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„Wenn ich 110 bin, kann mich der Teufel holen!“

Franz Künstler (1900-2008)

Bis ins hohe Alter war Franz Künstler als Museumsführer im Jagdmuseum von Schloss Haltenbergstetten in Niederstetten tätig. Foto: Helmut Ritter

Franz Künstlers Grabstätte in Niederstetten. Foto: Helmut Ritter

Der Banater Franz Künstler – letzter Soldat des Kaisers - 2014 sind es hundert Jahre seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, ein willkommener Anlass, um an den letzten Soldaten des Kaisers Karl I. zu erinnern. Am 27. Mai 2008 starb in Bad Mergentheim, knapp zwei Monate vor seinem 108. Geburtstag, Franz Künstler, der letzte Veteran der k.u.k.-Armee im Ersten Weltkrieg. Über ihn wurde 2008 viel in den deutschen Medien berichtet. Bedauerlicherweise haben sich in die Berichterstattungen auch einige Ungenauigkeiten und Fehler eingeschlichen, die hier richtiggestellt werden sollen.

Franz Künstler erblickte am 24. Juli 1900 in Sósd, das bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörte, das Licht der Welt. Dabei handelt es sich nicht um eine Stadt, wie gelegentlich in den Medien fälschlicherweise berichtet wurde, sondern um das Dorf Șoşdea (Schoschdea) im Kreis Karasch-Severin, Rumänien (und nicht Jugoslawien bzw. Serbien). 1878 lebten im Ort 835 Menschen in 158 Häusern. Anfang des 20. Jahrhunderts (1912) zählte das Dorf 1793 Seelen. Heute gehört  Schoschdea zur Gemeinde Moritzfeld. Da ich elf Jahre Lehrer in Moritzfeld gewesen bin, kenne ich Künstlers Geburtsort sehr gut.

Der Vater Franz Künstlers, Jakob Künstler, wurde am 2. März 1857 in Wiseschdia geboren. Sein Urgroßvater Jakob Peter Künstler stammte aus Neuarad. Jakob Künstler heiratet am 12. November 1883 in Nakodorf Anna Biel (geboren 1862 in Nakodorf, gestorben 1904 ebenda), jüngste Tochter des Martin und der Sophie Biel/Bill, geborene Rintje. Laut der Gemeindematrikel von Schoschdea war Jakob Künstler bei der Geburt seines Sohnes Franz 43 Jahre alt, die Mutter Anna Künstler 41 Jahre alt. Das in der Matrikel angegebene Alter von 41 Jahren (anstatt 38) stimmt nicht, denn sowohl im Familienbuch Nakodorf als auch im Familienbuch Wiseschdia wird das Geburtsjahr der Anna Biel mit 1862 angegeben. In Letzterem sind vier Geschwister von Franz Künstler angegeben: Theresia (geboren 1885 in Wiseschdia), Katharina Amalie (geboren 1888 in Nakodorf), Franz (geboren und gestorben 1890 in Nakodorf) und Michael (geboren 1892 in Nakodorf).

Die Familie Künstler ist höchstwahrscheinlich von Nakodorf nach Schoschdea gezogen. Warum aber nach Schoschdea, in ein rumänisches Dorf? Vielleicht hat Jakob Künstler, von Beruf Schuster dort sein Auskommen für sich und seine Familie gefunden. Oder aber er hat auf dem nur drei Kilometer von Schoschdea entfernten Gut des Barons Biach-Baiersdorf eine Anstellung gefunden. Auf dem Gut des Barons stand seit dem Jahre 1891 ein Kastell. Später existierte an dieser Stelle der anfangs Neu-Schoschd(ea), später Waldau benannte Ort. Das Dorf  wurde 1908 gegründet. Waldau war das jüngste und letzte deutsche Dorf, das im Banat angelegt wurde. Die Auflösung der Ortschaft erfolgte bereits Mitte der 1960er Jahre. In Schoschdea selbst, dem Waldau verwaltungsmäßig unterstand, lebten nur wenige Deutsche, 1977 waren es gerade mal drei. Aus Schoschdea sind folgende deutsche Namen bekannt: Johann Arnold (Schmiedemeister), Karl Dörner (Eigentümer einer großen Ölmühle und einer kleinen Holzhandlung), Ehling (Inhaber eines Greißlergeschäftes / Krämerladens), die Brüder Goldschmied (Grundbesitzer) und die Grundbesitzer-Familie Weiß (siehe Heinrich Freihoffer / Peter Erk: Waldau. Ein Nachruf, 1990, S. 50). Der Name Künstler fehlt. Es scheint, dass die Familie nicht allzu lange in Schoschdea ansässig gewesen ist, denn Anna Künstler, die Mutter von Franz Künstler, starb 1904 bereits in Nakodorf.

„Ich war kein Hurra-Soldat“
Franz besuchte das Lenau-Gymnasium in Temeswar und wollte Jura studieren. „Für mich zählten doch Bücher über alles“, so Künstler im Gespräch mit André Groenewoud im März 2008. Es sollte aber anders kommen. Am 6. Januar 1918, dem Tag der Musterung, ist für ihn die unbeschwerte Jugend vorbei. Nach einer nur sechswöchigen Grundausbildung in Szeged ging es als Soldat der berittenen Artillerie (Kanonier) an die italienische Front an die Piave. Die halbwüchsigen Rekruten des Jahrgangs 1900, die Anfang 1918 nach kurzer Ausbildung als Kanonenfutter in den Krieg geschickt wurden, waren des Kaisers letztes Aufgebot. „Ich bin alles andere als stolz darauf, der letzte Soldat des Kaisers zu sein“, sagte Franz Künstler im bereits erwähnten Gespräch mit Groenewoud. „Ich war kein Hurra-Soldat und habe nur das getan, was ich tun musste. Die Jugend musste sich gegenseitig umbringen. Ist das gerecht?“
An der italienischen Front an der Piave und am Isonzo haben viele
Banater Schwaben gekämpft, so auch Nikolaus Barbeck aus Keglewichhausen. Er bestätigt Franz Künstlers Einstellung zum Ersten Weltkrieg und brandmarkt ebenfalls das sinnlose Morden, wenn er über seinen Einsatz an der Isonzo-Front berichtet: „Was hawe mir Schwowe mit die Italiener ghat? Awer so is de Kriech.(…) Mir han gschoss, aane uf de anre, awer mir han net gewisst, warum.(…) Uf dere Seit ware mir, uf dr aner Seit ware sie, mir han uns net gekennt un han ufenaner gschoss. Un umgebrung!“ (Walther Konschitzky: Dem Alter die Ehr, 1982, S. 59)

Das Habsburgerreich mit einer Bevölkerung von 52 Millionen verlor im Kriege 1.200.000 Soldaten; 3.500.000 wurden verwundet und 2.200.000 gerieten in Kriegsgefangenschaft, von denen eine nicht genau festgestellte, aber bedeutende Anzahl niemals zurückkehrte (Robert A. Kann: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 bis 1918, 3. Auflage 1993, S. 432). Rund neun Millionen Soldaten zählte die Armee der k.u.k.-Monarchie während des Ersten Weltkrieges, Franz Künstler hat alle überlebt!

Für wen haben die braven Soldaten eigentlich gekämpft, für ihr Vaterland oder für den Kaiser etwa? Karl I. war, nach dem Tod des greisen Franz Joseph I. im Jahre 1916, der letzte Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Er starb, kaum 35-jährig, 1922 in seinem portugiesischen Exil auf der Insel Madeira. Kaiserin Zita wurde fast 97 Jahre alt (1892-1989) und  fand ihre letzte Ruhestätte in der Kapuzinergruft in Wien. Hier ruhen insgesamt 12 Kaiser und 19 Kaiserinnen.

Franz Künstler, der seinen Kaiser um 86 Jahre überlebte, hat in dem Film „Menschen und Mächte. Der Erste Weltkrieg“ (2008) mitgewirkt. Die Dokumentation von Andreas Novak und Robert Gokl beschäftigt sich mit dem im öffentlichen Gedächtnis bereits wenig präsenten Ersten Weltkrieg, mit seinen Hintergründen, Ursachen, Wirkungen und Folgen.

Auseinandersetzung mit den Pfeilkreuzlern
Nach der Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee an der Italienfront und dem Ende des Ersten Weltkriegs schlug sich Franz Künstler bis nach Wien durch. In der Zwischenkriegszeit lebte er in Ungarn und betreibt als Kaufmann einen eigenen Laden in der Budapester Vorstadt. 1921 heiratet er seine Freundin Elisabeth Agocs, ein Jahr später kommt Sohn Franz zur Welt. Auch im Zweiten Weltkrieg kommt Franz Künstler zum Einsatz, so 1942 in der Ukraine als Motorradkurier an der Front. Das waren wegen den Partisanen immer sehr gefährliche Fahrten.

Der schlimmste Moment in seinem Leben, so Künstler, war die Auseinandersetzung mit den Pfeilkreuzlern. Vor ein Standgericht gestellt, gelingt es ihm mit Bestechungsgeld in letzter Minute zu entkommen. Die Pfeilkreuzler, eine 1939 von Ferenc Szálasi gegründete nationalsozialistische Partei in Ungarn, errichteten mit Unterstützung des Dritten Reiches von Oktober 1944 bis März 1945 in den noch nicht von der Roten Armee besetzten Teilen Ungarns eine nationalsozialistische Regierung.

Wegen angeblicher Parteischädigung wird Franz Künstler im Oktober 1945 von den Kommunisten verhaftet und in einer Kaserne interniert. Im Januar 1946 gelingt ihm die Flucht, er taucht unter und findet in der Provinz bei einem seiner ehemaligen adeligen Kunden Unterschlupf. Im Mai 1946 erscheint seine Frau bei ihm mit dem Ausweisungsbescheid. Als Angehöriger der deutschen Minderheit muss er  Ungarn verlassen. Er wurde offiziell staatlicherseits aus dem Land ausgewiesen, also regelrecht vertrieben!

Viele Ungarndeutsche wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt oder aber zwischen 1946 und 1948 nach Deutschland (zuerst in die amerikanische, später in die russische Besatzungszone) abgeschoben.
Über Passau, Stuttgart und nach der Notaufnahme im Flüchtlingslager Backnang gelangt das Ehepaar Künstler ins etwa zwanzig Kilometer von Bad Mergentheim entfernte hohenlohische Niederstetten. Als Donauschwaben sind sie alles andere als willkommen. Zu André Groenewoud sagte Franz Künstler: „In Ungarn war ich ein Herr. In Niederstetten dagegen waren wir der letzte Dreck“. Aus Ungarn von den Kommunisten nach dem Krieg vertrieben, in Deutschland als Zigeuner angesehen und behandelt – die neue Heimat bleibt Franz Künstler auf Jahre fremd. „Die Deutschen wollten uns nicht, sie haben uns gehasst“.

In Deutschland nicht willkommen
Beispiele dafür, dass Einheimische die Vertriebenen, die „Habenichtse“ aus dem Osten drangsalierten, gibt es zuhauf. Die Einheimischen hatten überhaupt keine Kenntnisse über die Deutschen im Osten und Südosten. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. „Ostdumm“ nennt der Liedermacher Wolf Biermann dieses Phänomen. Diesbezüglich heißt es bei Andreas Kossert, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen in Baden-Württemberg (und nicht nur dort) bei den Einheimischen auf Ablehnung gestoßen sind: „Verhängnisvoll war aber vor allem, dass so vieles als fremd empfunden wurde, weil die meisten Einheimischen überhaupt keine Vorstellung vom Osten hatten. Und man sah den Flüchtlingen nicht an, wie kultiviert und wohlhabend sie einst gelebt hatten“ (Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 2008, S. 126). „In der etablierten Öffentlichkeit und in den maßgeblichen Milieus der jungen Generation, die von der Sprachregelung von 68 geprägt sind, gilt bis heute der Begriff ‚Vertriebener‘ als Schimpfwort, bis hin zum Unwort ‚Berufsvertriebener‘“, schreibt Richard Wagner in seinem Buch „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ (2006, S. 150).

Der Banater Journalist und Schriftsteller Ludwig Schwarz berichtet aus seiner Kriegszeit auch über Begegnungen mit Reichsdeutschen. Die haben gemeint, dass das Banat irgendwo drei Ackerlängen weit hinter dem Mond liegt und wir noch im Wald auf den Bäumen schlafen, so Schwarz. Ein Leutnant sagte: „Volksdeutsche wollt ihr sein? Ihr seid die Zigeuner des deutschen Volkes!“

Ältester Museumsführer der Welt
Die ersten Jahre in Niederstetten waren für Franz Künstler hart. Erst später war man stolz auf den in Würde gealterten Weltkriegsveteranen. Anfangs hält er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, dann findet er in einem Versandhaus in Bad Mergentheim eine Anstellung. Seit einer schweren Grippeerkrankung 1956 ist Franz Künstler arbeitsunfähig und in Rente. Er war also bis zu seinem Tod 2008 ganze 52 Jahre Rentner! Um seine doch recht bescheidene Rente aufzubessern, hat Franz Künstler alte Holzmöbel restauriert und verkauft.

Nach dem Tod seiner Frau Elisabeth im Jahre 1979, so die Inschrift auf dem Grabstein (in den Medien wird ihr Sterbejahr mit 1981 angegeben), lebt und versorgt sich der Witwer allein. Mehr als dreißig Jahre und bis ins hohe Alter war er als Museumsführer im Jagdmuseum von Schloss Haltenbergstetten in Niederstetten tätig. Die Zeitschrift „Focus“ berichtet  2004 unter dem Titel „104-Jähriger steht im Museum“ über Franz Künstler als Museumsführer. Er war der wohl älteste tätige Museumsführer der Welt, und Johannes Heesters (1903-2011) galt als der weltweit älteste noch aktive Schauspieler und Sänger. Beide sollten 108 Jahre alt werden! Künstlers Wohnhaus befand sich in direkter Nachbarschaft zum Schloss des Fürsten Johannes von Hohenlohe-Jagstberg. Als Führer im Jagdmuseum war der hundertjährige Franz Künstler eine Ausnahmeerscheinung, ein Unikum.

Das Alter machte ihm keine Freude. „Ich sitze hier wie in einem Gefängnis“, klagte er. In seinen letzten Lebensjahren machten ihm seine Beine, die ihm immer mehr den Dienst versagten, und Gleichgewichtsstörungen zu schaffen. Franz Künstler las sehr viel, und das meistens nachts.

André Groenewoud beschreibt seinen 107-jährigen Gesprächspartner als einen freundlichen, mindestens zwanzig Jahre jünger aussehenden alten Herrn mit Brille, Hut, weißem Schnauzer und Gehstock. Ein Lebensrezept hat er keines und er kann es sich nicht erklären, wie er so alt werden konnte. „Wahrscheinlich sind es die Gene“, so Künstler. Seine Großmutter väterlicherseits, Anna Maria Künstler, wurde 93 Jahre alt. Jüngeren Zeitgenossen riet er, Äpfel zu essen und Pfarrern sowie Ärzten gründlich zu misstrauen.

Der letzte Soldat des Kaisers Karl I.
Nachdem am 2. April 2008 erfolgten Ableben des letzten osmanischen Veteranen im Alter von 110 Jahren und nach dem Tod von Dr. Erich Kästner, Oberlandgerichtsrat i.R. (geboren am 10. März 1900 in Leipzig-Schönefeld, gestorben am 1. Januar 2008 in Pulheim bei Köln), war Künstler der „letzte Soldat des Kaisers Karl I.“ und laut Medienberichten auch der älteste Deutsche. Die Tatsache, dass er der letzte Veteran des Ersten Weltkriegs auf Seiten der Mittelmächte war, brachte Franz Künstler in seinen letzten Lebensmonaten noch Popularität. Er erhielt viele Autogrammwünsche aus Deutschland, aus England und den USA. „Ich bräuchte eine Sekretärin“ so Künstler. Sein plötzlicher „Ruhm“ war ihm aber eher unangenehm und er hat auch die Autogrammwünsche nicht erfüllt.

Als Franz Künstler 105 Jahre alt war, bekam er die Staufer-Medaille des Landes Baden-Württemberg. „Wenn ich 110 bin, kann mich der Teufel holen!“, sagte Künstler im März 2008 dem Magazin „Cicero“. Aber bereits zwei Monate später starb er an den Folgen einer Darmoperation und eines Oberschenkelhalsbruchs und wurde am 4. Juni auf dem Friedhof in Niederstetten an der Seite seiner Ehefrau beerdigt. Ein im kleinen und unscheinbaren rumänischen Schoschdea bei Moritzfeld begonnenes und ereignisreiches Jahrhundert-Leben, mit Höhen und Tiefen und voller Abenteuer hat, fern der Banater Heimat, im Hohenlohischen, sein Ende gefunden. Franz Künstler hat seinem Namen alle Ehre gemacht, er war ein „Lebenskünstler“, ein Banater Landsmann, auf den wir stolz sein können.