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Du musst warten, bis du groß bist…

Die Schwestern Johanna, Elfriede, Annemarie und Margit (von links) vor dem Elternhaus ihres Vaters Michael Sindt in Sackelhausen – für sie war es der Höhepunkt und gleichzeitg der emotionalste Moment ihrer Reise.

Die vier Schwestern besuchten die römisch-katholische Kirche in Sackelhausen, in der ihr Vater 1917 getauft wurde. Einsenderin der Fotos: Margit Sindt-Lohninger

Vier Schwestern auf den Spuren ihres Vaters in Sackelhausen - Es war voriges Jahr im April, an einem Sonntagvormittag, bei der Sparvereinseinzahlung in einer gemütlichen Wirtshausstube in Wels. Wir saßen da und plauderten. Zugegen waren viele Bekannte, aber auch Personen, die mir weniger bekannt waren. Während wir uns am Tisch unterhielten, hörte ich mit einem Ohr, wie ein Ehepaar davon erzählte, dass es in die Ukraine fahren werde, wo es das Grab der Eltern besuchen wollte. Da wurde ich hellhörig und fragte mich, wie das wohl gehe. Ich vernahm, dass die Eheleute mit einem Hilfstransport mitfahren würden. Ein Herr, der in der Nähe wohne, sammle Hilfsgüter, die er dann sattelzugweise in die Ukraine und nach Rumänien bringe. Er würde das schon jahrelang machen, habe ganz viel Erfahrung und suche immer wieder Helfer, die ihn auf der Fahrt begleiten und ihm beim Ausladen und Verteilen der Sachen behilflich sind.

Der Mann, der mir das alles erzählte, war schon öfters bei solchen Hilfslieferungen dabei. Der Organisator des Hilfstransports hätte seiner Frau zugesichert, einen Abstecher in die Ortschaft zu machen, wo ihre Eltern begraben sind. Mein Interesse war geweckt. Ich fragte, wer dieser Herr sei und wie das ablaufe und bat um die Kontaktdaten, um mich mit ihm in Verbindung setzen zu können.
Woher mein Interesse rührte? Es hing mit dem Stichwort Rumänien zusammen, das während des Gesprächs gefallen war. Mein Vater stammte nämlich von dort, genauer gesagt aus dem Banat. Und dazu hatte ich viele Fragen, auf die ich eine Antwort suchte: Wo liegen meine Wurzeln väterlicherseits und wie kam es, dass mein Vater seine Heimat verlassen musste und später in Österreich landete?

„Du verstehst das alles noch nicht“

Mein Vater ist früh verstorben. An meinem zwölften Geburtstag hat er das Zeitliche gesegnet. Auf meine Fragen hatte ich nie eine Antwort erhalten. Er sagte immer nur: „Du musst warten, bis du erwachsen bist, du verstehst das alles noch nicht.“ Außerdem war es früher so in unserer Familie, dass wir Kinder zu schweigen hatten, wenn sich die Erwachsenen unterhielten. Und in den letzten fünf Jahren seines Lebens war mein Vater von einer schweren Krankheit gezeichnet. Er litt an Kieferkrebs. Als er vom Tod erlöst wurde, blieb meine Mutter als 33-jährige Witwe mit fünf Kindern im Alter zwischen vier und dreizehneinhalb Jahren zurück. Ich war das zweite Kind in der Geschwisterreihe. Meine Mutter hatte es sehr schwer und für uns Kinder kaum Zeit. Hinzu kam noch, dass auch meine ältere Schwester sehr krank war und immer wieder längere Zeiten im Krankenhaus verbringen musste. Ich bin dann oft der Schule ferngeblieben und habe auf meine kleineren Geschwister aufgepasst. Für meine jüngste Schwester war ich Mutterersatz.

Die Frage nach der Herkunft meines Vaters und den Umständen seiner Flucht aus dem Banat zusammen mit seiner Familie hat mich immer beschäftigt. Und nun, durch einen Zufall, eben durch das Gespräch in der Wirtshausstube, malte ich mir eine reale Chance aus, endlich Antworten darauf zu bekommen. So setzte ich mich mit dem Herrn in Verbindung, dessen Telefonnummer ich erhalten hatte. In Hermann Hochreiter lernte ich einen netten älteren Herrn kennen, der die Freundlichkeit und Güte in Person verkörperte. Seit 30 Jahren engagiert er sich bei der Rumänienhilfe Gunskirchen, er ist deren Begründer und Motor. Als er von meinem Anliegen erfuhr, mit ihm nach Rumänien zu reisen, sagte er sofort zu: „Freilich, das machen wir, entweder fahren wir mit einem Hilfstransport runter oder einfach mit einem Neunsitzer-Bus.“

So nahm alles seinen Anfang. Ich fragte meine Schwestern, ob sie auch Interesse hätten mitzukommen und freute mich, als ich die Zusage von ihnen erhielt. Hermann hat indessen alles geplant und erledigt, so, als ob wir alte Bekannte wären. Er wollte uns einfach eine Freude machen, seine Gutmütigkeit und Selbstlosigkeit haben uns tief beeindruckt. Es war schon ein sonderbares Gefühl, jemanden kennengelernt zu haben, der sich sofort bereit erklärte, mit uns nach Rumänien zu fahren. Hermann dachte auch an die Menschen dort und bat uns, Sachen zu sammeln, da er beabsichtigte, den Bus vollzupacken. Wir haben daraufhin eifrig gesammelt und ganz schöne Sachen hauptsächlich für Kinder zusammenbekommen.

Ein lang gehegter Wunsch geht in Erfüllung

Anfang Oktober war es dann soweit. Mit einem Kleinbus haben wir – Hermann, ich und meine drei Schwestern Annemarie, Elfriede und Margit – die Reise nach Rumänien angetreten. Hermann musste sogar noch zwei Dachboxen auf den Bus montieren, um all die Sachen, die wir gesammelt hatten, verstauen zu können. Ich weiß gar nicht, wie ich die Gefühle, die uns an jenem Morgen übermannten, in Worte fassen soll. Wir waren einerseits aufgeregt und angespannt, andererseits hegten wir keinerlei Erwartung, zumal wir überhaupt nicht wussten, was uns in Rumänien begegnen wird. Dann sind wir losgefahren, ganz früh… Es war eine schöne, zuweilen auch lustige Reise, auf der wir viel Spaß hatten.

Unser erstes Ziel war Sackelhausen, der Heimatort unseres Vaters. Hermann hatte uns mitgeteilt, dass er vom dem für Sackelhausen zuständigen Pfarrer in Temeswar-Mehala eine Telefonnummer bekommen habe. Daraufhin habe sich eine Frau gemeldet, die behilflich sein wollte und auch angeboten habe, bei ihr zu übernachten. Diese Frau war Christine Neu.

Es war schon ziemlich spät am Abend, als wir bei ihr angekommen sind. Für uns war es eine große Überraschung, dass wir so herzlich empfangen wurden und dass wir bei unserer Gastgeberin übernachten durften. Obwohl wir von der Reise sehr müde waren, saßen wir noch eine ganze Weile beisammen und erlebten einen lustigen Abend. Gleichzeitig waren wir froh, in Christine Neu eine hilfsbereite Person angetroffen zu haben, die überdies ortskundig war, die ganzen Menschen kannte, die wir gebraucht haben, und auch noch die Landessprache beherrschte. Wir haben ihr eröffnet, welches unsere Anliegen sind, was wir in Erfahrung bringen wollten, was wir uns gerne anschauen würden. Voller Spannung fieberten wir dem nächsten Tag entgegen. Wir fragten uns, was uns dieser Tag wohl bringen werde und ob sich unsere Erwartungen erfüllen würden.

Tränen der Rührung vor dem Elternhaus des Vaters

Am nächsten Morgen fuhren wir gleich los, um das Elternhaus unseres Vaters zu suchen. Wir hatten alte Fotos dabei, aufgrund derer es uns gelungen ist, das Haus in der Schwarzwälder Gasse zu finden. Schwer zu beschreiben sind die Gefühle, die in uns hochkamen, als wir das Haus gefunden hatten. Wir waren alle sehr gerührt und konnten es kaum fassen, vor jenem Haus zu stehen, in dem unser Vater Michael Sindt 1917 das Licht der Welt erblickt hatte. Im Herbst 1944 musste er zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern Haus und Hof verlassen. 75 Jahre später befanden wir uns nun an jenem Ort, an dem die Flucht vor der herannahenden Roten Armee ihren Lauf genommen hatte. Die Familie war damals in einer Nacht- und Nebelaktion nur mit einem Pferdewagen geflüchtet. Sie hatte ihr einziges Pferd vor den Leiterwagen gespannt, einige Habseligkeiten aufgeladen und ist dann losgezogen – Richtung Westen, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Wir haben uns dann ein bisschen umgeschaut. Unsere Anwesenheit blieb nicht unbemerkt. Die Haus-
bewohner kamen heraus und zeigten sich uns gegenüber zunächst sehr skeptisch und reserviert. Unsere Begleiterin Christine Neu erklärte dem rumänischen Ehepaar, dass es unser Elternhaus gewesen sei und dass wir es uns gerne anschauen würden. Die Familie hatte befürchtet, dass man ihr das Haus wegnehmen wolle. Wir wurden zwar nicht hineingelassen, was wir auch gar nicht wollten, konnten uns aber alles von außen anschauen. Uns hat das gereicht, wir waren einfach glücklich, da zu sein, und auf den Spuren unserer Familiengeschichte zu wandeln. Eine meiner Schwestern füllte etwas Heimaterde in ein Säckchen, die sie daheim schön verpackte und an die Kinder wie auch an uns verteilte. Das hier Erlebte ging tief unter die Haut und berührte Herz und Seele. Wir waren erleichtert, das Elternhaus unseres Vaters aufgefunden zu haben, und empfanden große Dankbarkeit Christine und Hermann gegenüber, die uns dies ermöglicht hatten.

Anschließend fuhren wir auf den Friedhof, um nach Familiengräbern zu suchen, was sich als erfolgloses Unterfangen erwies. Dank der Initiative von Christine Neu wurde der Friedhof, der sich in einem verwahrlosten Zustand befand, gesäubert, sodass dieser nun einen guten Eindruck macht. Man merkt einfach, dass sich Frau Neu mit viel Herzblut dieser Aufgabe widmet und damit sichergestellt ist, dass der Friedhof ein gepflegtes Aussehen hat. Vom Friedhof ging es dann zur Pfarrkirche. Die Mesnerin gewährte uns Einlass in das sonst verschlossene Gotteshaus. Für uns war es wieder ein ergreifender Moment, an dem Ort zu sein, wo unser Vater getauft worden ist und wahrscheinlich auch seine Eltern geheiratet haben. Es war ein berührendes Erlebnis.

Spenden an bedürftige Familien verteilt

Im Laufe des Nachmittags wollten wir unsere Spenden verteilen und auch diesbezüglich war uns Frau Neu behilflich. Sie machte den Vorschlag, ins Rathaus zu gehen, wo man sich nach bedürftigen Familien erkundigen könne. Der Bürgermeister der Gemeinde empfing uns, er nahm sich für uns Zeit und lud uns auf ein Getränk und einen kurzen Gedankenaustausch ein. Mit seiner Sekretärin, die zu uns ins Auto stieg, sind wir dann zu bedürftigen Familien gefahren. Gut in Erinnerung geblieben ist mir eine vom Schicksal hart getroffene Familie. Der Vater, ein junger Mann, war drei Monate zuvor durch einen Stromschlag an seiner Arbeitsstelle ums Leben gekommen. Zurückgeblieben ist die Ehefrau mit zwei Buben. Der Familie fehlte es an allen Ecken und Enden. Sie war völlig überrascht von unserem Besuch. Als wir ihnen die schönen Sachen überreichten, waren die beiden Jungs zunächst sprachlos, doch dann haben sie den Mund nicht mehr zu bekommen vor lauter Freude und Dankbarkeit. Ich habe ihnen auch Fotos von meinen kleinen Enkelkindern gezeigt. Ein weiteres rührendes Erlebnis an diesem ereignisreichen Tag…

Wir sind dann zurück zu Familie Neu, wo wir den anstrengenden Tag bei gutem Essen und gemütlichem Beisammensein ausklingen ließen. Es war ein wunderbarer Abend, der uns Gelegenheit bot, den Tag Revue passieren zu lassen und die vielen Eindrücke zu sortieren. An diesem Tag hat sich unser Traum erfüllt, auf den Spuren unseres Vaters zu wandeln und endlich Antworten zu finden auf Fragen, die uns über Jahrzehnte beschäftigt haben.

Am nächsten Tag sind wir nach Temeswar gefahren, wo wir einen Stadtrundgang mit einer Reiseführerin machten und in den Genuss eines herrlichen Mittagessens kamen. Dass es ein so wunderschöner Tag wurde, ist ebenfalls Christine Neu zu verdanken.

Nachdem wir uns von Sackelhausen und unserer netten Gastgeberin verabschiedet haben, fuhren wir weiter nach Siebenbürgen. Auf unserem Besichtigungsprogramm standen Karlsburg, Hermannstadt, Kronstadt und Sinaia. Es war ein wunderbarer Ausflug, wir haben viel gesehen und konnten uns ein Bild machen von Land und Leuten.

Die Familiengeschichte nimmt Gestalt an

Doch der Hauptpunkt unserer Rumänien-Reise war der Besuch in Sackelhausen, dem Geburtsort unseres Vaters. Als junger Mann musste er diesen 1944 verlassen, nicht allein, sondern mit Eltern und Geschwistern. Die Flucht führte über Ungarn und die Slowakei zunächst nach Böhmen, wo die Familie Aufnahme in einem Flüchtlingslager fand. Nächste Station war dann Münzkirchen bei Schärding. Auch dort bot ihr ein Flüchtlingslager Unterkunft. Sie hatte Glück, dass sie zum einen zusammenblieb und zum anderen immer gleich Arbeit fand. Unser Vater und seine Brüder arbeiteten als Knechte, die Schwester als Magd und auch die Eltern gingen einer Beschäftigung nach. Sie waren unglaublich fleißig und geschickt und haben ihr Flüchtlingsschicksal gemeistert. Voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben sie immer nach vorne geschaut. Es waren schwere, entbehrungsreiche Jahre, in denen sie auch Anfeindungen seitens der einheimischen Bevölkerung ausgesetzt waren.

Später ist die Familie an den Attersee gekommen, nach Palmsdorf.  Dort lernte Vater unsere Mutter kennen. Das war damals nicht so einfach, da unser Vater, ein Flüchtling, als Schwiegersohn nicht willkommen war. Weil aber unsere Mutter schnell schwanger wurde, durften sie zusammenbleiben. 1951 wurde geheiratet und noch im gleichen Jahr kam die erste Tochter zur Welt. 1953 wurde ich geboren und bekam im Laufe der Jahre noch drei weitere Geschwister.

Mein ganzes Leben war ich auf der Suche und wollte gerne Antworten finden auf meine Fragen, die ich mit mir im Herzen getragen habe. Ich bin so glücklich und dankbar, dass ich auf dieser Reise Antworten gefunden habe. Auch wenn manches unbeantwortet geblieben ist, habe ich nun endlich den Frieden gefunden, den ich in Bezug auf meinen Vater immer gesucht habe.