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Baudokumentation: von der Hütte zum Haus

Die Seiten 4 und 5 von insgesamt acht des Briefes von Johann Pierre über den Hausbau in der Deportation

Ingenieur Johann Pierre mit Krawatte und seine Frau Elsa mit ihrem fertigen Haus. Foto: Familienbesitz

Johann (Hans) Pierre zählt zweifelsfrei zu den herausragenden Persönlichkeiten der Heidegemeinde Billed und des Banater Deutschtums. Vielseitig tätig, machte er sich einen Namen als Fachmann auf dem Gebiet des Hanfanbaus und der Hanfverarbeitung, als Kommunalpolitiker und vor allem als Heimatforscher. Wilhelm Weber verdanken wir einen fundierten Beitrag über sein Leben, Wirken und Streben (erschienen im Billeder Heimatblatt 1991). 

Am 18. Januar 1886 in Billed geboren, entstammte Johann Pierre einer Bauernfamilie. Nach dem Abitur in Szeged studierte er in Budapest Chemie und arbeitete anschließend als Ingenieur in Kaschau. Im Ersten Weltkrieg diente er als Reserveoffizier in einem Telegrafenregiment und rüstete 1918 als Oberleutnant ab. Weitere berufliche Stationen waren Kézdivásárhely, Bukarest und schließlich Billed, wo er die Hanffabrik mitbegründete und einige Jahre als Direktor leitete. Von 1939 bis 1942 arbeitete er in Vaslui, wonach er nach Billed zurückkehrte und sich privat betätigte.

Als Vertreter der Deutsch-Schwäbischen Volksgemeinschaft gehörte Johann Pierre dem Temesch-Torontaler Komitatsrat und der Landwirtschaftskammer des Komitats an, zudem engagierte er sich im Schwäbischen Landwirtschaftsverein und war Mitarbeiter des Fachblattes „Banater Landwirt“. 

Besondere Verdienste erwarb sich Johann Pierre auf dem Gebiet der Heimatforschung, die er mit einigen wichtigen, neue Erkenntnisse vermittelnden Beiträgen bereicherte. Wilhelm Weber geht in seiner biografischen Skizze näher darauf ein und auch Anton Peter Petri würdigt in seinem „Biographischen Lexikon“ Pierres heimatgeschichtlichen „Aufsätze zu den Bestrebungen des Banater Deutschtums, 1849 durch Petitionen an den Kaiser politische Selbständigkeit zu erlangen“. Bei ihm macht er sogar eine Ausnahme und nennt „der Bedeutung wegen“ diese in der „Banater Deutschen Zeitung“ 1933 und 1934 erschienenen Aufsätze.

Im Juni 1951 wurde Johann Pierre zusammen mit seiner Frau Elisabeth (Elsa) in die Bărăgan-Steppe deportiert. Von dort schrieb er im Oktober des gleichen Jahres einen Brief an seine Enkel, der sich bis heute in Familienbesitz erhalten hat. Auf die näheren Umstände und den Inhalt dieses bebilderten Schreibens geht im Folgenden Johann Pierres Urenkelin Astrid Ziegler ein. Angesichts der Einzigartigkeit dieses historischen Zeugnisses veröffentlichen wir im Anschluss daran mit Zustimmung der Familie die vollständige Transkription des handschriftlichen Briefes samt beigefügten Fotos. Offensichtliche Rechtschreib-, Grammatik- und Interpunktionsfehler wurden stillschweigend korrigiert. W.T.

Vor einiger Zeit hat mir mein Vater Hans-Herbert Roman ein für unsere Familie sehr wertvolles Schreiben anvertraut. Es handelt sich dabei um den letzten Brief seines Großvaters Johann Pierre aus Billed, den er aus der Bărăgan-Tiefebene an seine drei Enkelkinder geschrieben hatte. Der Ingenieur und Heimatforscher sowie seine Frau Elsa Pierre waren wie viele andere zum Billeder Bahnhof beordert und am 21. Juni 1951 ins Nirgendwo der Bărăgan-Steppe deportiert worden. Auf meine Frage nach dem Warum, weshalb man zwei alte Menschen, schon über 60 Jahre alt, vor den Augen ihrer Enkelkinder in einen Viehwaggon steckt und ins Unbekannte bringt, zuckte mein Vater mit den Schultern. „Sie waren Großbürger und Intellektuelle, für die neuen kommunistischen Machthaber in Rumänien feindliche Elemente“. Man wollte solche „personae non gratae“, solche unerwünschten Bürger des Landes, aus der Grenzregion zu Jugoslawien, wo Tito inzwischen eine für Moskau und seine Satelliten verdächtige Politik betrieb, entfernen. Statistiken nennen über 40000 Menschen aus dem Banat – Rumänen, Deutsche, Flüchtlinge aus Bessarabien und der Bukowina, Mazedo-Rumänen, Serben, Bulgaren und andere –, die betroffen waren. Sie sollten in der Bărăgan-Steppe neue Dörfer bauen, wie es die Vorfahren der Banater Schwaben einst im Banat getan hatten. Vom Säugling bis zu den Alten wurden die Leute mit ihrer Habe in die Waggons gepfercht und auf offenem Feld ausgesetzt. Dort hausten sie in notdürftig gebauten Hütten, bis sie nach großen Anstrengungen und Kosten kleine ärmliche Häuser bauen konnten.

In dieser Situation schreibt mein Urgroßvater nun an meinen Vater. Schon auf den ersten Blick fiel mir das Außergewöhnliche an diesem Brief auf. Das achtseitige Schreiben ist bebildert und bei genauem Hinsehen erkennt man auf den schwarz-weißen Fotos die Dokumentation seines Hausbaus. Zu den Bildern, die er selbst gemacht hatte und in Galatz entwickeln ließ, liefert er die Beschreibung des jeweiligen Bauabschnittes in sauberer und leserlicher Schrift. Daraus ergibt sich sogar eine brauchbare Anleitung zum Bau eines schilfgedeckten Lehmhauses.

Da stellt sich unwillkürlich die Frage, warum tat er das? Und warum schickte er die Dokumentation des Hausbaus an die Enkelkinder und nicht etwa an die Tochter? Um die Motivation seines Schreibens zu verstehen, muss man sich nochmal die Situation beim Abschied am Billeder Bahnhof vor Augen führen. Die weinenden Enkelkinder und die verzweifelte Tochter sehen hilflos zu, wie die Alten weggebracht werden. Wir wissen das aus den Aufzeichnungen der Großmutter Elsa Pierre, die in dem Dokumentationsband „Und über uns der blaue endlose Himmel“ (München 1998) darüber schreibt: „Unsere lieben Kinder, unsere drei teuren Enkel standen hilflos vor dem Zug. Vor uns die Bajonette, das Militär, dahinter die Kinder und Enkel. Es ist einfach unbeschreiblich. Christa ist 7, Hansi 9, Franzi 11 Jahre alt. Was müssen sie mit ansehen! Wenn ich sie ansah, würgten alle drei mühsam die Tränen hinunter. Was geschah hier mit Oma und Opa? Die Kinder weinen und wir sind unschuldig, aber wehrlos.“ 

Johann Pierre versucht nun in dem Brief, für die Enkelkinder eine „Normalität“ herzustellen und sie durch die Baudokumentation zu beruhigen. Es findet sich darin kein Wort der Klage und keine Schilderung der Verzweiflung. Rationalisierung war in der Krise für ihn ein Mittel der Bewältigung. Trotz Krankheit und Alter bewährt er sich als Überlebenskünstler 100 Tage lang in der abgebildeten Hütte. Im Brief zeigt er, dass er Bauherr eines Hauses ist, dessen Entstehung er plant, koordiniert und überwacht. Voller Stolz berichtet er seinen Enkeln darüber. Auf dem letzten Bild sind meine Urgroßeltern mit dem fertigen Haus zu sehen. Johann Pierre steht aufrecht und sorgfältig mit Hemd und Krawatte gekleidet davor, seine Frau Elsa blickt aus dem Fenster. Das Tragen der Krawatte, dieses Symbols einer bürgerlichen Existenz, deren man die Deportierten ja berauben wollte, wirkt wie ein Akt des Widerstands. Er beweist Haltung und die Haltung gibt ihm Halt.

Sein letzter Brief, der gleichzeitig die erste Post war, die mein Vater bekam, hat für uns Vermächtnis-Charakter. Er ermahnt zum Schluss seine Enkel Franzi, Hänschen und Christa fleißig zu lernen und lädt sie ein, zu ihm zu Besuch zu kommen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Ihr Großvater war ein paar Monate nach dem Schreiben tot. Er verstarb ohne medizinische Versorgung wohl an einer Hepatitis, die er sich im Bărăgan unter den schlimmen Lebensbedingungen der Deportation zugezogen hatte. Sein Tod verhinderte auch die Fertigstellung der Billeder Dorfmonografie, die er so gerne vollendet hätte.

Uns bleiben heute nur der Brief und seine Botschaft, sich nicht unterkriegen zu lassen. Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, nennt man Resilienz. Die Menschen, die in den Bărăgan deportiert worden waren, waren nicht nur Opfer, sondern haben die schlimme Situation mit Würde bewältigt. Ihr Leid, aber auch ihre Tatkraft dürfen nicht vergessen werden.

Anm. d. Red.: Die Transkription des handschriftlichen Briefes von Johann Pierre samt beigefügten Fotos wird in der Druckausgabe veröffentlicht.