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Boris’ 2. Wimbledontitel und Großjetschas letzte Firmung

„Gestern war’s noch so wie früher. Und jetzt – jetzt ist’s so wie nachher. Aber ich glaub’, dass früher schöner war!“ (Franz Xaver Bogner)

Der 6. Juli 1986 ist ein Sonntag, im Christentum der wichtigste Tag der Woche. In vielen Kulturen gilt er als Tag der Sonne. Daher auch sein Name. An diesem 6. Juli strahlt die Sonne – sowohl im englischen Wimbledon als auch im 2100 Kilometer entfernten Großjetscha im Banat. Ihre warmen Strahlen streicheln die Haut der Menschen.

Wimbledon, ein Vorort von London. Hier findet an diesem Sonntag das 100. Endspiel der Herren beim ältesten und prestigeträchtigsten Tennisturnier der Welt statt. Gespielt wird auf dem Heiligen Rasen, der zu 100 Prozent mit mehrjährigem Weidelgras bepflanzt ist. Er wird auch während des Turniers regelmäßig gestutzt – auf genau acht Millimeter. Im Tennis gilt Rasen als der schnellste Belag: Die Bälle springen sehr flach ab und beschleunigen schnell. Dadurch kommt es – anders als auf Asche – kaum zu langen Ballwechseln. 

Bevor sie zu ihren Plätzen schlendern, lassen sich die Zuschauer die berühmten Erdbeeren mit Sahne schmecken. Auch hier ist alles strikt geregelt. Jede Erdbeere darf höchsten 13 Gramm wiegen. Preis für eine Portion: 2,50 Pfund. Dazu trinken die Leute aus Plastikbechern den Longdrink Pim’s Cup, ein bräunliches Gebräu aus Kräuterlikör auf Basis von Gin, mit Zitronen- und Gurkenscheiben. 

Der Centre Court pulsiert. Denn: Das Finale zwischen Boris Becker und Ivan Lendl steht bevor. Becker ist Titelverteidiger. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr gewann er als jüngster Spieler, als erster ungesetzter Teilnehmer und als erster Deutscher überhaupt sensationell den begehrtesten Tennistitel der Welt. Sie lag dem damals 17-Jährigen zu Füßen. Lendl ist Tscheche, die Nummer 1 der Weltrangliste. Er hat Wimbledon bisher nicht gewonnen, dafür Roland Garros und die US-Open. Boris ist Nummer 6 der Welt und für ihn an diesem Tag alles anders als ein Jahr zuvor: „Vor dem ersten Wimbledonfinale hatte ich mich wie ein Kind in einem gigantischen Spielzeugladen gefühlt – alles war möglich. Nun ist alles eine Art Ausnahmezustand.“ Das anstehende Finale sollte zum Prüfstein für ihn werden: War Wimbledon 1985 ein Zufall oder ist er tatsächlich ein Megatalent?

Großjetscha vibriert. Das Dorf hat sich fein herausgeputzt: blitzblanke Straßen, schmucke Häuser, festlich gekleidete Menschen. Kein Wunder, denn heute findet eines der wichtigsten religiösen Ereignisse im Dorfleben statt – die Heilige Firmung. Nach sieben Jahren ist es mal wieder soweit. Aus allen Ecken und Enden strömen die Menschen zur altehrwürdigen Kirche in der Dorfmitte. Sie beginnt sich langsam zu füllen.

In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Denn: Firmung und Finale finden fast zeitgleich statt. Ich nehme gerne an der Firmung teil. Es ist bereits die zweite in Folge, bei der ich Firmpate bin. Aber: Auch das Wimbledonfinale würde ich mir gerne im Fernsehen anschauen. Ilie Năstase und Ion Ţiriac haben mit ihren legendären Spielen im Davis Cup das Tennisfeuer in mir entfacht. Steffi Graf und Boris Becker brachten es zum Lodern. 

Das jugoslawische Fernsehen überträgt live. Ich würde das Endspiel auch ohne Kommentar verstehen, obwohl ein serbokroatisch-rumänisches Wörterbuch griffbereit auf dem Fernsehgerät liegt. Mit den Jahren habe ich gelernt, Tennisspiele zu lesen. Das verdanke ich Jürgen Dennstedt, einem der besten deutschen Tennisjournalisten aus Hamburg. Er ist seit Jahren Chefredakteur des seit 1976 in der Hansestadt erscheinenden „tennis MAGAZIN“, der führenden deutschen Fachzeitschrift. Ich schrieb den herausgebenden Top Special Verlag wegen eines Lese-exemplars an und Jürgen „erbarmte“ sich meiner. Er veranlasste, dass ich die Zeitschrift seit längerer Zeit jeden Monat kostenlos nach Großjetscha geschickt bekomme. Eine nette, kollegiale Geste. Und ein Hochglanzmagazin mit tollen Farbfotos sowie spannenden Reportagen. Ich habe sie regelrecht verschlungen und mir viele Fachbegriffe angeeignet.

Auftakt nach Maß

In Wimbledon wärmen sich Becker und Lendl auf. Sie sind in Weiß gekleidet. Das ist Pflicht, weil Tennis früher ein Sport für Gentlemen war. Von den Sportschuhen, Socken über die kurzen Hosen und Armbänder bis zu den Trikots – alles ganz in Weiß. Boris trägt Ellesse, Lendl Adidas. Der Centre Court ist mit 14400 Zuschauern rappelvoll. 

Im für Trainer und Manager reservierten Bereich sitzt Beckers Coach Günther Bosch. Der Siebenbürger Sachse aus Kronstadt setzte sich 1974 in Deutschland ab, wurde zehn Jahre später Boris’ Trainer. Hinter ihm befindet sich Manager Ion Țiriac, ebenfalls Kronstädter. Beide kennen sich von dort aus. Etwas weiter auf der Haupttribüne haben Beckers Eltern Elvira und Karl-Heinz neben DTB-Präsident Claus Stauder Platz genommen. Sie sind aus Boris’ Geburtsort Leimen bei Heidelberg angereist. Ebenfalls anwesend ist Bundespräsident Richard von Weizsäcker, neben ihm sitzt Prinz Edward, Herzog von Kent und Schirmherr des Turniers.

In Großjetscha hat sich die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Blüten des Blumenschmuckes glitzern in der Sonne. Sie verströmen einen zarten, betörenden Duft. Auf der Empore hat sich der vergrößerte Kirchenchor aus 16 Frauen und fünf Männern um die Orgel versammelt. Sie wurde 1836 von der Temeswarer Orgelbauwerkstatt Johann Josephy erbaut. Mit einem Manual und Pedal ist sie klein, aber fein. 

Aus Temeswar reist Ordinarius substitutus Sebastian Kräuter mit dem Pkw an. Der Substitutus ist ein vom Vatikan und rumänischen Staat anerkannter Ordinarius, aber für uns Großjetschaer einfach „der Bischof“, obwohl er das erst nach dem Umsturz werden sollte. Als meine Mutter 1936 gefirmt wurde, kam Bischof Augustin Pacha mit dem Zug aus Temeswar nach Gertianosch. Vom Bahnhof wurde er mit der Kuless (Kalesche) nach Großjetscha gebracht, am Dorfanfang von einer Reiterschar in Empfang genommen und bis zur Kirche begleitet. Damit alle Menschen an der Begrüßung teilnehmen konnten, fand diese im Freien vor der Kirche statt.

In Wimbledon erheben sich die Finalisten von ihren Sitzen und gehen aufs Spielfeld. Hier Becker, der vor keiner leichten Aufgabe steht. Denn: Es gilt zu beweisen, dass sein Turniersieg von vor einem Jahr keine Eintagsfliege war. Dort Lendl, wegen seiner Stärke, gepaart mit seinem unnahbaren Auftreten, „Ivan der Schreckliche“ genannt. 

14.09 Uhr. Es geht los. Aufschlag Boris. Nach sieben Minuten gewinnt er das erste Spiel, 1:0. Jeder holt seinen Aufschlag, bis Lendl das Break zum 3:2 gelingt. Rebreak Becker, 3:3. Bei eigenem Aufschlag gelingt ihm die 5:4-Führung. Lendl schlägt auf, rennt nach vorn, aber Boris’ Vorhandpeitsche ist so stark, dass Lendls Volley im Netz hängen bleibt – Break und Satzgewinn Becker, 6:4 in 40 Minuten. Auftakt nach Maß für Boris!

Zauberhafte Orgelklänge

Großjetscha, 14 Uhr. Der Ordinarius wird diesmal nicht im Freien begrüßt, sondern in der Kirche. Sein Messgewand liegt auf dem Altar, daneben stehen zwei mittelgroße Kerzen. Er betritt das randvolle Gotteshaus durch die Sakristei. Kirchenratsvorstand Hans Bosch begrüßt ihn mit warmen Worten. Heinz Götter sagt ein rührendes Gedicht auf, überreicht dem Ordinarius anschließend einen roten Blumenstrauß. Sein Vater Hans war am Vormittag eigens nach Temeswar gefahren, um ihn zu besorgen. 

Meine Gedanken fliegen 14 Jahre zurück. Damals wurde ich gefirmt und habe ebenfalls ein Gedicht aufgesagt, anschließend dem damaligen Ordinarius substitutus Konrad Kernweisz den Ring geküsst. Jetzt helfen die aus den umliegenden Dörfern angereisten Pfarrer Seiner Exzellenz Kräuter beim Anziehen des Messgewandes. Die Sonnenstrahlen tauchen die Kirche in ein flackerndes, goldenes Licht. Der Ordinarius setzt sich die Mitra auf. Die heilige Festmesse beginnt.

Wimbledon, 14.49 Uhr: Der 2. Satz startet. 1:0 Becker, Lendl gleicht aus, bis zum 3:3 holt jeder seinen Aufschlag. Neue Bälle nach 65 Minuten. Und neuer Schwung für Boris: 4:3, gefolgt vom Break zum 5:3. Aufschlag Becker zum zweiten Satzgewinn. Er pariert zwei Passierbälle, verwandelt volley zum 15:0, mit seinem 14. Ass zum 30:0, wieder ein Volley zum 40:0. Drei Satzbälle Boris! Er schlägt auf, Lendls Vorhandball landet im Aus – und Becker holt sich den 2. Satz nach 36 Minuten mit 6:3. Wer hätte nach dem schwierigen Start ins Turnier gedacht, dass die ersten beiden Sätze für Boris so glatt verlaufen werden?

In Großjetscha singt der Chor zum Beginn der Festmesse inbrünstig „Komm, oh Geist der Heiligkeit, aus des Himmels Herrlichkeit“. Edith Kafka entlockt der Orgel zauberhafte Klänge, obwohl die Organistin erst 13 Jahre alt ist. Ordinarius Kräuter hält mit bewegenden Worten eine wunderschöne Predigt. Die Gläubigen sind hingerissen. Der Chor singt „Wohin soll ich mich wenden“ aus der Deutschen Messe von Franz Schubert. Firmlinge, Eltern und Paten empfangen die heilige Kommunion. Der Weihrauch riecht balsamisch und würzig, mit einem Schuss Zitrone. Das Gemisch zwischen harzig-holzigem Weihrauch und süßem, lieblichem Blütenduft – ich atme das unvergessliche Aroma jetzt noch ein, wenn ich nur dran denke.

Die Messe dauert länger als gewöhnlich. Hochwürden Kräuter teilt den Segen aus. Der Chor singt „Großer Gott, wir loben Dich“. Alle machen sich auf den Weg nach draußen. Dort stellen sich die 87 Firmlinge aus Groß- und Kleinjetscha andächtig entlang des Pfarrhauses auf, mit dem Rücken zum Fahrweg. 

Der deutsche Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky meinte: „Das erste der zehn Gebote sollte heißen: Tue, was du predigst.“ Ordinarius Kräuter tut das. Er schreitet mit aufgesetzter Mitra die stattliche Reihe der Firmlinge würdevoll ab und spendet jedem das Sakrament der Firmung, indem er die Hand auf den Kopf des Firmlings legt und mit geweihtem Öl ein Kreuz auf dessen Stirn zeichnet. Dabei spricht er: „Sei besiegelt durch die Gabe Gottes, den Heiligen Geist.“ Der Firmling antwortet mit „Amen“. Als Zeichen der Unterstützung legen die Firmpaten und -patinnen während der Firmung ihre rechte Hand auf die rechte Schulter des Firmlings.

Dann ist die Firmung vorbei, eine von 32 des Jahres 1986 im Banat mit insgesamt 3723 Firmlingen. Für Großjetscha sollte es die letzte in der Dorfgeschichte sein.

Keine Eintagsfliege

Zelebrant Sebastian Kräuter reist nach Temeswar zurück – aber zu Ende ist das Ereignis nicht. Es müssen noch die obligatorischen Fotos gemacht werden. Obwohl ich stehe, habe ich das Gefühl, auf heißen Kohlen zu sitzen. Das Wimbledonfinale ruft! Dabei weiß ich nicht mal, ob es schon beendet ist. Endlich sind die Fotos im Kasten und ich eile nach Hause. 

Fernseher an, jugoslawisches Programm ein. Ich habe Riesenglück! Das Endspiel läuft noch. Was mich „gerettet“ hat, sind die zwei Stunden Zeitunterschied zwischen Rumänien und England. Dadurch ist die rumänische Zeit der englischen um ganze zwei Stunden voraus. Halleluja!

Um 15.26 Uhr beginnt der 3. Satz in Wimbledon, in Großjetscha ist es 17.26 Uhr. Ich drücke „Bobbele“, wie Boris genannt wird, ganz fest die Daumen. Langsam beginne ich meinen Augen nicht zu trauen und rutsche unruhig auf dem Sofa hin und her. 1:0 Lendl, der Tscheche breakt zum 2:0, gewinnt seinen Aufschlag, 3:0. Sapperlot, das hätte ich dem „Schrecklichen“ nach dem bisherigen Spielverlauf nicht zugetraut. 

Becker bäumt sich auf, gewinnt seinen Aufschlag, 1:3 nach bisher anderthalb Stunden Spielzeit. Lendl erhöht auf 4:1, Boris verkürzt auf 2:4, dann breakt er zum 3:4 und gleicht zum 4:4 aus. Alles wieder offen! Aber: Lendl gibt nicht auf, holt seinen Aufschlag, 5:4. Ich bin geschockt. Bei Aufschlag Becker hat der Tscheche gleich drei Satzbälle. Kann er das Blatt doch noch wenden? Spannung pur! 

Boris wehrt den ersten Satzball ab, den zweiten, den dritten – was für eine Moral! Er gibt kein Spiel und keinen Satz verloren und dreht das Spiel mit starken Volleys auf den zweiten Aufschlag. Nicht umsonst wird er „Bum-Bum-Boris“ genannt. Er macht seinem Namen alle Ehre und gleicht mit zwei krachenden Aufschlagassen aus: bum, bum, 5:5! Becker weiß: „Jetzt fällt er.“ Und der „Schreckliche“ fällt. Platzierter Rückhandschlag, Break und 6:5 für Boris. 

Um 16.08 Uhr schlägt der Deutsche zu seinem zweiten Wimbledonsieg auf. Ich feuere ihn an, als ob das was bringen würde. Lendl führt 30:15. Dann der absolute Höhepunkt. Ein Netzroller des Tschechen landet in Beckers Hälfte. Normalerweise ist so ein Ball unerreichbar. Nicht so für Boris. Er hechtet nach vorne, gerät ins Straucheln, erwischt den Ball im Fallen und schlägt ihn übers Netz – 30:30. Genial! Becker punktet zum 40:30. Puh, war das anstrengend! Vater Karl-Heinz bläst auf der Tribüne die Backen auf. 

Zweiter Aufschlag Boris, Lendl retourniert ins Netz – aus, aus, aus!! Becker gewinnt den 3. Satz mit 7:5 und das Match nach zwei Stunden und drei Minuten mit 6:4, 6:3, 7:5. Um 16.12 Uhr ist alles vorbei. Boris reißt die Arme hoch. „Ich schwebe auf Wolken, bin ungeheuer erleichtert“, wird er später sagen. 

Țiriac springt auf, haut Bosch mit der rechten Hand auf die rechte Schulter. Beckers Eltern jubeln und strahlen übers ganze Gesicht. Bundespräsident von Weizsäcker applaudiert begeistert. Und ich jubiliere im Wohnzimmer so laut wie 1974, als Deutschland in München Fußball-Weltmeister wurde. 

Boris kann sein Glück kaum fassen. Vor Aufregung fällt ihm bei der Siegerehrung der Deckel vom heißbegehrten Pokal auf den Rasen. Als Siegprämie erhält er 140000 Pfund. Lendl sollte Wimbledon nie gewinnen.

Durch den Triumph von 1986 ist Boris Becker vom Jungen zum Erwachsenen geworden. Er hat damit das Tor zur Zukunft aufgestoßen und konnte sich jetzt vertrauen: „Der Wimbledongewinn 1986 war der wichtigste Sieg meiner Karriere. 1985 hatte ich nicht gewusst, was ich tat, ein Jahr später wusste ich es genau. 1985 hatte ich mich gefreut, dass das Match losging. 1986 war ich froh, als es vorbei war.“ In der Nacht vor dem Endspiel hat er vom Sieg geträumt wie bereits ein Jahr zuvor. 
Becker: „Ich war überzeugt von meinem Triumph.“

Das war auch Ion Țiriac. Er nahm Boris Becker 1983 unter seine Fittiche, weil er ihm schon mit 16 Jahren imponierte: „Becker konnte sich nicht gut bewegen, hatte aber eine unglaubliche Willenskraft. Blutige Knie, blutige Ellenbogen, sprang über den Platz, war überall. Schlug den Ball härter als alle, die ich bisher gesehen habe“. Țiriac wurde sein Manager und drillte Boris zur Disziplin. Als er ihn mit Alkohol erwischt, nimmt Țiriac das Glas, beißt rein und kaut die Scherben. „Ich habe ihm gesagt: Gib mir was zurück. Dann gebe ich dir alles, was ich habe“, so Țiriac.

Und Becker hat zurückgegeben: „Țiriac brachte mir das große Leben bei“. In jedem Satz klingt durch, welche Überfigur Ion Țiriac für ihn war. Das gilt auch für seinen Trainer. „Er war meine Mutter, hat Tag und Nacht auf mich aufgepasst“, sagte Boris über Günther Bosch, den er liebevoll „Güntzi“ nannte. Und der erwiderte das Kompliment: „Es hat außer Becker nie einen mit diesem unglaublichen Willen, dieser Leidensfähigkeit und dieser grenzenlosen Liebe zum Spiel gegeben. Ich weiß, was ich für seinen Erfolg geleistet habe. Darauf bin ich stolz.“

Schnee auf Rosen

Aber: Was hat Boris Becker eigentlich mit Großjetscha zu tun? Auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten umso mehr. Doch nicht nur mit Großjetscha, sondern auch mit Jahrmarkt, Lenauheim, Temeswar, dem Banat und darüber hinaus. Denn: Wie viele von uns ist Becker ein Vertriebenenkind, seine Mutter eine Sudetendeutsche. Geboren wurde sie am 1. Juni 1935 als Elvira Pisch in Kunewald bei Neutitschein im Kuhländchen. Dort in der Region Mähren-Schlesien besaß die Familie einen großen Bauernhof. 

Elvira Pisch gehörte zu den drei Millionen Sudetendeutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Das bei der Flucht zehn Jahre alte Mädchen verschlug es über Umwege ins Badische nach Leimen. Dort lernte Elvira später den gleichaltrigen Karl-Heinz Becker kennen und lieben, einen gebürtigen Leimener. 1960 heirateten sie, später kamen die Kinder Sabine (1963) und Boris (1967) zur Welt. Karl-Heinz Becker verstarb 1999 im Alter von 64 Jahren. Witwe Elvira lebt nach wie vor in Leimen, wo sie der Ortsgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft angehört und 2017 für 65 Jahre Mitgliedschaft geehrt wurde. Sie ist rüstig und geht regelmäßig zum Einkaufen.

Ihr Ehemann war 33 Jahre lang ein angesehener Architekt in Leimen, wo er das Tennisleistungszentrum entworfen hat, in dem Boris seine ersten Tennisschritte machte. Genauso wie sein Sohn war Karl-Heinz Becker ein begeisterter Sportler. Als Schwimmer schaffte er es mit dem örtlichen SK Neptun bis in die deutsche Jugendauswahl und mit den Neptun-Wasserballern wurde er mehrmals Deutscher Meister. Becker senior saß 17 Jahre für die CDU im Gemeinderat. Ein sozial engagierter Mensch. Deshalb war er sich angesichts der Vertreibungsgeschichte seiner Ehefrau nicht zu schade, im Übergangswohnheim für Aussiedler in Leimen den Weihnachtsmann zu spielen und dabei auch banatschwäbische Kinder zu bescheren, die nach der Auswanderung in den neunziger Jahren mit ihren Familien dort gewohnt haben.

Der Vertreibungshintergrund von Boris Beckers Mutter ist in Deutschland so gut wie unbekannt. Er selbst spricht nicht darüber. Eine Ausnahme war Ende des vergangenen Jahres, als in den Medien bekannt wurde, dass Boris sich wegen der Covid-19-Pandemie um seine damals 85-jährige Mama sorgte. Sie sagte ihm: „Junge, ich habe den Zweiten Weltkrieg überlebt, bin Flüchtling, so ein Virus wird mich nicht umhauen.“

Übrigens: Auch der ehemalige Weltranglistenerste und Mannschaftsweltmeister im Golfen Bernhard Langer ist sudetendeutscher Abstammung genauso wie Tennisspielerin Sylvia Hanika, die 1982 als erste Deutsche das Masters der weltbesten Spielerinnen gewonnen hat.

In drei Wochen werden es 35 Jahre seit dem 2. Wimbledonsieg von Boris Becker und der letzten Firmung in Großjetscha. Viele der Beteiligten leben nicht mehr: der Vater von Boris Becker, Jürgen Dennstedt vom „tennis MAGAZIN“, der 2002 mit 53 nach kurzer schwerer Krankheit starb, Bischof Sebastian Kräuter, Kirchenpräses Hans Bosch, meine Eltern, die an mehreren Firmungen im Kirchenchor gesungen haben und andere. Sollten sie sich im Himmel treffen, können die einen über Wimbledon und die anderen über die Firmung in Großjetscha reden. Wenn sie dabei auf ihr Dorf schauen, werden sie vielleicht noch ein Dutzend Landsleute von einstmals über 3500 sehen. Eine fremde, unbekannte, kalte Welt. So als wenn Schnee auf Rosen fällt. Es war einmal – und kehrt nie wieder. 

Der irische Schriftsteller C.S. Lewis sagte: „Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang verändern. Aber du kannst starten, wo du bist und das Ende verändern.“ Wenigstens etwas Trost und ein kleiner Lichtblick an dunklen Banater Tagen...

Kommen Sie gut durch die Zeit!