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Ein steinernes Zeugnis

Grabstein von Magdalena Anton aus Lenauheim, gestiftet und aufgestellt von Anton Hochstrasser (rechts im Bild) Foto aus dem Familienbesitz

Distelfeld am Ortsrand von Giurgeni, Aufnahme 2010. Foto: Dietmar Rennich

Der umgestürzte Grabstein umgeben von grasenden Lämmern Jahrzehnte später, fotografiert von Walther Konschitzky

Siebzig Jahre sind seit der Bărăgan-Deportation vergangen, doch die Ereignisse von damals sind vielen Banater Schwaben – aber nicht nur ihnen – für immer im Gedächtnis geblieben. Denn wie alle Verschleppungen war auch diese verbunden mit Not, Elend und Entbehrungen. Von leidvollen Erfahrungen und Schicksalsschlägen konnten und können viele Betroffene berichten.

Ich bin im Oktober 1954 in Răchitoasa bei Giurgeni (Kreis Ialomiţa) geboren, habe also keine konkreten Erinnerungen an diese Zeit. Aber der Name meines Geburtsortes ist so etwas wie ein emotionales Band zu dieser Gegend im Südosten Rumäniens. Und irgendwann wollte ich meinen Geburtsort aufsuchen.

Es war 1979, als ich mich im Zuge der Recherchen für meine Diplomarbeit in Bukarest aufhielt. Bedingt durch die räumliche Nähe beschloss ich spontan, „in den Bărăgan“ zu fahren. Im Zug von Bukarest via Ţăndărei – Feteşti nach Giurgeni kam ich mit zwei Frauen ins Gespräch. Sie wollten natürlich wissen, woher ich komme und was ich hier suche. Auf meine Antwort hin meinten sie – fast entschuldigend –, hier sei es aber nicht wie im Banat! Aus ihren Worten sprach Bewunderung. Für sie war das Banat wohl das „gelobte Land“!

Natürlich hatte ich nicht erwartet, einen Ort ähnlich den Banater Dörfern vorzufinden. Dass von der einstigen Siedlung aber keine Spur mehr übrig war, das hat mich dann doch enttäuscht. Allein die Staatsfarm („ferma“) stand noch. Eine resolute Frau half mir bei meiner Suche weiter, aber nicht ohne mich vorher zum Essen eingeladen zu haben. Es gab eine gute Fischsuppe und auch noch Reiseproviant. Dann zeigte sie mit dem Arm in eine Richtung und meinte nur, „dort drüben“ im Gestrüpp seien noch Überreste des einstigen Friedhofs zu finden. Auch versicherte sie mir, dass, solange es hier noch Zeitzeugen gäbe, die das Dorf Răchitoasa und seine einstigen Bewohner gekannt hatten, der Friedhof von damals – oder was davon noch übriggeblieben ist – nicht überackert werde. 

Also machte ich mich auf über das Ackerfeld zu dem Gestrüpp. Plötzlich aber blieb ich wie elektrisiert stehen. Vor meinen Füßen lag ein Grabstein – und aller Verwitterung zum Trotz konnte ich als erstes den eingravierten Schriftzug „Lenauheim“ erkennen. Da, mitten im Nirgendwo der weiten Bărăgansteppe, hatte ich ein steinernes Zeugnis sowohl meiner als auch vieler Landsleute Vergangenheit gefunden! Und es war nicht irgendein Stein, auf den ich da gestoßen war. 

Denn wieder zu Hause in Lenauheim, erzählte mir meine Mutter, daß dies der Grabstein meiner Ururgroßmutter sei: Anton Magdalena, geb. Kühlburger (1865-1954). Bei genauem Hinsehen – siehe Foto – kann man diese Angaben entziffern. Leider hatte ich damals keinen Fotoapparat dabei, konnte also meine „Entdeckung“ nicht bildlich dokumentieren. Auch hatte meine Mutter noch ein altes Foto, das das besagte Grab mit dem neu errichteten Grabstein zeigt. Daneben steht der „Stifter“, der Ehemann der Enkeltochter der Verstorbenen. Anton Hochstrasser („Bichersch-Toni“) kehrte erst Anfang der sechziger Jahre in sein Heimatdorf zurück. Er wurde später als die meisten seiner Landsleute aus der Verbannung entlassen.

Mehr als zwanzig Jahre später – ich lebte mittlerweile in der Bundesrepublik – habe ich auf der Rückseite eines Buches mit dem Titel „Deportiert in den Bărăgan 1951 – 1956“, ein Foto von „meinem“ Stein gesehen. Es handelt sich um die Dokumentation der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Bărăgan-Deportation 2001 in München. Der Fotograf Walther Konschitzky erzählte mir auf meine telefonische Nachfrage hin, dass dieses, sein Foto an einem Ostertag entstanden sei. Grasende Lämmer zur Osterzeit neben dem umgestürzten Grabstein meiner Ururgroßmutter – so viel Symbolkraft! Ich betrachtete dies als versöhnlichen Abschluss meiner Suche nach meinem Geburtsort.

Noch einmal war ich in der Gegend von Giurgeni – Răchitoasa. 2010, auf der Rückfahrt von einer Reise ins Donau-Delta, legte ich einen kurzen Stopp beim Gemeindehaus von Giurgeni ein. Diesen rumänischen Ort gab es schon vor Răchitoasa und es gibt ihn noch immer. Am „beeindruckendsten“ fanden wir hier – ich war mit einer sechsköpfigen Gruppe unterwegs – die Distelfelder am Ortsrand. Das Buch „Die Disteln des Bărăgan“ („Ciulinii Bărăganului“) von Panait Istrati habe ich mir dann auch gleich als Lektüre besorgt. Es hat zwar keinen Bezug zu meiner Geschichte, aber an die „Wanderdisteln“ kann sich bestimmt noch so mancher Verschleppte erinnern.

Was wollte ich also nochmals in Giurgeni? Nach dem Grabstein habe ich nicht mehr gesucht, ich weiß auch nicht, was aus ihm geworden ist. Vielleich hätte man ihn heben und in ein Museum bringen sollen… Dieses Mal ging es um eine organisatorische Sache. Ich wollte versuchen, in den Besitz des Todesscheines meiner Urgroßmutter Katharina Klein, geborene Stoffel (1882-1955) zu gelangen, die auch in dieser Einöde verstorben war. Zwar hatte ich wenig Hoffnung, erfolgreich in meinem Vorhaben zu sein, aber ein Versuch war es wert. Geholfen haben mir dabei einige Arbeiter, die gerade eine etwas längere Pause im Wirtshaus des Ortes eingelegt hatten. Als sie von meinem Anliegen erfuhren und ich ihnen erzählte, dass ich hier geboren sei, wollten sie sofort „Verbrüderung“ mit mir trinken. „Eşti unul de-al nostru“ (du bist ja einer von uns), sagten sie und sogleich griff einer der Männer zum Telefon und rief die Gemeindesekretärin an. Die Frau kam tatsächlich kurze Zeit später zum Amt, öffnete den Aktenschrank, zog einen „dosar“ heraus und fand sofort das von mir gewünschte Dokument. Ohne Umstände stellte sie mir einen neuen Todesschein aus. Hierzulande unvorstellbar – und das auch noch an einem Samstagnachmittag! Da sage noch einer, „da unten“ würden die Mühlen langsamer mahlen. Ja, sie mahlen anders, aber sie mahlen!

Übrigens liegt noch ein Verwandter von mir, nämlich mein Urgroßvater väterlicherseits, in der Bărăgan-Erde begraben: Mathias Rennich (1866-1951). Ich bin, wie an meinem Nachnamen unschwer zu erkennen ist, ein „halber“ Perjamoscher.

Beim Thema „Bărăgan“ geht es in diesen Tagen fast nur noch um finanzielle Angelegenheiten, ich nehme mich dabei nicht aus. Aber Geld alleine macht nicht glücklich – gerade in Zeiten von Corona wird uns das einmal mehr Art bewusst.