„Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt.“ (Oscar Wilde)
Wie bitte? Was soll der Unsinn? Lügen haben doch keine langen Beine, wird so mancher denken. Gemach, gemach. Natürlich kenne ich das Sprichwort mit den kurzen Beinen. Es gibt sogar eine US-Filmkomödie aus dem Jahr 2002, die so heißt. Aber glauben Sie mir: Manchmal haben Lüge lange Beine. Ganz lange sogar! Dabei meine ich nicht die gleichnamige US-Romanze „Lügen haben lange Beine“ von 1996 mit den Hollywood-Stars Uma Thurman und Oscarpreisträger Jamie Foxx. Nein, nein. Obwohl ich damit nicht mal so falsch liege. Weil das Thema meiner heutigen Kolumne reif für einen Film ist. Sein Titel: „Duckadam, der Ceauşes-cu-Clan und die Securitate-Schergen“. Ein Thriller der besonderen Art!
Bestimmt erinnern Sie sich an unseren Landsmann Helmut Duckadam. Den langen Kerl mit dem markanten Schnauzer aus Semlak. Ein Bär von einem Mann. Mit Armen wie Tentakel. Die die Bälle magisch festhielten. Wie anno 1986. Damals parierte der Torhüter im Europapokalfinale in Sevilla gleich vier Elfmeter gegen den ruhmreichen FC Barcelona. Vier Elfmeter! So etwas hatte die Fußballwelt bis dahin noch nie gesehen.
A star is born – so heißt ein Musikfilm von vor drei Jahren mit Bradley Cooper und Lady Gaga. Ein Stern geboren wurde damals auch in Sevilla. Er überstrahlte alle und alles am Fußballfirmament. Steaua gewann durch Duckadams Glanztat als erste Ostblockmannschaft den Europapokal der Landesmeister. Ein Titelgewinn wertvoller als in der Champions League. Denn damals durften ausschließlich Landesmeister ran, nicht so wie jetzt selbst Viertplatzierte der nationalen Ligen. Eine krasse Wettbewerbsverzerrung! Gegen die leider nichts zu machen ist. Denn: Geld regiert die Welt... Aber das ist ein Thema für eine andere Kolumne.
Zurück zum strahlenden Helden Duckadam. „Elfmetertöter von Sevilla“ wird er seither ehrfurchtsvoll genannt. Er setzte mit seiner Ruhmestat die Messlatte so hoch, dass keiner sie seither überqueren konnte. Vier Elfer in einem Europapokalfinale – da musste sogar ein anderer Hauptdarsteller namens Oliver Kahn vor Neid erblassen – und passen! Der Titan schaffte mal drei gehaltene Strafstöße für seine Bayern, das war 2001 beim Finalsieg in der Champions League gegen Valencia. Drei, aber keine vier wie unser Helmut. Über Nacht war der Banater Schwabe in aller Munde. Die Fußballwelt lag ihm zu Füßen. Bis heute steht er mit seiner Glanztat im Guinnessbuch der Rekorde. Gleichzusetzen mit dem begehrten Oscar für Filmstars.
Aber: Der Ruhm hat auch Schattenseiten – und der Erfolg viele Neider! Das bekam auch Duckadam zu spüren. Und jetzt kommen – wie in einem Film – die Bösewichte ins Spiel. Ihre Rollen dauerten viel länger als in einem normalen Gangsterfilm. Er wurde zu einem Serienfilm mit immer neuen Episoden.
Das Unheil begann mit der schweren Armverletzung von Duckadam nach dem Pokaltriumph, der die Karriere des Torhüters zum Opfer fiel. Eine so schlimme Verletzung so kurz nach einem so großen Erfolg und das noch nicht mal in einem Fußballspiel – für viele konnte das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.
„Wer lügt, hat die Wahrheit immerhin gedacht“, sagte der deutsche Kabarettist Oliver Hassencamp. Das trifft wohl auch auf die Schurken in der Duckadam-Story zu. Sie logen, dass sich die Balken bogen. Das Erstaunliche dabei: Die Lüge verbreitete sich wie ein Lauffeuer, das nicht gelöscht werden konnte.
Mal hieß es, Diktatorensohn Valentin Ceauşescu habe Duckadam von Securitate-Schergen nach dem Training zusammenschlagen lassen, weil er das Auto haben wollte, das der Semlaker als Prämie für seine Glanztat bekommen hat. Dann wiederum war es nicht Valentin, sondern dessen Stiefbruder Nicu, der scharf auf Duckadams Wagen war. Bei dem soll es sich mal um einen Mercedes und mal um einen Toyota gehandelt haben. Aber: In Wahrheit war es ein gebrauchter Aro-Geländewagen, den alle Steauaspieler nach dem Pokalsieg als Prämie vom Verteidigungsministerium erhalten haben. Ein alter Aro! Und auf so einen sollen die wohlhabenden und verwöhnten Ceauşescu-Söhne scharf gewesen sein? Das hätte sich nicht mal als Vorlage für einen Witzfilm geeignet.
Schade, dass Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen damals nicht mehr gelebt hat. Der Lügen-baron hätte mehr als genug Material für ein tolles Drehbuch gehabt. Aber auch ohne Baron Münchhausen führte die Lüge weiter Regie. Und eine neue Sequenz kam hinzu. So soll sich der Torhüter in angetrunkenem Zustand bei einer Jagd in der Semlaker Gegend selbst in den Arm geschossen und verletzt haben.
In Rumänien verbreiteten sich die Lügen über Duckadam durch Mundpropaganda. Wie sonst? In einer rumänischen Parteizeitung hätten sie niemals erscheinen können, obwohl dort mehr als genug gelogen wurde. Nicht umsonst heißt es: Lügen wie gedruckt. Aber: Die Wahrscheinlichkeit für eine Geschichte mit den Ceauşescu-Söhnen als Bösewichte in einer kommunistischen Zeitung war in der Dikatur so gering, als wenn Donald Trump Weltmeister im Golfen wird. Also gleich Null!
Die Augen der Partei waren überall und schauten genau hin. So wurde in den achtziger Jahren das gesamte Redaktionskollegium der Arader rumänischen Lokalzeitung „Flacăra Roşie“ über Nacht gefeuert. Das lag an einem einzigen vertauschten Buchstaben. Auf Seite 1 der Zeitung war der Austausch von Grußbotschaften zwischen dem Genossen Nicolae Ceauşescu und einem anderen Genossen erschienen. Aber: Statt „mesaje“ für Grußbotschaften erschien in der Überschrift „masaje“, also Massage. Zum Totlachen für die Leser! Nur die Zeitungsmacher hatten nichts zu lachen. Ein einziger falscher Buchstabe – und sieben Journalisten waren ihre Jobs los...
Im Falle von Duckadam und den Lügen über ihn kam immer noch kein Filmriss in Sicht. Im Gegenteil! Die Gangsterstory schaffte es über die Landesgrenzen hinaus und hielt sogar Einzug im Westen. In Ländern, wo die Pressefreiheit das A und O der Demokratie ist. Namhafte Zeitungen aus Deutschland und Großbritannien druckten sie ab. Sie schrieben, dass Ceauşescus Handlanger Duckadam die Arme mit Eisenstangen gebrochen haben, um an sein Auto zu gelangen.
Wie es so kommt im Leben: Mit den Jahren geriet die Lüge in Vergessenheit. Hüben wie drüben. Der Umsturz kam in Rumänien, andere Dinge rückten in den Vordergrund.
Während der Recherche über Duckadam für mein Sportbuch war immer noch nicht bekannt, wie er sich wirklich verletzt hat. Und das 15 Jahre seit Steauas Pokalsieg!
Aber: Oft schreibt nicht das Filmdrehbuch die seltsamsten Geschichten, sondern das wahre Leben. Wie sagte doch der französische Philosoph Michel de Montaigne schon im 16. Jahrhundert: „Die Lüge ist ein Winkelgang, von dem man durch eine Wendeltreppe zur Wahrheit gelangen kann.“ Diese kam im Falle von Duckadam sehr spät an seinem Geburtstag raus, als der Torhüter erzählte, wie es damals tatsächlich zu seiner schweren Verletzung gekommen ist.
Rückblende. Film ab!
Kurz nach dem Europapokalsieg kam Duckadam nach Semlak, um sich nach einer anstrengenden Saison zu entspannen. Hier ist er aufgewachsen, hier fühlte er sich pudelwohl. Besonders bei Oma Elisabeth, die ihn nach der Scheidung seiner Eltern großgezogen hat. Ich kannte die Oma persönlich. Eine herzensgute Frau – wie alle schwowischen Omas... Natürlich kenne ich auch Helmut Duckadam noch aus seiner Arader Zeit und hatte ihn als Torhüter zuletzt im Halbfinale gegen Anderlecht erlebt, als er seinen Kasten rein hielt und Steaua mit 3:0 souverän ins Endspiel von Sevilla einzog. Der Rest ist Geschichte...
Damals machte Duckadam in Semlak Ferien in seiner Blockhütte an der Marosch, wo am Dorfende die Prunde beginnt. Es war sein kleines Paradies: gepflegte Beete mit Sommerastern und Zinnien, Obstbäume, Gartenremise, ein Boot. Und viele Fische zum Angeln in der vorbeifließenden Marosch. Abends gab’s Lagerfeuer. Urlaubsidylle pur!
Doch eines Morgens war sie jäh vorbei. Der Torhüter kam aus seiner Hütte, rutschte unglücklich auf dem taufrischen Gras aus und knallte auf den rechten Arm. Mit schlimmen Folgen. Ein Gerinnsel blockierte den Blutdurchfluss im Arm. Die Arterie wurde blockiert. Es kam zum Verschluss. Der Arm schmerzte stark, lief blau an, Amputationsgefahr! Der schwäbische Dorfarzt erkannte die Gefahr und schickte Duckadam sofort mit einem Krankenwagen nach Arad. Von dort ging’s nach Intervention des Verteidigungsministers mit dem Flieger weiter nach Bukarest. Militärhospital, fünf Stunden Operation. Arm gerettet, Karriere nicht. Ein großes Drama! Duckadam stand nach einer Verletzungspause von drei Jahren noch ein paarmal für Zweitligist Vagonul Arad im Kasten. Das war’s... Mit nur 27 Jahren endete eine internationale Karriere, ehe sie so richtig begonnen hatte.
In Rumänien nahm man die Wahrheit über die Verletzung Duckadams nüchtern zur Kenntnis, der Westen ignorierte sie komplett. Auch jene Zeitungen, die die Lügengeschichte groß aufgezogen hatten. Vergangen, vergessen, vorbei!
Kein Happyend wie im Film...
„Lügen kann man beichten, die Wahrheit muss man für sich behalten“, meinte der Schweizer Kabarettist Emil Steinberger. Wie wahr!
Und was ist die Moral von der Geschicht’? Glaub’ Kommunisten und Kapitalisten nicht...
Kommen Sie gut durch die Zeit!