Vor 70 Jahren, am orthodoxen Pfingstfest 1951, verschleppte das kommunistische Rumänien mehr als 40000 Menschen aus den an Jugoslawien grenzenden Gebieten in die Bărăgansteppe, wo die meisten fünf Jahre lang festgehalten wurden. Von den Dörfern, die die Deportierten gründeten, wurden die meisten in den 1960er Jahren wieder dem Erdboden gleichgemacht, weil nichts an das kommunistische Unrecht erinnern sollte. Fundata im Kreis Ialomiţa gehört zu den wenigen Dörfern, die es auch heute noch gibt. 2001 wurde dort am Ortseingang ein Denkmal für die fast 12800 Familien errichtet, die im Bărăgan unter größten Entbehrungen leben mussten.
Hilde Ortmann, geborene Kleitsch, die jetzt in Berlin in einem Pflegeheim lebt, war noch ein Kind, als sie zusammen mit ihren Familienangehörigen aus Warjasch nach Fundata verschleppt wurde. In einem Gespräch mit Ernst Meinhardt berichtet sie über ihre Zeit im Bărăgan. Das am 20. Mai 2011 aufgezeichnete Interview wird jetzt in der „Banater Post“ erstveröffentlicht.
Am 18. Juni 1951 hat im kommunistischen Rumänien eine große Deportationswelle begonnen. Zehntausende Menschen, darunter sehr viele Banater Schwaben, wurden in die Bărăgansteppe deportiert. Sie und Ihre Familienangehörigen gehörten dazu. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Ich war damals zwölf Jahre alt. Schon die Tage davor machten Gerüchte die Runde. Die Erwachsenen waren sehr aufgeregt. Meine Mutter hatte für meinen Bruder und mich Rucksäcke gepackt mit der nötigsten Kleidung. Mein Vater war nicht bei uns. Er war aus seiner Kriegsgefangenschaft in die DDR entlassen worden. Meine Mutter, ihre Schwiegermutter, mein achtjähriger Bruder und ich, wir waren die betroffene Familie. Mein Opa mütterlicherseits hätte in Temeswar bleiben können. Er war dort bei der Genossenschaft Agraria beschäftigt, hatte gute Freunde und wusste, dass da etwas im Gange war. Er wollte aber nicht seine Tochter und die Mutter meines Vaters allein in den Bărăgan gehen lassen. Er ist dann mit uns mitgegangen.
Wir waren überrascht, dass wir mehr als nur Rucksäcke mitnehmen konnten. Wir durften Möbel und Hausratgegenstände mitnehmen. Auch zwei Betten hatten wir dabei. In einem sollten mein Opa und mein Bruder schlafen, in dem anderen meine Mutter und ich. Das blieb die ganzen fünf Jahre so. Die Oma, also die Mutter meines Vaters, musste leider in der Küche auf einer Liege schlafen. Die Küche war schlecht beheizt. Wir hatten in dem Häuschen, das wir im Bărăgan bauen mussten, nur einen Ofen. Außerdem war ein kleiner Herd drin.
Die Häuser mussten im ersten Sommer aufgestellt werden. Es wurde angesagt, wir sollten uns beeilen, damit die Häuser bis zum Wintereinbruch fertig sind. Bis unser Haus fertig war, wohnten wir in einer Hütte, die wir aus Schilf bauten. „Colibă“ sagten die Rumänen dazu. Das Schilf für die Hütte mussten wir uns an einem See schneiden, dem Schiauca-See.
Wie hieß Ihr Dorf im Bărăgan?
Ursprünglich hieß es Fundata. Später wurde es Perieţi angeschlossen. Das war das alte Dorf, in dem die Einheimischen wohnten.
Wie sah Fundata aus, als Sie ankamen?
Wir wurden auf offenem Feld ausgesetzt. Es war nur Feld da, es stand kein Haus da, es war sehr heiß und es gab schlimme Sandstürme. Es war wie Wüste.
Führte ein Eisenbahngleis nach Fundata?
Nein. Wir sind an der alten Bahnstation von Perieţi mit unseren Waggons angekommen. Dort mussten wir die Waggons ausladen. Die Einwohner des alten Dorfs hatten großes Mitleid mit uns. Mit ihren Pferde-wagen brachten sie unsere Sachen auf das Feld. Jeder Familie war ein Platz zugewiesen worden.
Wie weit war es mit dem Pferdewagen von Perieţi bis Fundata?
Vom Dorf Perieţi bis Fundata könnten es sechs bis sieben Kilometer gewesen sein. Die Bahnstation lag irgendwo dazwischen, also zwischen dem alten Dorf und dem neuen, das wir anlegen mussten.
Sie sagten, in Fundata wurde jeder Familie ein Grundstück zugewiesen. Wie groß war es?
Das weiß ich nicht mehr. Auf dem Grundstück musste das Haus errichtet werden. Und dann gab es noch etwas Platz für einen Hausgarten.
Erhielten Sie Baumaterial?
Ja, da wurde etwas bereitgestellt. Beim Bauen haben wir uns familienweise zusammengetan. Wir Kinder mussten tüchtig mithelfen. Wichtig war, dass man in der Familie Handwerker hatte. Wir hatten keinen. Mein Opa war kein Handwerker. Wir hatten aber Glück, dass auch sein Bruder und dessen Familie in den Bărăgan verschleppt wurde. Dieser Bruder war Tischler, auch einer seiner Söhne war handwerklich geschickt. Sie halfen uns. Um das Haus zu bauen, mussten wir erst Ziegel herstellen. Brennen konnte man sie nicht, sie wurden getrocknet. Es war sehr heiß im Sommer. Die Ziegel wurden aus Lehm und Spreu hergestellt. Dieses Gemisch wurde dann in eine Holzform gegossen und zum Trocknen in der Sonne aufgestapelt.
Wo kamen Lehm und Spreu her?
Vor dem Schiauca-See waren Lehmkuhlen. Von dort mussten wir uns den Lehm holen. Spreu konnte man sich, glaube ich, von einem Platz mitten im Dorf abholen. Nachdem wir die Ziegel gegossen und zum Trocknen gestapelt hatten, kam ein Platzregen, der alles wegschwemmte. Wir konnten keinen einzigen Ziegel mehr verwenden. Dann mussten wir wieder von vorne anfangen. Weil die Zeit knapp wurde, hieß es, jetzt können wir die Häuser nur noch aus Lehm aufstampfen. Da wurden dann Bretter geschalt. Hinein kamen Lehm und Spreu und Wasser. Das wurde dann von den Männern mit Stampfern schichtweise gestampft. Unser Haus war ungefähr zwei Meter hoch.
Wo kam das Material für das Dach her?
Das Holz für die Zwischendecke wurde gestellt. Das heißt, es wurde mitten im Dorf, vor dem Gebäude des Gemeinderats aufgebaut. Dort konnte man es sich abholen. Das Dach wurde mit Schilf gedeckt. Die Leute holten es aus dem Schiauca-See, aber auch aus einem See im Nachbarort. Sie mussten das Schilf erst schneiden. Dann wurde es getrocknet.
Wie groß war Ihr Haus?
Wir hätten eigentlich ein großes Haus bauen sollen, weil wir drei Familien waren: meine Mutter, mein Bruder und ich; meine Oma, die mit uns in den Bărăgan verschleppt wurde – sie war die Mutter meines Vaters; und mein Opa, der mit uns mitging – er war der Vater meiner Mutter. Das große Haus hätte zwar auch nur drei Räume gehabt. Wegen des Regengusses, über den wir vorhin sprachen, hatten wir aber keine Möglichkeit mehr, ein großes Haus zu bauen. Stattdessen bauten wir ein kleines. In der Küche schlief meine Oma. Von der Küche ging es in einen anderen Raum. Dieser war vielleicht vier mal fünf Meter groß. Das war unser Wohn- und Schlafzimmer. Mein Opa, meine Mutter, mein Bruder und ich, wir schliefen in diesem Raum. Wir hatten nur diese zwei Räume. Einen Fußboden aus Brettern gab es in keinem Raum. Die Erde war unser Fußboden.
Anfangs spielte sich das Leben hauptsächlich am Schiauca-See ab. Da wuschen wir uns. Die Leute wuschen hier auch ihre Wäsche. Sonst war ja nichts da.
Wo kam das Trinkwasser her?
Trinkwasser holten wir vom Bahnhof. Das Wasser, das wir in Fundata hatten, konnte man nicht trinken. Es war sehr salzhaltig. Im Notfall konnte man damit kochen.
Wovon lebten die Leute?
Wir konnten uns für die erste Zeit von zu Hause, aus Warjasch, einiges mitnehmen. Wir hatten ja einen Waggon für uns. Da waren die Möbel drin. Da waren aber auch paar Säcke Mehl drin, halt das, was man brauchte. Später wurde in Fundata ein Geschäft eröffnet, in dem man das Nötigste kaufen konnte. Da war aber wirklich nur das Nötigste zu haben.
Wo sind Sie im Banat in Ihren Deportationszug eingestiegen?
In Warjasch am Bahnhof. Die Serben und die Rumänen mussten uns mit ihren Fuhrwerken zum Bahnhof fahren. Die Sachen, die wir mitnehmen durften, wurden in die Waggons geladen. Außer Möbeln haben wir Geschirr, Kleidung und einen Küchenherd mitgenommen, außerdem sehr viel Brot. Vieh haben wir nicht mitgenommen, auch keinen Pferdewagen.
Als Sie an jenem 18. Juni 1951 in Ihren Waggon einstiegen, wussten Sie, wohin es geht?
Nein. Wir haben es nicht gewusst. Wir hatten Angst, dass wir nach Russland verschleppt werden.
Sie sagten, dass Serben und Rumänen Ihre Sachen zum Bahnhof fahren mussten. Heißt das, dass aus Warjasch nur Deutsche verschleppt wurden?
Ja, fast nur Deutsche. Vielleicht waren auch ein paar Serben und ein paar Ungarn dabei. Wir, also meine Familie, wir galten ja als „chiaburi“, also als „Großgrundbesitzer“. Unser Haus in Warjasch haben wir schon vorher aufgeben müssen, weil es mitten im Dorf lag. Es wurde für die Kollektivwirtschaft beschlagnahmt.
Die anderen Warjascher, die in den Bărăgan mussten, waren auch sie sogenannte „Großgrundbesitzer“?
Nicht alle. Es waren auch Leute dabei, die gar nicht viel Feld besaßen. Wer wegmusste, darüber wurde im „Sfat“, also im Gemeinderat, bestimmt.
Gab es auch Deutsche, die in Warjasch bleiben durften?
Mehr als gehen mussten.
Hatte Ihre Familie wirklich so viel Feld, dass das unter den Begriff „Großgrundbesitz“ fiel?
Wie viel Feld wir hatten, weiß ich nicht mehr. Aber wir waren keine „Großgrundbesitzer“. Wir hatten bloß unser Haus mitten im Dorf. Und das hatte sich die Kollektivwirtschaft schon angeeignet. Ich glaube, das war der Grund für unsere Verschleppung.
Welche Erinnerung haben Sie an die Fahrt mit dem Zug? Wie lange hat die Fahrt gedauert?
Ich weiß noch, dass es unendlich lange ging. Wie viele Tage und Nächte die Fahrt dauerte, weiß ich nicht mehr. Wir haben zwischendrin immer wieder irgendwo gehalten.
Wovon haben die Leute in Fundata gelebt? Konnten sie irgendwo arbeiten gehen?
Die Männer konnten ab einem bestimmten Zeitpunkt im Nachbarort in einer „ferma“, also einer Farm, arbeiten. Später arbeiteten sie auch weiter weg. Anfangs durften sie nur in einem Umkreis von 15 Kilometern arbeiten. Innerhalb dieser 15 Kilometer war auch Slobozia. Das war die Kreisstadt.
Sie waren damals zwölf Jahre alt, also noch ein Kind. Wo gingen Sie zur Schule?
In Fundata haben sie eine Schule gebaut, eigentlich war es nur eine Baracke. Da hatten wir Lehrer, die zum größten Teil selbst Deportierte waren. Einige waren sogar Hochschullehrer. Nur der Schuldirektor war ein Einheimischer. Unsere Lehrer haben uns Wissen vermittelt, wie wir es zu Hause in Warjasch vielleicht gar nicht bekommen hätten. Diese Schule habe ich besucht. Bis zur fünften Klasse war ich in Warjasch in der Schule, ab der sechsten Klasse in Fundata. Damals waren in Rumänien sieben Klassen Pflicht. Ab der achten bis zur zehnten Klasse ging dann das Lyzeum. Das war aber schon in Slobozia. Dort konnte man mit dem Zug hinfahren. Die Züge sind nicht sehr oft gefahren, aber sie fuhren.
Was war Unterrichtssprache?
Ausschließlich Rumänisch. In deutscher Sprache wurde nicht unterrichtet. Als Fremdsprache lernten wir Russisch. Auf dem Lyzeum bestand die Möglichkeit des Fernunterrichts. Das heißt, wir mussten zu Hause lernen und zur Prüfung nach Slobozia fahren. Im ersten Jahr schaffte ich die Prüfung noch mit „gut“, im zweiten Jahr nicht mehr. Das war nervlich bedingt, weil bei uns zu Hause alles schieflief. Meine Mutter ist im Bărăgan schwer nervenkrank geworden. Meine Oma war schwer zuckerkrank und hatte keine Medikamente. Mein Opa war der Einzige, an den wir uns halten konnten.
Wohin ging man, wenn man krank war?
Es wurde ein „dispensar“ gebaut, also eine Poliklinik. Dort arbeitete ein Arzt aus unserem Dorf, Warjasch. Wenn jemand ernsthaft krank wurde, war es sehr schwierig. Da musste er nach Slobozia gelangen, oder noch weiter weg. Meine Oma ist im Bărăgan im Alter von 60 Jahren gestorben, weil sie Zucker hatte und nicht richtig versorgt werden konnte. Sie wurde auch dort begraben. Meine Mutter ist schwer nervenkrank aus dem Bărăgan zurückgekommen. Davon hat sie sich nie mehr erholt. Mit 70 Jahren ist sie gestorben. Im Bărăgan erhielt sie keine Behandlung und keine Medikamente. Sie litt darunter, dass sie ihren Mann nicht an ihrer Seite hatte. Unser Halt war mein Opa. Er hat sich für uns geopfert.
Gab es in Fundata eine Kirche?
Eine Kirche gab es nicht. Es gab hinter der Schule einen Raum für Gottesdienste. Das hat sich aber alles erst im Laufe der Monate und Jahre entwickelt. In unserem Ort Fundata lebten, abgesehen von uns Deutschen, noch Ungarn, Serben und Rumänen. Wir hatten einen jungen Mann, der in diesem Raum katholischen Gottesdienst abhalten durfte. Er war Ungar und sprach nicht so gut Deutsch, aber Gottesdienst hielt er, wenn ich mich richtig erinnere, in deutscher Sprache. Auch er war ein Deportierter.
Wann durften Sie wieder nach Hause ins Banat fahren durften?
Das war wenige Tage vor Weihnachten 1955. Auch zurück fuhren wir wieder in einem Viehwaggon. Wir nahmen alles mit, was wir noch hatten. In den fünf Jahren im Bărăgan ist ja vieles kaputt gegangen. Viel hatten wir schon ganz zu Beginn durch den Regenguss verloren, über den wir bereits sprachen.
Als Sie dann nach Warjasch zurückkamen …
… saß die Kollektivwirtschaft noch immer in unserem Haus. Unser Haus, das mitten im Dorf gegenüber der Kirche lag, hatten sie uns schon 1949 oder noch früher weggenommen. Nach unserer Rückkehr aus dem Bărăgan wohnten wir dann im Elternhaus meiner Mutter. Da blieben wir aber nur bis 1957. Dann durften wir in die DDR zu meinem Vater ausreisen: meine Mutter, mein Bruder, mein Opa und ich. Mein Vater wohnte damals in Erkner bei Berlin. Schon im Bărăgan war ich an Lymphdrüsen-Tuberkolose erkrankt. Diese Krankheit wurde aber erst in der DDR entdeckt und behandelt.
Konnten Sie die Schule nach Ihrer Rückkehr aus dem Bărăgan in Warjasch fortsetzen?
Ich hätte sie fortsetzen können. Aber ich hatte nicht mehr die Nerven dazu. Ich habe aber nach unserer Ausreise in der DDR eine Ausbildung zum Reisebüro-Kaufmann gemacht, weil ich Sprachen konnte und mir das lag. Dann bin ich umgesattelt in die Medizin und wurde Apotheken-Facharbeiterin, später Medizinisch-Technische Assistentin.
Wann hat Ihre Mutter ihren Ausreiseantrag in die DDR gestellt?
Den ersten Antrag hat sie noch im Bărăgan gestellt. Er wurde aber abgelehnt. Als wir wieder im Banat waren, wollte sie gar keinen weiteren Ausreiseantrag mehr stellen, weil sie nervlich so fertig war. Da hat mein Opa aber auf sie eingeredet. Er sagte: „Dein Leben ist verpfuscht. Unseres auch. Aber denk‘ an deine Kinder.“
Sie sagten, dass Ihr Vater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in die DDR kam.
Er ist ganz spät aus der Gefangenschaft entlassen worden. Ich glaube, es war 1949.
Wieso in die DDR?
Damals sind die Gefangenen von den Russen nicht nach Rumänien entlassen worden, sondern in die DDR. Mein Vater hat uns dann 1957 zu sich geholt. Mit uns, also meiner Mutter, meinem Bruder und mir, durfte auch mein Opa in die DDR ausreisen. Er ist aber nicht in der DDR geblieben, sondern zu seinem Bruder nach Westdeutschland gegangen.
Waren Sie später noch einmal in Fundata, um sich anzusehen, was aus dem Dorf geworden ist?
Nein, ich bin ja 1957 in die DDR gekommen, und dann war das schlimme Kapitel Bărăgan für mich abgeschlossen. Gott sei Dank.