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Sinn und Möglichkeiten der Familienforschung im Banat

An Familienforschung interessierte Landsleute folgen aufmerksam den Ausführungen der Historikerin Dr. Hertha Schwarz. Foto: Oleg Kuchar

Der diesjährige Heimattag in Ulm stand unter dem Motto „300 Jahre Banater Schwaben. Wir schreiben unsere Geschichte fort“ und nahm damit Bezug auf die Eroberung der Festung Temeswar durch das kaiserliche Heer unter dem Kommando Eugens von Savoyen-Carignan am 16. Oktober 1716. In der langen und wechselvollen Geschichte des Banats markiert dieser Tag den Beginn der deutschen Geschichte in diesem Landstrich und somit die „Geburtsstunde“ der Banater Schwaben, die im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus dem nach 1716 einsetzenden Kolonisationsprozess hervorgehen sollten. Ihr abruptes Ende fand die deutsche Geschichte des Banats und somit die der Banater Schwaben in ihren Siedlungsgebieten im ehemaligen Jugoslawien bereits 1944/45 und in Rumänien spätestens 1989, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die bis dahin noch in
Rumänien lebenden Deutschen das Land verließen.

Die Geschichte der Banater Schwaben ist zwar – historisch gesehen – nur von relativ kurzer Dauer gewesen, sie ist jedoch aufgrund der Begleitumstände äußerst komplex. Ihre Erforschung speist sich aus zahlreichen Quellen, vor allem aus den Dokumenten der jeweiligen Landesherrn, den Ereignissen der allgemeinen politischen Geschichte, aus der Landeskunde und der Ethnographie. Aus diesen Quellen und ihren Aus-legungen sind Narrative, also Erzähltraditionen entstanden, die aber, abhängig von ihrer Entstehungszeit und Absicht, teils arg verkürzt, teils bewusst entstellend und manipulativ, und teils einfach nur oberflächlich sind. Sieht man von der offenkundigen und leicht durchschaubaren
politischen Motivation wie den Magyarisierungsversuchen und der kommunistischen Geschichtsklitterung ab, so liegen die Gründe hierfür in einer starken Ungleichgewichtung der Quellen, da sich selbst die seriöse Forschung zumeist nur des gut aufbereiteten Materials bedient, das die Züge der internationalen Politik beleuchtet und damit zwar übergeordnete Zusammenhänge politischer,
diplomatischer und militärischer Natur erfassen kann, nicht aber die historische Entwicklung des Landes und seiner Ethnien in ihrer ganzen Breite. So entstehen in der Forschung Stereotypen, die einer ganzen Region übergestülpt werden, obwohl sie nur einen kleinen Ausschnitt betreffen. Dabei ist vor allem für das Banat ab 1716 Quellenmaterial in Hülle und Fülle vorhanden: Es beginnt bei den „Banater Akten“ der Wiener Hofkammer, jenen amtlichen Dokumenten, die die Kolonisation des Banats betreffen, geht weiter über die Akten und Unterlagen der kaiserlichen Temescher Verwaltung und ihrer Rentämter, der Mappierungsdirektion und den Urbarialakten, gefolgt von den königlich-ungarischen Akten des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Dokumenten der rumänischen bzw. serbischen Verwaltung und den Gemeindeakten, die ab ca. 1900 in großer Zahl erhalten sind. Von diesen Quellen werden lediglich Teile der Banater Akten regelmäßig zu Forschungszwecken herangezogen, alle anderen Quellen sind bislang weitgehend oder gänzlich ungenutzt geblieben.

Kirchenbücher als historische Quelle

Zu diesen Dokumenten der welt-lichen Gewalt gesellen sich noch die Quellen der Kurie, vor allem die Kirchenbücher, die in jeder Gemeinde geführt werden mussten und bis zur Einführung standesamtlicher Register in Ungarn 1895 die einzigen Akten waren, die Auskunft zum personenrechtlichen Stand einer Person gaben. Ein „Kirchenbuch“ besteht immer aus drei Büchern, auch Matrikeln genannt, und zwar aus dem Geburtenbuch bzw. dem Taufmatrikel, dem Ehebuch (Heiratsmatrikel) und dem Sterbebuch bzw. Sterbematrikel. In diesen Matrikeln finden sich – abhängig von Zeit und Sorgfalt des amtierenden Priesters – zusätzlich zu den Ereignisdaten Taufen, Heirat und Tod noch allerlei Informationen zur Person, wie etwa zu Eltern, Herkunft, Wohnort, Beruf, Todesursache und Bemerkungen aller Art, die dem Pfarrer wichtig erschienen. Die Auswertung der Kirchenmatrikeln – idealer Weise die aller Konfessionen, sofern es vor Ort mehrere gegeben hat –, kombiniert mit den Informationen aus den weltlichen Quellen (z.B. Steuerlisten, Gerichtsakten, Kataster) ergeben für die Vergangenheit eine Datenbasis, die es an Verlässlichkeit jederzeit mit den statistischen Erhebungen unserer Tage aufnehmen kann, die lediglich auf Stichproben und entsprechende Hochrechnung beruhen. Sie bilden eine solide Basis, die der willkürlichen „Interpretation“ von Geschichte einen Riegel vorschiebt und ihre in der Vergangenheit oft versuchte Umschreibung unmöglich macht.

Angesichts dieser Bedeutung des Materials stellt sich natürlich die Frage, warum diese Daten in der Forschung nicht gebührend berücksichtigt wurden. In diesem Zusammenhang sei zunächst darauf hingewiesen, dass die Kirchenbücher nach 1945 in Jugoslawien mit anderen  Kulturgütern der Deutschen teils systematisch zerstört und in Rumänien Anfang der 1950er Jahre bis auf die damals aktuellen Verzeichnisse enteignet und in staatliche Archive verbracht wurden. Dort wurden sie zwar – wie sich jetzt herausstellt – gut aufbewahrt, sie waren aber Jahrzehnte lang nicht zugänglich und somit war an eine systematische Auswertung nicht zu denken. Ein weiterer, allgemein gültiger Grund für die Vernachlässigung der Kirchenbücher als historische Quelle ist die mangelnde Präzision des Begriffes „Familienforschung“: Die Genealogie, also die Familienkunde oder Familienforschung, wird den sogenannten Historischen Hilfswissenschaften zugerechnet; in der akademischen Forschung beschäftigt sie sich jedoch ausschließlich mit der Erforschung von Adelshäusern. Die mit dem weit gefassten Begriff „Familienforschung“ bezeichnete Auswertung von Kirchenbuchdaten wird dagegen im privaten Bereich verortet und damit wird ihren Daten indirekt die historische Dimension quasi abgesprochen. Das ist ein fataler Irrtum, denn das berechtigte Interesse des Einzelnen an bestimmten Daten solcher Sammlungen schmälert in keiner Weise den Wert der Gesamtquelle für die Geschichtsforschung. Bereits in dem Augenblick, in dem sich jemand entschließt die Kirchenbücher einer Gemeinde zu verkarten – so der Fachausdruck für das Erstellen eines Familienbuches –, und dabei alle verzeichneten Informationen aufnimmt, wird die historische Dimension der Familienforschung sichtbar. Es entsteht – natürlich abhängig vom Umfang der Quellen – eine minutiöse Datenbasis für einen Ort innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, die Erkenntnisse erlaubt zur demographischen Entwicklung, zu Sitten und Gebräuchen, dem Heiratsverhalten, der Entwicklung der ausgeübten Berufe, dem Verhältnis von Ab- und Zuwanderung im Ort, zu Kinder- und Müttersterblichkeit, zu medizinhistorischen Aspekten und zu den Auswirkungen von Krisensituationen oder konkreten historischen Ereignissen auf diese Gemeinde. Freilich ist die Bearbeitung solcher Quellen ungemein mühselig, selbst wenn man von dem Problem der Handschriften und der lateinischen Sprache absieht. Der mit der Erfassung und Auswertung dieser Daten verbundene Zeitaufwand mag ein weiterer Grund dafür sein, warum die Familienforschung sich nicht gebührend im Kanon der historischen Grundwissenschaften an den Universitäten hat etablieren können.

Familienforschung schafft Heimat

Jenseits der akademischen Geschichtsforschung erfüllt die Fami-lienkunde bzw. Familienforschung aber noch eine weitere, sehr wichtige Aufgabe: Sie schafft Heimat. Ein Ort, über den man nichts weiß, wird
einem immer fremd bleiben, auch wenn man sein ganzes Leben dort verbringt. Die bloße Anwesenheit
allein vermag nicht zu der heutzutage vielbeschworenen „Wurzelbildung“ führen. Weiß man aber, warum z.B. eine Feldflur einen bestimmten Namen trägt oder welche Menschen und Schicksale mit einer gewissen Wegmarke verbunden sind, wessen Name eine Gasse oder ein Haus trägt und wer auf dem Richtplatz als Hexe verbrannt wurde, entsteht jene Verbundenheit zu dem Ort, die unter dem Begriff Heimat subsummiert wird.

Für die Banater Schwaben wie überhaupt für alle Vertriebenen erfährt dieser allgemeine Aspekt noch eine Erweiterung: Familienforschung schafft und bewahrt Heimat, denn die Dokumentation der Heimat in Gestalt der Menschen, die dort gelebt haben, dient der kulturellen Selbstvergewisserung. Die destruktive Absicht, die den Zerstörungen und Enteignungen der Kirchenbücher nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien und in Rumänien innewohnt, hat daher ihre konstruktive Kehrseite in dem Bestreben der Donau- bzw. Banater Schwaben, ihre Geschichte zu dokumentieren, die Quellen zu retten und zu konservieren, um so die Leistungen, die Wirkung und das Vermächtnis der Vorfahren und damit die Heimat dort zu bewahren, wo sie nicht mehr zerstört werden kann: in der Geschichtsschreibung. Nicht zuletzt ist dieser Akt auch ein Triumph über das erlittene Unrecht, das auf Vernichtung abzielte.

Der unermüdlichen Arbeit des Arbeitskreises donauschwäbischer Familienforscher (AKdFF), der vor 41 Jahren gegründet wurde, um der Familienforschung in den Siedlungsbieten der Donauschwaben einen festen Rahmen zu geben und die erforderlichen Archivalien zu beschaffen, ist es zu verdanken, dass heute weite Teile der deutschen Siedlungsgebiete in Südosteuropa familienkundlich gut erschlossen sind und wichtige Archivalien sowie Kirchenbücher systematisch gesichert werden konnten. Als Folge der Archivöffnung in Rumänien ist mit der Arbeitsgemeinschaft für Veröffentlichung Banater Familienbücher (AVBF) noch eine eigene Untergruppe entstanden, die sich, wie schon der Name sagt, besonders der Bearbeitung der Banater Kirchenbücher widmet. Auch die einzelnen Heimatortsgemeinschaften haben viel für die Banater Familienforschung geleistet.

Ist die Auswertung familienkundlicher Daten ganz allgemein schon sehr informativ, so gewinnt sie im Banat noch eine ganz spezifische Tragweite, da mit ihrer Hilfe die Entstehung einer neuen Gruppe en
détail nachvollzogen und ihr Werdegang sowie ihre Wechselbeziehungen zu anderen Konfessionen und Ethnien durch die Zeit verfolgt werden können. Eine seriöse Geschichte des Banats kann daher unter keinen Umständen auf diese Quellen verzichten. An dieser Stelle seien nur zwei Ergebnisse angeführt, die quasi als Nebenprodukt der Familienforschung das Eigen- wie auch das Fremdbild der Banater Schwaben nachhaltig verändern: Ein Leitmotiv in der Geschichte der Banater Schwaben ist die Urbarmachung des Landes, infolgedessen die Siedler der ersten Generation selbstverständlich als Bauern gesehen werden. Dem war aber nicht so; natürlich waren unter den Kolonisten viele Bauern, aber es waren unter ihnen auch ebenso viele, die Berufe und Handwerke fernab der Landwirtschaft ausübten, wie z.B. die zahlreich ins Banat eingewanderten Erzgräber, Eisenschmelzer und Hammerschmiede aus Lothringen (das im 18. Jahrhundert große Teil des heutigen Saarlandes umfasste) oder Siedler mit so extravaganten Berufen wie Maler oder Vergolder. Erst im Banat wurden sie oder vielmehr ihre Nachfahren zu Bauern und Grundbesitzern.

Geht es um die Herkunft der Banat-Siedler, stößt man stets auf die Aussage, Maria Theresia habe das Banat mit Deutschen aus Elsaß, Lothringen und dem Schwarzwald besiedelt. Das ist natürlich nicht falsch, es ist aber so arg verkürzt, dass es schon wiederum recht weit davon entfernt ist, richtig zu sein. Die intensive Forschung auf breiter Basis an den Originalen der Banater Kirchenbücher hat gezeigt, wie vielfältig die Ursprungsregionen der Erstsiedler sind; im Grunde umfassen sie ganz Süddeutschland, das Herzogtum und die Provinz Luxemburg (heute ein Teil Belgiens) und reichen bis zum Eichsfeld in Thüringen, das zu Kurmainz gehörte. Unter den Siedlern waren auch Zuwanderer aus Ostpreußen sowie Deutsche aus den bereits seit mehreren Jahrzehnten besiedelten Gebieten in
Ungarn. Besonders auffallend aber und im Selbstbild der Banater überhaupt nicht vorhanden sind die vielen Schweizer, die sich im Zuge der Theresianischen Kolonisation im Banat niedergelassen haben und zu diesem Zweck, falls erforderlich, zum katholischen Glauben konvertierten. Wie Forschungen am Ursprungsort der Siedler zeigen, stammten zudem viele der aus dem Elsaß zugezogenen Personen ursprünglich aus der Schweiz. Gleiches gilt für die Pfalz und das heutige Saarland, wo – wie im Elsaß nach dem Dreißigjährigen Krieg –  ganze Landstriche entvölkert waren, die mit Auswanderern aus der Schweiz neu besiedelt worden waren, von denen es dann einige bzw. ihre Nachfahren später nach Ungarn gezogen hat.

Anhand der Banater Kirchenbücher ist deutlich erkennbar, dass der Zuzug von Neusiedlern aus dem Reich bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts angedauert hat. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kann in den Kirchenbüchern dann die Festigung der Gemeinden, die Herausbildung bestimmter Sitten und Verhaltensweisen sowie die Mobilität innerhalb des Banats nachvollzogen werden. In den Städten, allen voran in Temeswar, ist bis in die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg ein reger Zuzug von Personen aus den unterschiedlichsten Teilen Europas zu verzeichnen. Darin spiegelt sich nichts Geringeres als die zentrale Bedeutung des Banats und seiner Hauptstadt in Südosteuropa. Daran wird aber auch deutlich, was für ein gewaltiger Rückschritt die kommunistische Machtübernahme und die folgende Isolation des Landes nach 1944 für das Banat und seine Menschen bedeutete. Dieser Vorgang schlägt sich in den Kirchenmatrikeln ebenso nieder wie später der starke Rückgang der Einträge in den katholischen Matrikeln des Banats, der die rapide Auflösung der deutschen
Gemeinden dokumentiert.

Die europäische Dimension der Familienforschung

Jenseits der engeren Banater Geschichte generiert die Familienforschung im Banat noch eine weitere Dimension, denn durch die Suche nach den Ursprungsorten der Siedler wird die Banater Familienforschung mit unterschiedlichsten Orten in Europa verzahnt und so Teil der europäischen Geschichte und ihrer großen Migrationsbewegungen. Die Ausmaße und Ursachen für dieses Phänomen werden in all ihrer Vielfalt deutlich: Es war nicht immer die wirtschaftliche Not, die Menschen zur Auswanderung veranlasst hat, es war oft genug politischer Druck und Verfolgung, es war aber auch persönlicher Freiheitsdrang, der Wunsch nach Veränderung und nicht zuletzt auch eine Art Zeitphänomen mit großer Sogwirkung. Phasenweise war die Ungarnauswanderung so „in“, dass Leute Leben und Freiheit riskierten, um an das Traumziel Ungarn zu gelangen, denn – Ironie der Geschichte – viele Landesherrschaften im Deutschen Reich wollten ihre Untertanen am Verlassen des Landes hindern und hatten die Ungarnauswanderung deshalb unter Strafe gestellt.

Auch wenn schon vieles in der Banater Familienforschung geleistet worden ist: Es bleibt noch sehr viel zu tun. Vor allem gilt es, die überaus zahlreichen und bislang noch nicht ausgewerteten Quellen in den verschiedenen Archiven in Rumänien, Ungarn und Österreich zu erschließen, auszuwerten und der Forschung bereitzustellen, um endlich eine umfassende Geschichte der Banater Schwaben schreiben zu können, denn wenn sie ihre Geschichte weiterschreiben wollen, sollten sie damit beginnen, ihre Geschichte selbst zu erzählen.