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Unsere vergessene französische Geschichte

Charleville-sous-Bois: Kirche Saint-Claude, errichtet 1622, und Rathaus der 294-Einwohner-Gemeinde Foto: Jean-Henri Michel

Ausschnitt aus der Gründungsurkunde des Heimatmuseums von St. Hubert im serbischen Banat (1939). Sie wurde bei Umbauarbeiten im Mauerwerk gefunden, von einem Donauschwaben erworben und 2007 dem Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm geschenkt. Foto: DZM

Saint-Hubert: Die 1602 im Wald des Zisterzienserklosters Villers-Bettnach gegründete Gemeinde hat 224 Einwohner. Foto: Patrick Giessberger

Eine Veranstaltung im Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm ging der Frage nach der doppelten Identität der Banater Schwaben nach. Über die französische Geschichte der Banater Schwaben wird nur selten berichtet oder geschrieben. Das dürfte ein Fehler sein, denn das Interesse daran scheint groß zu sein. Das war letzten Herbst in Sindelfingen so, als es im Haus der Donauschwaben um dieses Thema ging. Und es war wiederum so, als am 11. April 2018 das Donauschwäbische Zentralmuseum (DZM) in Ulm zu einer Veranstaltung über das Banat und seine französischen Kolonisten einlud. Obwohl die Abendveranstaltung mitten in der Woche stattfand, war der Saal im DZM voll. Es sind sogar Zuhörer aus Tübingen und Freiburg angereist, weil sie das Thema so spannend finden.

Im Mittelpunk des Gesprächs, das Leni Perenčević mit Ernst Meinhardt führte, stand die Frage, ob die Banater Schwaben außer einer deutschen auch eine französische Identität haben. Meinhardt bejaht diese Frage. Zu diesem Schluss kommt er durch seine Forschungen über die Banater Dörfer, in denen im 18. Jahrhundert vor allem Franzosen angesiedelt wurden, also Triebswetter im heutigen rumänischen Banat sowie St. Hubert, Charleville und Seultour im serbischen Banat. Meinhardt ist Redakteur beim Fernsehen der Deutschen Welle in Berlin. Mit den Banater Franzosendörfern beschäftigt er sich seit einem guten Jahrzehnt. Leni Perenčević, die Organisatorin und Moderatorin der Ulmer Veranstaltung, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am DZM.

Französische Namen deuten auf Vorfahren hin

Für Meinhardt sind die Banater Schwaben ohne Zweifel eine deutsche Minderheit in und aus Südosteuropa. Doch hat ein Teil von ihnen französische Vorfahren, die vor allem aus dem französischsprachigen Teil Lothringens ins Banat kamen. Bester Beleg dafür sind französische Namen, die bis heute erhalten geblieben sind. Manche unverändert wie zum Beispiel Renard, Damas, Frecot, Cordier oder Picard, andere mehr oder weniger entstellt, da phonetisch, also nach Gehör aufgeschrieben, zum Beispiel Dibo (Dubois), Dippong (Dupont), Matje (Mathieu), Ditje (Didier), Leblang (Leblanc), Pier (Pierre), Renye (Regnier) oder Oberten (Aubertin).

Warum Französisch so schnell verschwand

Als die Schwestergemeinden 1770, Triebswetter 1772 besiedelt wurden, waren die französischen Kolonisten eindeutig in der Mehrheit. In Triebswetter lag ihr Anteil bei über 60 Prozent, in St. Hubert, Charleville und Seultour könnten es sogar 70 Prozent gewesen sein. Doch hielt sich die französische Sprache nur etwa drei Generationen lang. Danach trat das Deutsche, genauer die im Banat gesprochene deutsche Mundart an ihre Stelle. Dass Französisch so schnell verschwand, dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste war: Wenn man in einer deutschsprachigen Umgebung lebt, wenn alle anderen Dörfer rundherum deutschsprachig sind, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als die Sprache der Nachbarn zu lernen. Schließlich will man sich mit ihnen verständigen, mit ihnen Handel treiben, untereinander heiraten. Auch legte die Habsburger Monarchie keinen übersteigerten Eifer an den Tag, Unterricht in französischer Sprache anzubieten.

Heute kann man dieses Phänomen mit umgekehrtem Vorzeichen in Lothringen beobachten. Französisch versteht und spricht jeder, auch im einst deutschsprachigen Teil Lothringens. Demgegenüber geht die Zahl derjenigen, die deutsche Mundarten verstehen und sprechen, also Rhein-, Mosel- oder Luxemburger Fränkisch, ständig zurück.

Französische Abstammung half Triebswetterern zwei Mal

Meinhardt berichtete, wie die französische Abstammung den Triebswetterern zwei Mal in Notlagen half. Als Anfang 1945 viele Banater Schwaben zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden, blieben 345 Triebswetterer aufgrund ihrer französischen Wurzeln verschont. Das hatte der Triebswetterer Hans Damas der Bukarester Regierung abgerungen. Später erreichte er, dass die Triebswetterer – im Gegensatz zu den anderen Banater Schwaben – ihr Ackerland behalten durften. 1947/48 wurden allerdings auch sie enteignet. Aber immerhin konnten sie noch drei Jahre lang – 1945, 1946 und 1947 – die Ernte von ihren eigenen Feldern einbringen. Hans Damas’ Bemühungen, die Triebswetterer vor der Verschleppung und Enteignung zu bewahren, gingen später unter dem Namen „Französische Aktion“ in die Geschichtsbücher ein. Teil dieser Aktion war auch die Gründung eines französischen Kindergartens und einer französischen Schule, die aber 1948 – wie alle konfessionellen Bildungseinrichtungen Rumäniens – aufgelöst wurden.

Französisch-deutsches Erbe von Tito-Partisanen zerstört

In den drei Schwestergemeinden St. Hubert, Charleville und Seultour gründete der Landwirt Nikolaus Heß 1939 ein Heimatmuseum. Darin trug er Gegenstände zusammen, die noch aus der Ansiedlungszeit stammten. Das Museum war durch Spenden der Bewohner der drei Schwestergemeinden zustande gekommen. Als die kommunistischen Tito-Partisanen die Dörfer im Oktober 1944 besetzten, schleppten sie fast alle Museumsexponate in den Hof und zündeten sie an. Nikolaus Heß, den Museumsgründer und Historiker der drei Gemeinden, erschossen sie wenige Tage später in Kikinda. Einige wenige Museumsbestände, die die Zerstörungswut überlebten, können heute im Historischen Archiv der Stadt Großbetschkerek (Zrenjanin) besichtigt werden. Darüber berichtete Filip Krčmar auf der Veranstaltung in Ulm. Krčmar arbeitet in diesem Archiv und ist derzeit Stipendiat am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Dem Publikum in Ulm konnte Leni Perenčević die Gründungs-
urkunde des St. Huberter Museums zeigen. Diese Urkunde war bei Umbauarbeiten im Mauerwerk des
Museums entdeckt worden. Bernhard Schenk, ein Donauschwabe aus Karlsfeld bei München, erwarb sie 2002 für einen „Finderlohn“ von 100 Euro und schenkte sie 2007 dem DZM.

Heute gibt es unter den rund 3000 Einwohnern der drei Schwestergemeinden keinen einzigen Donauschwaben mehr. Die Dörfer sind auch nicht mehr selbständig. 1947 wurden sie zu „Veliko Selo“ (Großes Dorf) zusammengelegt. 1948 erhielt die Gemeinde den Namen „Banatsko Veliko Selo“ (Großes Banater Dorf). 1960 wurde sie nach Kikinda eingemeindet. Die katholische Kirche von St. Hubert, die die Einwohner der drei Dörfer gemeinsam nutzten, haben die Partisanen Karfreitag 1948 gesprengt und um 1952 vollständig abgerissen. Auch der gemeinsame Friedhof wurde eingeebnet und durch einen Park ersetzt. Das von Nikolaus Heß gegründete Heimatmuseum dient heute als Rentner-Vereinshaus.

Forschen in Serbien: für Ausländer schwierig

Wer als Ausländer im heutigen Serbien forschen möchte, dem werden viele Steine in den Weg gelegt. Auf der Veranstaltung in Ulm berichtete Meinhardt, was er auf seiner Recherchereise durch die drei Dörfer erlebte. Im Standesamt von St. Hubert hätte er gern die dort aufbewahrten Kirchenmatrikeln eingesehen. Das war aber leider nicht möglich. „Die Standesbeamte Olga Kovačević, hatte, wie es schien, an diesem Tag nur zwei Wörter in ihrem Wortschatz: ‚nein‘ und ‚verboten‘“, erzählte Meinhardt. Sie habe ihm noch nicht einmal erlaubt, den Einband eines Matrikelbuchs zu fotografieren. Zum Forschen, sagte sie, benötige man als Ausländer eine schriftliche Genehmigung der zuständigen Behörde der Vojvodina. Eine formlose Einladung per E-Mail reiche nicht aus; auch dann nicht, wenn der Einladende Mitglied der Regierung der Vojvodina sei. Die amtliche Genehmigung müsse unbedingt in serbischer Sprache verfasst sein.

In seiner Wortmeldung auf der Ulmer Veranstaltung berichtete Filip Krčmar, dass das Fernsehen der Vojvodina mit Sitz in Neusatz (Novi Sad) gerade an einer Dokumentation über die drei einstigen Franzosendörfer arbeitet. Schön wäre es, wenn sie bis 2020 fertig würde. Dann können die drei Dörfer ihr 250-jähriges Jubiläum feiern. Triebswetter folgt zwei Jahre später.

Französische Vorfahren kamen aus Lothringen

Die französischen Vorfahren der Triebswetterer kamen vor allem aus der Gegend um Château-Salins. Diese Stadt mit etwa 2500 Einwohnern liegt 50 Kilometer südöstlich von Metz. Die Kolonisten von St. Hubert, Charleville und Seultour nannten ihre Dörfer genauso, wie ihre lothringischen Heimatdörfer hießen. Saint-Hubert, Charleville-sous-Bois und Sainte-Barbe liegen zwischen 15 und 25 Kilometer nordöstlich von Metz. Dass aus Sainte-Barbe im Banat Seultour wurde, hat der Legende nach damit zu tun, dass die Ansiedler bei ihrer Ankunft dort nur einen einzelnen Turm vorfanden, französisch „seule la tour“. Die Verbundenheit mit ihrem Herkunftsort bewahrten sie dadurch, dass sie wie in Lothringen die Heilige Barbara zu ihrer Schutzpatronin machten.

Berlin pflegt seine französische Vergangenheit

Auf der Veranstaltung in Ulm berichtete Meinhardt auch darüber, wie vorbildlich Berlin mit seiner französischen Vergangenheit umgeht. Das gilt sowohl für die Hugenottenzeit als auch für die Zeit, in der Berlin geteilt war. Im einstigen West-Berlin waren die Franzosen – zusammen mit den Briten und den US-Amerikanern – zunächst Besatzungs-, später Schutzmacht.

An die Hugenottenzeit erinnern bis heute Gebäude wie der Französische Dom und die Französische Friedrichstadtkirche, in der auch heute noch jeden Sonntag ein evangelisch-reformierter Gottesdienst in französischer Sprache gehalten wird, der Französische Kirchhof im Bezirk Mitte, auf dem der Schriftsteller Theodor Fontane ein Ehrengrab hat, oder der Ortsteil Französisch-Buchholz, in dem viele Straßen Namen der ersten hier angesiedelten Hugenotten tragen.

An die Zeit der französischen Besatzungs- beziehungsweise Schutzmacht erinnern das „Centre Français“ im Wedding oder das „Centre Bagatelle“ in Frohnau, darüber hinaus Siedlungen wie die Cité Foch, die Cité Pasteur oder die Cité Joffre, in denen bis 1994 französische Militärangehörige wohnten. Die Straßen in diesen Siedlungen tragen heute noch jene Namen, die ihnen die Franzosen gaben, zum Beispiel Avenue Charles de Gaulle, Rue Montesquieu oder Place Molière. Der französische Auslandssender Radio France Internationale hat im Zentrum Berlins sein Korrespondentenbüro und kann – wie früher der Soldatensender „Radio Forces Françaises de Berlin“ – rund um die Uhr in französischer Sprache auf UKW gehört werden. Das Französische Gymnasium, französisch „Lycée Français“, ist die älteste öffentliche Schule Berlins. Sie wurde Ende des 17. Jahrhunderts für die hugenottischen Flüchtlinge errichtet.

Identität eher von der Gegenwart abhängig

Die These von der doppelten Identität der Banater Schwaben vertritt außer Ernst Meinhardt auch die rumänische Philologin und Anthropologin Dr. Smaranda Vultur. Frau Vultur lehrt an der Temeswarer West-Universität. Durch ihre Forschungen über die Banater Schwaben wurde ihr klar, dass sie nicht nur eine deutsche, sondern auch eine französische Vergangenheit haben und demnach auch eine französische Identität haben müssten. Nach langjährigen Feldforschungen im Banat fuhr sie nach Frankreich, um zu erkunden, was aus den 10000 Banater und donauschwäbischen Flüchtlingen wurde, die ab 1947/48 in Frankreich eine neue Heimat fanden. Sie besuchte das von ihnen wieder auf-
gebaute Dorf La-Roque-sur-Pernes in der Provence.

Auswanderung ins Banat: Wichtiges Thema für Franzosen

An französischen Universitäten und Akademien stieß sie auf zahlreiche Arbeiten, die belegen, wie ernst französische Wissenschaftler das Thema „Auswanderung aus Lothringen ins Banat“ nehmen. Bis heute beschäftigen sie sich damit. Die ältesten Publikationen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Dass diese Forschungen an uns Banater Schwaben vorbeigingen, dass wir sie kaum zur Kenntnis nahmen, dürfte in erster Linie an unseren fehlenden Französischkenntnissen liegen. Vielleicht hätten sowohl wir als auch Außenstehende ein ganz anderes Bild von uns, hätten wir von Anfang an auch das in unsere Schriften und Betrachtungen einbezogen, was man in Frankreich über uns schreibt. Vielleicht erschiene uns dann die Idee von unserer doppelten deutsch-französischen Identität gar nicht mehr so abwegig. Bereits 2015 schrieb Smaranda Vultur: „Ich glaube nicht an geschlossene, statische Identitäten, sondern an eine offene, lebendige, dynamische Identität. Was jemand sein möchte, ob Deutscher oder Franzose, ist eine Augenblicks-entscheidung, die von vielem abhängt, nicht nur von der ethnischen Herkunft. Und die Entscheidung, mal dieser, mal jener Gruppe anzugehören, hängt meines Erachtens in viel stärkerem Maße von der Gegenwart als von der Vergangenheit ab.“

Trifft das nicht sehr genau auf die Banater Schwaben zu? Ein Teil von ihnen hat französische Vorfahren. Diese Franzosen wurden im Banat, in einer deutschen Umgebung, zu Deutschen. Je nachdem, wohin sie das Schicksal nach 1944/45 verschlug, änderte sich – wenn nicht ihre – so doch die Identität ihrer Nachkommen. Die einen betrachten sich heute als Deutsche, die anderen als Österreicher. Wessen Eltern oder Großeltern in die Provence nach La-Roque-sur-Pernes gingen, der betrachtet sich als Franzose. Und wer Nachkomme von Banater oder Donauschwaben ist, die 1951 in die Siedlung Entre Rios im Bundesstaat Paraná gingen, der fühlt sich heute wahrscheinlich als Brasilianer.