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Busiascher Wasser als Lebensretter

Als die Welt noch in Ordnung war: das Ehepaar Magda und Andreas Brach mit seinen beiden Töchtern Gerda (links) und Jutta 1959 in Busiasch

Urteil des Militärgerichts Temeswar gegen Andreas Brach vom 4. Januar 1962

Urteil des Militärgerichts Temeswar gegen Magda Brach vom 4. Januar 1962. Einsenderin des Fotos und der Faksimiles: Gerda Sieber-Brach

Im Jahr 1961 wurden meine Eltern Andreas (Jahrgang 1904) und Magda (Jahrgang 1911) in Busiasch verhaftet. Sie waren beide bescheiden und arbeitsam, nicht politisch aktiv. Trotzdem bezichtigte man sie des Landesverrats. Konkret stellte sich heraus, dass meinem Vater vorgeworfen wurde, Briefe an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf (Schweiz) geschrieben  und um Hilfe bei der Auswanderung aus Rumänien gebeten zu haben. Meine Mutter wurde als Mitwisserin mitverhaftet. Den Entschluss zur Auswanderung hatten sie gefasst, nachdem sie wiederholt Repressalien ausgesetzt gewesen waren.

Mein Vater hatte um 1920 in Leipzig das Buchdruckergewerbe erlernt, um später die Druckerei seines Vaters Josef Brach in Busiasch zu übernehmen. Nach der Rückkehr nach Rumänien wurde er technischer Leiter bei der „Cartea Românească“ in Bukarest, damals die größte Druckerei des Landes. Danach war er Direktor bei der Druckerei „Kraft und Drotleff“ in Hermannstadt. Als sich nach dem Umsturz das Gerücht von der Verschleppung der Deutschen in die Sowjetunion verbreitete, flüchteten wir mit der ganzen Familie nach Klausenburg. Da dort hauptsächlich Ungarn lebten, wurden die Deutschen nicht ausgehoben. Meine Schwester war erst ein paar Monate alt und ich noch im Grundschulalter. Eine völlig fremde ungarische Familie gewährte uns Unterschlupf, sie machte ein Zimmer in ihrem Haus für uns frei. Es sollte für drei Jahre unser Zuhause werden. Mein Vater hatte sich einen falschen Ausweis besorgt und fand Arbeit als Buchhalter.

1948 wurden wir von meinem Großvater nachhause nach Busiasch gerufen. Er wollte die Druckerei an seinen Sohn übergeben. Es war eine gut gehende Druckerei, die viele Zeitungen, auch die „Pollerpeitsch“, Schulbücher und kulturelle Broschüren gedruckt hatte. Busiasch war vor dem Krieg ein blühender Kurort, wo auch viele Kulturaufführungen stattfanden. Auch Eigenproduktionen, wie eine Aufführung der „Cavalleria Rusticana“ von Mascagni, für die man nur den Heldentenor aus Temeswar ausleihen musste. Für die Druckerei kamen wir zurück nach Busiasch, aber nach ein paar Monaten wurde sie enteignet. Die Großeltern verloren ihr Einkommen. Die teuren Druckmaschinen wurden nach Reschitza transportiert, um dort eingeschmolzen zu werden. Aus den Räumen der Druckerei wurde ein Sportclub. Mein Vater hielt die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, teilweise pendelte er nach Reschitza, dann nach Temeswar. Im Jahr 1956 fand er endlich einen festen Buchhalterposten bei der Badedirektion. Nach zwei Jahren wurde er sogar Oberbuchhalter, als der Vorgänger in Rente ging. Endlich schien es aufwärts zu gehen. Ich hatte inzwischen die Schule für Bautechnik besucht und wurde als Bautechnikerin in der Busiascher Wasserfabrik „Apemin“ angestellt.

Eines Tages – es war im Mai 1961 – erhielt mein Vater eine Vorladung nach Temeswar zum Regionalen Volksrat. Man holte ihn mit dem Auto ab. Nach drei Tagen war er immer noch nicht wiedergekommen. In Absprache mit meiner Mutter ging ich zur Miliz, um ihn als vermisst zu melden. Man warf mich hinaus mit dem Hinweis, dass mein Vater gut aufgehoben sei und wir Ruhe geben sollten. Nach drei Wochen wurde meine Mutter aufgefordert, mit frischer Wäsche für meinen Vater nach Temeswar zur Securitate zu kommen. In banger Voraussicht sagte ich noch zu ihr, sie solle doch auch eine Zahnbürste mitnehmen, „wer weiß, ob du wiederkommst.“ Und so war es. Sie kam auch nicht zurück.

Ich war schon verheiratet und musste mich um meine jüngere Schwester kümmern. Inzwischen lebte ich mit meinem Mann in Temeswar. Das Haus in Busiasch wurde durchsucht. Trotzdem gelang es mir, an den Abenden nach der Arbeit nach Busiasch zu fahren und Wertsachen zu sichern. Allerdings war es schwierig, Leute zu finden, die bereit waren, etwas davon zu sich zu nehmen. Man hatte etliche Bekannte meiner Eltern vorgeladen und verhört. Alle hatten Angst und brachen den Kontakt mit uns ab. Nur meine Schwiegermutter versteckte einige Sachen für uns.

Die Durchsuchungen dauerten weiter. Offenbar fanden die Securitate-Leute nicht das Gewünschte, sie fragten immer nach Briefen aus Deutschland. Endlich fanden sie die RU-Nummern, die wir uns über
einen guten Freund längst besorgt hatten. Danach wurde die Wohnung versiegelt. Ich wurde zwei bis dreimal wöchentlich zum Verhör gebracht, weil man vermutete, dass ich von den Briefen ans Rote Kreuz Kenntnis hatte. Das war nicht der Fall, aber die stundenlangen Verhöre waren zermürbend. In der Temeswarer Bierfabrik, wo ich als Technikerin arbeitete, wurde ich wegen „solcher Eltern“ als unzuverlässig eingestuft und zu niederen Tätigkeiten verdonnert – Bier abfüllen und Kisten schleppen.

Das ging acht Monate lang so. Dann erhielten wir die Nachricht, dass mein Onkel und meine Tante in Busiasch sich gemeinsam in selbstmörderischer Absicht die Pulsadern aufgeschnitten hatten. Sie waren auch wiederholt von der Securitate verhört worden. Ein entsprechender Brief lag auf dem Tisch, als man sie fand. Meine Tante konnte noch gerettet werden, aber ihre Hand blieb behindert und so konnte sie ihren Beruf als Klavierlehrerin nicht mehr ausüben. Meinem Onkel hatte man vorgeworfen, einen geheimen Radiosender zu betreiben, was aber eine üble Verleumdung war. Danach ließ man uns in Ruhe.

Im Januar 1962 wurde meinen Eltern der Prozess in der Haftanstalt „Popa Şapcă“ gemacht. Die Bekannten aus Busiasch waren so verängstigt, dass sich keiner zu kommen traute. Auch die Verwandten blieben dem Prozess fern, und zu meiner Enttäuschung selbst mein damaliger Mann. Als meine Eltern in den gestreiften Gefängnisanzügen hereingebracht wurden, habe ich sie fast nicht erkannt, weil sie so abgemagert waren. Ich hatte Dr. Josef Heim gebeten, sie als Anwalt zu vertreten, aber er riet mir, auch noch einen rumänischen Anwalt zu beauftragen, denn das werde nicht gern gesehen, wenn Deutsche Deutsche vertreten. Ich habe also zwei Anwälte bezahlt. Während des Prozesses musste man mich zweimal hinausbringen, weil ich ohnmächtig wurde. Mein Vater sollte als Landesverräter zum Tod verurteilt werden, dem rumänischen Anwalt, er hieß Bâcă, ist es aber gelungen, acht Jahre für meinen Vater und fünf Jahre für meine Mutter (als Mittäterin, weil sie ihren Mann nicht angezeigt hat) zu erwirken. Das Vergehen meiner Eltern hieß: „uneltire contra ordinei sociale“, also „Aufwiegelung gegen die Gesellschaftsordnung“.

Während des Prozesses wurden Zeugen befragt, Bekannte meines Vaters, auch viele Busiascher. Die meisten, auch angebliche Freunde, trauten sich nicht, ihn zu entlasten. Andere trauten sich. Ich erinnere mich an Anton Rausch und Johann Schreck. Letztlich wurden meine Eltern abgeführt, ohne dass ich mit ihnen sprechen konnte. Ich wusste nicht, wo man sie hinbrachte. Erst nach zwei Jahren kamen zwei Postkarten mit abgezählten Worten bei mir an. Mein Vater war in Salcia auf der Großen Brăila-Insel, meine Mutter in Großwardein (Oradea). Sie baten uns um Lebensmittel. Wie wir später erfuhren, musste meine Mutti zusammen mit den anderen Frauen in einem eiskalten Schuppen Kinderwägen und Körbe aus Nylon flechten, bis die Finger wund waren und bluteten. Wenn sie ihre Norm nicht erfüllten, bekamen sie kein Abendessen. Mein Vater war von der schweren Arbeit auf der Donau-Flussinsel in der Sommerhitze so dehydriert, dass er ins Spital musste. In einer solchen Situation hatte er einmal einen Schutzengel: Jemand warf durch das Fenster ausgerechnet eine Flasche Busiascher Mineralwasser herein. Er erzählte später immer wieder, dass dieses Busiascher Wasser ihm das Leben gerettet hat.

Wir erfuhren später auch, wie sich die Verhöre bei der Securitate abgespielt hatten. Mutti musste zum Verhör immer eine dichte Brille aus Blech aufsetzen. Damit stürzte sie immer wieder Treppen hinunter, weil man sie nicht darauf hinwies und sie nichts sehen konnte. Mein Vater erzählte, wie man von ihm Aussagen erpressen wollte, indem man ihn in einen kleinen Raum stellte und den mit kaltem Wasser flutete. Das meiste, was sie erlebt haben, ist unbeschreiblich. Man kann sich nicht vorstellen, dass jemand Menschen so etwas antut. Während sie in Haft waren, ist ein Flugzeug bei Curtici abgestürzt. Danach hat man den Major der Securitate Aurelian Sorbun an einem Baum hängend gefunden. Der war laut meinen Eltern der Schlimmste bei den Verhören.

Doch nicht nur für sie war es eine schwere Zeit. Auch wir waren gebrandmarkt. Wir wurden aus unserer Wohnung hinausgeschmissen, die eine Dienstwohnung meines Mannes war. Übernachten konnten wir bei Bekannten. Ich wog nur noch 45 Kilogramm und musste in der Bierfabrik in drei Schichten schwer arbeiten. Ich brauchte das Geld dringend, denn meine Schwester war inzwischen in Klausenburg bei unseren früheren Vermietern einquartiert und ging dort zur Schule. Für ihren Unterhalt musste ich aufkommen.

Auch mein Mann musste seinen Posten räumen, er bekam eine Stelle bei der Chemiefakultät. Damit war er sehr zufrieden, was mich damals erstaunt hat. Erst im Rückblick weiß ich aus dem Studium der Securitate-Akten, dass auch er damals eine negative Aussage gegen meinen Vater gemacht hat. Irgendwann bekamen wir dann doch eine sogenannte Wohnung, ein winziges Zimmer und Küche in einem ehemaligen Stall. An der Straße stand ein großes Hotel und die Stallungen hatten früher für die Pferde der vornehmen Gäste aus Wien und Budapest ihre Dienste geleistet.

Da hatten wir bereits drei Jahre gehaust, als meine Eltern aufgrund einer Amnestie 1964 unerwartet freikamen. Da wir sie bei uns nicht aufnehmen konnten, gingen wir nach Busiasch. Meine Schwiegermutter nahm sie bei sich auf. Meinem Vater wurde eine Stelle als Buchhalter in Lugosch zugewiesen. Bedingung war aber, dass er für die Securitate arbeitet. Obwohl er sich weigerte, hat er die Stelle letztlich doch auch ohne Spitzeltätigkeit bekommen. Meinen Eltern wurde auch ihr Haus in Lugosch rückerstattet, das Jahre zuvor enteignet worden war. Das Haus war bewohnt, doch die Mieter machten ein Zimmer für sie frei. Vier Jahre lang mussten sie Bad und Küche teilen, bis die Mieter eine Blockwohnung erhielten. Das erlebte mein Vater aber nicht mehr. Infolge der Strapazen der Gefangenschaft ist er mit nur 65 Jahren gestorben. Meine Mutter blieb allein, sehr schlecht versorgt. Da ich damals schon von meinem Mann getrennt war, zog ich auch nach Lugosch und konnte dort beim Bautrust arbeiten.

Da man bei der Verhaftung meiner Eltern ihre Sachen am Busiascher Wochenmarkt meistbietend versteigert hatte, halfen Verwandte und Bekannte ihnen nach der Entlassung mit Möbeln aus. Auch mein Klavier, das mir viel bedeutet hat, fiel diesem Kahlschlag zum Opfer. Als sie endlich wieder menschlich leben konnten, ist mein Vater gegangen. Mit meinem zweiten Mann, den ich nach fünf Jahren heiratete, bin ich 1978 zunächst in die USA ausgewandert und dann von dort nach Deutschland gekommen. Meine Mutter konnte ich auch zu mir nach Ulm nehmen. Sie durfte hier endlich normal leben und musste nicht mehr frieren, hat mit uns auf schönen Reisen auch etwas von der Welt gesehen. Sie ist 2005 mit 94 Jahren gestorben. Mein Vater, der so gerne nach Deutschland gekommen wäre, hat es nicht erleben dürfen.