Die Heimkehr meiner Mutter Eva Müller aus der Russlandverschleppung im Juni 1948 ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Mein Vater war 1947 aus französischer Gefangenschaft nach Kupferzell entlassen worden und konnte wegen des Eisernen Vorhangs nicht mehr in die alte Heimat zurückkehren. Auch zwei Bilder vom Januar 1945 haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Auf dem einen Bild sehe ich, wie meine Mutter, flankiert von einem bewaffneten russischen Soldaten und einem rumänischen Gendarm, zur Sammelstelle in der Traunauer Schule abgeführt wird. Meine Großmutter und ich folgten diesem Trauerzug in einigem Abstand. Tagelang war davor nach meiner Mutter gesucht worden. Sie stand nämlich auf der Liste der zur Deportation vorgesehenen Personen und hatte sich gut versteckt. Trotz intensiven Suchens konnte sie nicht ausfindig gemacht werden. Den Häschern wurde dieses Versteckspiel zu viel und sie drohten, meinen Großvater anstatt meiner Mutter mitzunehmen. Daraufhin gab meine Mutter auf und stellte sich. Die Folgen waren dreieinhalb Jahre in russischen Zwangsarbeitslagern bei äußerst mangelhafter Ernährung, harter Arbeit und widrigen Lebensbedingungen.
Auf dem zweiten Bild, das sich mir eingeprägt hat, hebt mich meine Großmutter am Fenster der Dorfschule hoch und ermöglicht so meiner Mutter, mich in die Arme zu nehmen. Selbstverständlich konnte ich die Tragweite dieser Verabschiedung nicht begreifen. Ich war damals knapp viereinhalb Jahre alt. Ich erinnere mich wie heute daran, dass meine Mutter weinte und deshalb auch mir die Tränen kamen. Mein Großvater brachte ihr noch eine warme Decke, Kleider, Rauchfleisch von der letzten Schweineschlacht und einen frisch gebackenen Laib Brot. Durch das offene Fenster reichte er ihr diese lebens- und überlebensnotwendigen Sachen.
Im Juni 1948 ging meine Großmutter mit mir und noch weiteren Großmüttern und Kindern zum fünf Kilometer entfernten Guttenbrunner Bahnhof. Uns Kindern hatte man gesagt, dass unsere Mütter aus Russland heimkehren würden. Als der Zug sich dem Bahnhof langsam näherte, hieß es: „Rasch der Größe nach in einer Reihe aufstellen!“ Ich erinnere mich noch, dass Josef (Jahrgang 1935), Emma (1935) und Michl (1936) die größten waren. Dann folgten Franz B. (1937), Franz J., ich und Albert Z. (alle Jahrgang 1940), Werner P. (1942) und Erna B. (1943). Die Spannung wuchs, als der Zug anhielt. Wir alle hofften, dass unsere Mütter, deren Heimkehr wir herbeisehnten, aussteigen und uns, ihre Kinder, erkennen würden. Als jedoch niemand ausstieg, war die Enttäuschung groß. Sie hätten wahrscheinlich diesen Zug verpasst, hieß es. Auch im nächsten Zug waren unsere Mütter nicht dabei, und wir gingen wieder die fünf Kilometer zu Fuß nach Hause.
Es war an einem Sonntag, als mein elf Jahre älterer Pate, mein zweiter Cousin und unser Nachbar mich von der Kirche abholten. Mein Pate musste den Weg von unserem Haus in der Maroschgasse bis zur Kirche zweimal zurücklegen, da er mich beim ersten Mal nicht erreichen konnte. Ich ministrierte nämlich und stand am Altar.
Als das Hochamt zu Ende war, holte er mich gleich an der Sakristei ab, und wir liefen so schnell es ging nach Hause. Es war warm und die Tür zum Kellerzimmer stand offen. In den zwei vorderen Zimmern hauste ein Kolonist. Als ich in der Tür stand, sprang eine mir fremde Frau vom Stuhl, nahm mich in die Arme und sagte unter Tränen: „Groß bischt waar, mei Bu!“ Diese Begrüßung wirkte auf mich befremdlich. Ich war eingeschüchtert und wollte mich sogleich von ihr entfernen. Doch sie hielt mich auf ihrem Schoß fest und fragte mich: „Freischt du dich aa, mei Kind?“ Ich brachte kein einziges Wort heraus. Sie aber küsste mich immer wieder auf die Wangen und drückte mich fest an sich. Das erhöhte mein Unbehagen noch mehr. In den folgenden Tagen bemühte sich diese Frau sehr, um meine Zutraulichkeit zu gewinnen, und ich verstand allmählich, dass es meine Mutter ist, dass sie zu unserer Familie gehört.
Es war eine schwere, entbehrungsreiche Zeit. Um das tägliche Brot für ein ganzes Jahr zu sichern – es waren nun vier Personen satt zu bekommen – suchte sich meine Mutter für die bevorstehende Getreidedruschzeit eine „Drescherpartie“. Sie war noch keinen Monat zuhause, als sie mit dieser äußerst schweren Arbeit begann. Sie tat es aber, um das Brot für die ganze Familie zu verdienen. Die Entlohnung dieser Arbeit erfolgte in Naturalien und richtete sich nach der Menge des gedroschenen Getreides. Die Drescher verdienten damals gut. Während ihrer Russlandverschleppung hatte meine Mutter gelobt, den ersten selbstgebackenen Laib Brot, sobald er aus dem Backofen geholt wird, zu küssen und sich von der warmen, knusprigen Kruste ein Stückchen abzuschneiden und zu essen. Sie tat dies nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und sie achtete stets darauf, dass ja kein Stückchen Brot weggeschmissen wird.
Das Befremden meiner Mutter gegenüber legte sich nach und nach und ich wurde immer zutraulicher. Eine Hemmschwelle konnte ich dennoch nicht überschreiten. Ich brachte nämlich das Wort „Mutter“ nicht über meine Lippen. Alle in der Familie redeten auf mich ein, doch es war vergeblich. Ich konnte mich nicht überwinden, das Wort „Mutter“ auszusprechen. Das änderte sich erst, als mich mein Taufpate, dem ich sehr nahe stand, eines Tages in die Mangel nahm. Auch er redete mir zu und drohte schließlich: „Wenn du heute in meiner Anwesenheit zu deiner Mutter nicht Mutter sagst, bekommst du eine Ohrfeige so groß wie ein Graskorb.“ Das wirkte. Ich wollte einerseits meinen Paten und Freund nicht verärgern und andererseits auch die Ohrfeige nicht riskieren.
Am Abend jenes Tages, als meine Mutter von der Arbeit zu Hause war, sprach ich sie in Anwesenheit meines Paten zum ersten Mal mit „Mutter“ an. Alle freuten sich, aber meine Mutter am allermeisten.