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Die Flucht aus Deutschsanktmichael vor 76 Jahren

1943, als die Familie Arenz aus Deutschsanktmichael noch beisammen war: die Eltern Michael und Katharina Arenz geb. Roth mit ihren beiden Töchtern Eva (links) und Elisabeth

Katharina Arenz geb. Roth mit ihren beiden Töchtern Elisabeth verh. Heber und Eva verh. Mischl im Fluchtjahr 1944. Fotos: HOG Deutschsanktmichael

Am 24. September 1944 traten wir – Elisabeth Heber, Jahrgang 1935, und Eva Mischl, Jahrgang 1932 – gemeinsam mit unserer Mutter Katharina Arenz, geb. Roth, Jahrgang 1912, und mehreren Nachbarn die Flucht aus Deutschsanktmichael Richtung Westen an. Unser Vater Michael Arenz, Jahrgang 1911, war seit 1943 zur deutschen Wehrmacht eingezogen.

Mit zwei vollgepackten Pferdewagen fuhren wir zunächst nach Hatzfeld. Dort ließen wir die Pferdewagen zurück, da wir in bereitgestellte Güterwaggons der Eisenbahn umsteigen mussten.
Der Umsturz vom 23. August 1944 führte in Rumänien zu einem extrem schnellen Vormarsch der Roten Armee Richtung Westen. Das deutsche Militär empfahl den Einwohnern von Deutschsanktmichael im September 1944, das Dorf zu verlassen. Insbesondere Frauen mit Kindern sollten unbedingt die Flucht antreten.

Aus Deutschsanktmichael haben sich ca. 50 Prozent der Einwohner zur Flucht entschieden. Davon kehrte nach Ende des Krieges etwa die Hälfte wieder zurück ins Banat. Die restlichen Landsleute sind in Österreich und Deutschland verblieben. Einige von ihnen zogen später weiter in die Vereinigten Staaten.

Von Hatzfeld aus ging es weiter über Serbien nach Ungarn. Wir hatten einen längeren Aufenthalt in der ungarischen Gemeinde Hidasch (ung. Hidas) in der Nähe der Stadt Bonnhard (ung. Bonyhád). Hier wurden wir über drei Wochen bei Familien untergebracht und bei Hilfsarbeiten in der Landwirtschaft eingesetzt, unter anderem bei der Maisernte sowie der Weinlese.

Die Weiterfahrt führte über Wien und Breslau nach Goldberg (poln. Złotoryja). Die Kleinstadt gehörte damals zum Landkreis Goldberg im Regierungsbezirk Liegnitz der preußischen Provinz Schlesien des Deutschen Reiches. Heute liegt sie in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien. Wir wurden in einer Sporthalle untergebracht, in der bereits Doppelbetten aufgebaut waren. Unsere Mutter kam in einer Kantine zum Einsatz. Wir Kinder wurden ab Ankunft von Lehrer Graf aus Sackelhausen unterrichtet.

Als unser Vater Fronturlaub bekam, besuchte er uns in Goldberg. Über das Wiedersehen nach längerer Zeit freuten wir uns alle. Vater erreichte beim örtlichen Wohnungsamt, dass wir auf einem Werksgelände eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugeteilt bekamen. Nach Einzug in die Wohnung besuchten wir die örtliche Schule.

Infolge des unaufhaltsamen Vormarsches der Roten Armee mussten wir unsere Flucht fortsetzen. Im Februar 1945 ging es weiter über Dresden, Görlitz und Meiningen nach Schmalkalden in Thüringen, wo man uns in den Ortsteil Asbach brachte und einquartierte. Unser Gepäck war mit einem separaten Zug transportiert worden, der jedoch am 13. Februar in der Nähe von Dresden bombardiert wurde. Wir verloren dadurch unser sowieso spärliches Hab und Gut und besaßen nur noch das, was wir am Leib trugen. Dieses schreckliche Ereignis machte uns bettelarm.

Nach Kriegsende entschlossen wir uns zur Rückkehr ins Banat. Amerikanische Militärautos brachten uns von Schmalkalden über Weimar nach Eisenach, wo wir über sechs Wochen blieben. Von dort ging es ebenfalls mit Militärautos nach Jena und anschließend mit der Eisenbahn weiter bis nach Wien. Nächste Station war dann Pressburg (Bratislava), von wo wir nach kurzem Aufenthalt zurück nach Wien gebracht wurden. Die gesamte Rückreise ins Banat zog sich über einen Zeitraum von mehr als acht Wochen hin, da der Eisenbahnverkehr schwer beeinträchtigt war durch die massiven Kriegszerstörungen.

Von Wien aus fuhren wir weiter durch Österreich und Ungarn bis Arad, wo wir mehrere Tage auf die Ausstellung der nötigen Papiere warten mussten. Während unseres Aufenthalts in Arad wurden alle jüngeren Frauen in einer Wäscherei sowie in einer Kantine eingesetzt. Die letzte Etappe mit der Eisenbahn hatte Temeswar zum Ziel. Die Rückreise war sehr beschwerlich und wir litten unvorstellbar. An allen größeren Bahnhöfen wurden sowohl den Kindern als auch den Erwachsenen Zwieback und Tee gereicht. Die Kleinkinder bekamen Milch. Die schlimmen Ereignisse während unserer Flucht werden wir nie vergessen.

Unser Großvater Nikolaus Arenz, Jahrgang 1887, holte uns am 23. August 1945 am Bahnhof in Temeswar mit einem Pferdewagen ab und brachte uns ins 17 Kilometer entfernte Deutschsanktmichael.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits rumänische Kolonisten aus Nordsiebenbürgen in den deutschen Häusern. Zwei Jahre später kamen noch etwa vierzig Familien Makedonier (Mazedonier) aus der Dobrudscha ins Dorf. Drei Wochen wohnten wir bei unserem Großvater. Währenddessen machten die rumänischen Kolonisten in unserem Elternhaus zwei Räume im hinteren Teil des Gebäudes für uns frei. Während der Kriegshandlungen im Herbst 1944 war unser Haus durch die sowjetischen Truppen, die von unserer Nachbargemeinde Rumänischsanktmichael aus unseren Heimatort unter Beschuss genommen haben, erheblich beschädigt worden. Für uns Kinder kam eine schwere Schulzeit, da wir in rumänischer Sprache unterrichtet wurden, einer Sprache, der wir nicht mächtig waren, und die eingesetzten Lehrer kein Deutsch sprachen.

Unser Vater geriet in amerikanische Gefangenschaft und kehrte nach einem Aufenthalt in Bäumenheim (Bayern) im August 1946 zurück ins Banat. Die Enteignung des gesamten Feld- und Grundbesitzes wie auch die Anwesenheit der rumänischen Kolonisten im Haus machten ihm schwer zu schaffen. Die schwierigen Verhältnisse im Dorf sowie die Verschleppung vieler Frauen und Männer im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion führten zu Not und Elend. Die in unserem Elternhaus einquartierte rumänische Familie mit acht Kindern zog 1948 zurück nach Nordsiebenbürgen. Somit konnten wir unser Haus wieder vollständig bewohnen.

Unsere Eltern konnten gemeinsam mit einem Teil der Familie im Oktober 1980 in die Bundesrepublik aussiedeln. Der restliche Teil der Familie folgte im Februar 1982 nach Karlsruhe.

Wir sind dankbar, dass wir eine neue Heimat in der Bundesrepublik gefunden haben und beten dafür, dass es nie wieder zu Krieg, Flucht und Vertreibungen in Europa kommt.