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Amerika, Sackelhausen und die Kuh Stella (Teil 2)

Entlassungsschein (spravka) meiner Mutter vom 3. Oktober 1946, der das Ende ihre Zwangsaufenthalts in einem Arbeitslager in Kriwoi Rog belegt

Banater Landsleute im Passauer Lager Schalding im Jahr 1947. In der Mitte steht Nikolaus Wagner, links daneben meine Mutter Barbara Koppi; vorne sitzen unter anderen Kapellmeister Martin Loris und Barbara Wagner mit ihren Kindern. Es ist ein Abschiedsfoto anlässlich der Auswanderung der Familie Wagner in die USA. Fotos aus dem Besitz des Verfassers

Michael Koppi, der Verfasser dieser Erinnerungen, im Alter von sechs Jahren (1947).

Von der Kriegszeit, der Verschleppung, der Bodenreform 1945 und den Folgen in Sackelhausen

Das Schicksal meinte es gut mit meiner Mutter. Unterernährt (sie wog nur noch 44 Kilogramm) und infolgedessen arbeitsunfähig, wurde sie am 3. Oktober 1946 mit weiteren Zwangsarbeitern nach Frankfurt/ Oder entlassen. Sie kam in das Aufnahmelager Gronenfelde. Bis ins Frühjahr 1947 hinein musste sie bei Chemnitz als Haushaltshilfe arbeiten. Bei Hof machte sie sich dann mit einer Gruppe Banater über die Zonengrenze nach Bayern auf. Die Amerikaner wollten ihr sofort einen Pass aushändigen, da sie doch durch Geburt Bürgerin der USA sei. Ihr Ziel war jedoch ein anderes: Sie wollte zurück ins Banat zu ihrem Kind und ihrer Mutter. Im Schaldinger Sammellager in Passau wurde sie am 14. Juni 1947 von einer rumänischen Repatriierungskommission für einen Rücktransport nach Rumänien eingeteilt.

Mutter hat ihr Leid nie überwunden

Am 29. Juni 1947 passierte sie die rumänische Grenze bei Curtici. Zwei Tage später gab sie eine Erklärung vor der bei der Polizeiquästur eingerichteten Durchgangs-Repatriierungskommission Arad auf einem standardisierten Formular ab, die neben ihren Personalien auch Angaben zu den Umständen, unter denen sie das Land verlassen hat, und zum Aufenthaltsort im Ausland enthält: „Am fost trimis în Rusia pentru munca obligatoare, în oraşul Criwoirog, Lager Criwoirog Nr. 5“. (Ich wurde zur Pflichtarbeit nach Russland verschickt, in die Stadt Kriwoi Rog, Lager Kriwoi Rog Nr. 5.) Die von Barbara Koppi eigenhändig unterzeichnete Erklärung war mit dem Behördenstempel sowie dreifach mit dem Stempel „Fost la munca obligatorie în U.R.S.S.“ versehen. Damit hatte sie sich binnen 15 Tagen im Rathaus der Wohnsitzgemeinde vorzustellen, das prüfen musste, ob die Repatriierte vor dem 30. August 1940 im Nationalitätenregister eingetragen und ob sie der Staatsangehörigkeit verlustig geworden war. Das Rathaus hatte der Durchgangs-Repatriierungskommission darüber unverzüglich Meldung zu erstatten. Lag die Eintragung im Nationalitätenregister vor und war die repatriierte Person im Besitz der Staatsbürgerschaft, wurde sie in die Evidenz des Standesamtes aufgenommen, das seinerseits sofort die Gendarmerie verständigen musste. Diese hatte die Aufgabe, die Vorgeschichte des Repatriierten sowie den Wahrheitsgehalt seiner Erklärung zu überprüfen.

Bei der Ankunft meiner Mutter am Sackelhausener Bahnhof versteckte ich mich hinter meiner Großtante Julianna Wilhelm. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass dies meine Mutter sein soll, ganz abgemagert und mit braungebranntem Gesicht. So hatte ich mir meine Mutter nicht vorgestellt! Kurz darauf kam meine Großmutter mit unserem Hund Scholli angerannt. Beide umarmten sich und das Weinen wollte kein Ende nehmen. Unser Scholli schaute ebenso verdutzt drein wie ich.

Aus Deutschland hatte mir meine Mutter einige Kleidungsstücke mitgebracht. Diese passten mir aber nicht, da sie nicht richtig einschätzen konnte, wie groß ich in der Zwischenzeit geworden war. Außerdem brachte sie mir Bonbons und Gesellschaftsspiele mit.

Man gewöhnte sich nach und nach wieder aneinander. Lange Zeit noch plagten meine Mutter Alpträume, sie schrie im Schlaf immer wieder: „Dawai“, „Ras, dwa, tri“ oder „Stoi“. Die Großmutter versuchte sie in der Anfangszeit zu schonen und sagte immer zu ihr: „Mach nur langsam, damit du dich Schritt für Schritt erholst!“ Die Leiden, die meiner Mutter durch den Krieg, die Deportation und den Verlust des Sohnes zugefügt wurden, hat sie nie überwunden.

Die sogenannte Bodenreform und ihre Folgen

Durch die Enteignung des Feldbesitzes, der landwirtschaftlichen Gerätschaften, der Pferde und Fuhrwerke sowie der Kühe aufgrund des Bodenreformgesetzes vom März 1945 und den Zuzug der Kolonisten aus anderen Landesteilen geriet die über Jahrzehnte gewachsene Ordnung im Dorf aus den Fugen. Die „Neubürger“ – in Sackelhausen waren es überwiegend mazedorumänische (aromunische) Flüchtlinge beziehungsweise Umsiedler aus der Dobrudscha und Roma-Familien – wurden zu neuen Eigentümern. Die Agrarreform-Kommission und die Begüterungsberechtigten gingen brutal gegen die bisherigen Eigentümer vor und requirierten gewaltsam das Wirtschaftsinventar und das Vieh. Selbst die zum Lebensunterhalt der Familien gemästeten Schweine wurden von manchen Kolonisten mitgenommen.

Meine Oma musste ihre Kuh Maria und die Kuh Stella meiner deportierten Mutter Barbara an die Agrar-
reform-Kommission abgeben. Unter Vorlage der in St. Louis ausgestellten Geburtsurkunde meiner Mutter erreichte sie, dass die Kommission die Enteignung der Kuh Stella rückgängig machte („alliierte Güter“ waren von der Enteignung ausgenommen) und deren Rückgabe verfügte. Der Aromune, der sich die Kuh unter den Nagel gerissen hatte, weigerte sich jedoch, dieser Aufforderung nachzukommen. Ausgerüstet mit einem zwei Meter langen Hanfseil für die Rückführung der Kuh begab sich meine Großmutter mit mir zum Haus Nr. 290 in der Hauptgasse. Dort eingefunden hatten sich einige Kommissionsmitglieder sowie ein bewaffneter Polizist. Der Hof des Anwesens war voller Leute, alles Verwandte und Landsleute des „Neubürgers“.

Nachdem ein Mitglied der Agrarreform-Kommission deren Beschluss zur Rückgabe der Kuh bekanntgegeben hatte, entriss der Aromune meiner Großmutter das Hanfseil und schrie, er erhänge eher diese Frau an dem großen Maulbeerbaum im Hof als dass er die Kuh zurückgebe. Dabei machte er Anstalten, meiner Großmutter das Seil um den Hals zu legen. Als der Polizist dies sah, schoss er mit seiner Pistole zweimal in die Luft. Der Hof leerte sich im Nu und der Polizist übergab die Kuh meiner Großmutter. Er sagte zu ihr, manchmal müsse man die Rechte der „Altbürger“ auf diese Weise einfordern.

Die Großmutter gab die Stella im Mai 1945 morgens an die Kuhhirten ab, die die Kuhherde zur Weide führten. Doch eines Abends kam sie nicht wie gewohnt nach Hause. Sie war einfach verschwunden. Daraufhin sprach meine Großmutter beim Volksrat vor, wo man ihr sagte, dass man in diesem Fall nichts unternehmen könne. Die Stella blieb für immer verschollen.

Die Großmutter als Lebensanker

Im Dorf war eine neue Ordnung eingekehrt. Der Grundlagen ihrer Existenz beraubt, dauernden Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt, waren die Deutschen zermürbt. In dieser perspektivlosen Situation waren ihnen allein Glaube, Hoffnung und Liebe Trost.

Jeden Sonntag besuchte ich mit der Großmutter die Frühmesse in unserer Dorfkirche. Morgens und abends beteten wir, wobei diese Gebete immer mit der Bitte endeten: „Lieber Gott, schicke uns doch bitte bald unsere Mutter gesund aus Russland zurück!“ Der Glaube und das Gebet gaben uns Halt und Trost, ebenso die sonntäglichen Besuche („Maje gehn“) bei den Verwandten, bei denen sich die Gelegenheit ergab, offen über Nöte und Sorgen zu sprechen.

Meine Großmutter wurde in dieser schwierigen Zeit für mich zu einer zweiten Mutter, mein Lebensanker. So manchen Knoten in den Seilen unseres Lebens löste sie mit viel Geduld und großer Beharrlichkeit, mit Geschick und Tatkraft. Dafür bewunderte ich sie immer. Es war ein Teil des harten Kampfes ums Überleben.

Um unseren Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken, waren wir auf Selbstversorgung angewiesen. Großmutter hielt ein Schwein, einige Legehühner und einen Hahn, wodurch die Versorgung mit Fleisch und Eiern sichergestellt war. Im Hausgarten wurden die verschiedensten Gemüsesorten angebaut; durch deren unterschiedlichen Reifezeiten stand immer Gemüse für den Eigenbedarf bereit.

Aus allem Möglichen Geld gemacht

Großmutter nutzte jede Gelegenheit, um zu Geld zu kommen. Da wir keine Kuh mehr besaßen, war der Milchhandel wie früher als Einkommensquelle weggefallen. So wurde nun der Überschuss an Gemüse und Hühnereiern, manchmal auch ein Stück geräucherten Speck auf dem Markt in der Temeswarer Josefstadt verkauft. Aber auch vieles andere wurde zu Geld gemacht, beispielsweise getrocknete Maislieschen, die zum Befüllen der Strohsäck benutzt wurden, aus Binsen gefertigte Dacken (Schuhabstreifer), Pfefferminzblätter und Kamillenblüten, Blumen aus unserem Blumengärtchen usw. Mit zwei Taschen und einem Zwerchsack bepackt, ging die Großmutter jede Woche mit einer Nachbarsfrau zu Fuß auf den Markt im nahegelegenen Temeswar. Später durfte sie dann das Leiterwägelchen einer anderen Nachbarin mitbenutzen, wobei die beiden Frauen abwechselnd an der Deichsel zogen.

Um den Bedarf an Futter für die Schweine- und Federviehhaltung zu decken, pachtete die Großmutter von einem neuen Feldbesitzer aus unserem Dorf, einem Roma, ein Joch Ackerfeld für Maisanbau. Die vereinbarte Pachtsumme wurde von ihr in Anwesenheit ihres Bruders Georg Wilhelm und eines weiteren Zeugen an den Verpächter entrichtet. Da die gleiche Fläche auch an einen anderen Interessenten verpachtet worden war, hatte Großmutter letzten Endes das Nachsehen. Beim Volksrat wegen des Betrugs vorstellig geworden, teilte man ihr mit, dass es keinen Sinn mache zu klagen, zumal bei dem Verpächter nichts zu holen sei.

Danach pachtete die Großmutter ein Joch von der orthodoxen Pfarrei Mehala, das auf der Puszta nördlich von Sackelhausen, über der „Wiener Straße“ lag. Der Verpächter erhielt zwei Drittel des Ernteertrags in Form von entlieschten Kolben und gebündelten Maisstängeln. Das restliche Drittel stand dem Pächter zu. Er erhielt frei Haus die Maiskolben mit Lieschen und die Maisstängel sowie die Lieschen vom Mais des Verpächters. Die Maiskörner wie auch das Maislaub wurden an das Vieh verfuttert. Im Frühjahr wurden dann die „Maisstorze“ eingesammelt („gerafft“), die ebenso wie die entkernten Maiskolben als Brennmaterial dienten. Es wurde also verwertet.

Obwohl Großmutter wegen unserer Kuh „Stella“ schlechte Erfahrungen mit einer mazedorumänischen Flüchtlingsfamilie gemacht hatte, kam es später mit einer anderen Familie, die ebenfalls dieser Ethnie angehörte, zu einer guten Zusammenarbeit. Diese baute Sonnenblumen an. Zum Lagern des frisch gepressten Sonnenblumenöls lieh meine Großmutter dieser Familie ihre nicht mehr benötigten zwei Zwanzig-Liter-Milchkannen. Für die Verleihdauer von drei Monaten erhielt sie je Kanne einen Liter Sonnenblumenöl und ein Stück Sonnenblumenkuchen. Dieses bei der Ölgewinnung durch Pressen der Sonnenblumenkerne entstandene Nebenprodukt fand als Viehfutter Verwendung.

Es kam auch soweit, dass Großmutter bei der Ernte der Sonnenblumen und beim Ausklopfen der Sonnenblumenköpfe mithalf. Dafür wurde sie in Naturalien bezahlt, es gab Sonnenblumenöl, das jetzt häufiger zum Kochen benutzt wurde, und obendrein dringend benötigtes Brennmaterial für unseren Sparherd und unseren Backofen. Im zweiten Jahr der Zusammenarbeit mit dieser Familie wurden die beiden Milchkannen gegen Sonnenblumenöl und Sonnenblumenkuchen eingetauscht.

Es war eine schwere Zeit. Nur dem Fleiß, der Opferbereitschaft und dem Optimismus meiner Großmutter war es zu verdanken, dass wir einigermaßen gut über die Runden gekommen sind. Sie wurde mir zum Ernährer und fürwahr zu einer Ersatzmutter.

Als meine Mutter im Juli 1947 aus Russland zurückkehrte, war sie einige Zeit sehr geschwächt und auch psychisch angeschlagen. Sie konnten keine schweren Arbeiten verrichten und musste oft Pausen einlegen. Um auch zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, lernte sie von der Familie Stumpilich aus unserer Nachbarschaft das Flechten von „Zeckern“, das man auch „Drillen“ nannte. Als Rohstoff dienten Maislieschen, als Arbeitsmittel wurden verschiedene Rahmenformen benötigt, die mit Nägeln ohne Köpfen versehen waren, außerdem Farben zum Einfärben der Lieschen sowie eine „Schwefelkiste“, die dazu diente, den Gelbstich aus den fertigen Taschen auszubleichen. Letztere wurde von den Nachbarn ausgeliehen. Ich half mit bei der Besorgung der Lie-schen, beim Reißen der Lieschen auf die Arbeitsbreite sowie beim Anbringen des Schrägschnitts mit einer Schere. Außerdem machte ich einfache Zettelarbeiten.

Der Vorteil des Taschenflechtens lag auf der Hand: Das Rohmaterial stand in ausreichender Menge zur Verfügung, die Arbeit konnte zuhause verrichtet werden, der Arbeitsrhythmus, abhängig von der Fertigkeit des Einzelnen, konnte von jedem selbst bestimmt werden. Zudem bot der Markt in Temeswar gute Absatzmöglichkeiten. Nach einiger Zeit nahm jedoch die Nachfrage ab und das Taschenflechten kam zum Erliegen.