! Auswanderung, Freikauf und Flucht der Banater Schwaben im kommunistischen Rumänien. Beiträge der 56. Kulturtagung in Sindelfingen, digitale Durchführung, 28. November 2020. Stuttgart: Landsmannschaft der Banater Schwaben, Landesverband Baden-Württemberg, 2021. 79 Seiten. Bestellung telefonisch unter 0711 / 625127 (nur Donnerstag und Freitag, jeweils vormittags besetzt) oder per 
E-Mail an lmbanaterschwaben-bw@t-online.de