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Meine Kindheit in der Verbannung

Eine Original-Distel aus dem Bărăgan-Distel im Adam-Müller-Guttenbrunn-Haus in Temeswar. Foto: Elisabeth Packi

Haus von Jakob und Elisabeth Mann, das Elternhaus der Autorin, in Billed (Aufnahme von 1938). Einsenderin der Fotos: Elisabeth Packi

Elisabeth Packi, geborene Hehn, im Bărăgan 1951.

Elisabeth Packi, geborene Hehn, mit ihrem ersten richtigen Spielzeug, einem Klavier, im Bărăgan 1955.

Unzuverlässige Elemente- „Es war gegen vier Uhr Montag früh, als ein Zivilist und zwei bewaffnete Soldaten vor der Tür standen“, erinnert sich Großmutter und legt die Stirn in Falten. „Mit Gewehrkolben klopften sie an. Von einer Liste verlasen sie die Namen: Mann Jakob, Mann Elisabeth, Hehn Hans, Hehn Elisabeth und dann noch einmal Hehn Elisabeth“. Gemeint waren meine Großeltern, meine Eltern und ich. Ich war genau einen Monat alt und die jüngste Deportierte aus dem einstigen Musterdorf Billed. Getauft war ich noch nicht. Pfarrer Wild hatte den Termin bereits festgelegt und Elisabeth Frick war als Taufpatin vorgesehen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Vorerst nicht.

„Buletinele!“ („Die Ausweise!“), befahl ein Uniformierter mit aufgepflanztem Bajonett. Nachdem sie unsere Identität überprüft und sich von unserer Vollzähligkeit überzeugt hatten, beschlagnahmten sie die Personalausweise. Spätestens in zwei Stunden sollten wir uns mit unseren Habseligkeiten auf dem Bahnhof einfinden. Es war Montag, der 18. Juni 1951. Schon seit Tagen rangierten Güterwaggons auf dem Bahnhof. Am Sonntagabend war eine Hundertschaft Soldaten mit dem verspäteten Abendzug eingetroffen und hatte Quartier in der Schule bezogen.

Meine Mutter war vor 18 Monaten aus dem sowjetischen Arbeitslager Jenakievo, im ukrainischen Donezbecken, zurückgekehrt. Dieses Schicksal hatte sie mit vielen Deutschen aus Rumänien in arbeitsfähigem Alter geteilt. Sie wurden zur Schwerstarbeit im Steinkohlenbergbau, im Eisenhüttenwerk und auf Baustellen eingesetzt. Jeder Zehnte überlebte die Zwangsarbeit nicht.

Mein Vater, als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS an der Ostfront im Einsatz, kam Ende 1945, nach einem Krankenhausaufenthalt in Vilshofen an der Donau, aus amerikanischer Gefangenschaft frei. Zwei Monate hatte er wegen schweren Erfrierungen in dem dreigeschossigen Gebäude in der kleinen Dreiflüssestadt zwischen Donau, Vils und Wolfach im Bayerischen Wald verbracht, von wo er sich nach seiner Entlassung über Österreich und Ungarn bis ins Banat durchschlug.

Und meinem Großvater Jakob Mann hatten die neuen Machthaber die Existenzgrundlage geraubt. Er wurde vollständig und entschädigungslos enteignet. Mit seinen knapp 70 Joch Feld zählte er zu den Großbauern im Dorf. Nicht nur der Feldbesitz, auch Haus und Hof wurden beschlagnahmt. Rumänische Kolonisten kamen in sein Haus. Andrei Braica, einst Knecht im Dorf, war jetzt Herr im Haus. Großvater hatte einen prosperierenden Bauernhof geführt. Der Schwäbische Landwirtschaftsverein sicherte die Ausfuhr der Agrarprodukte. Das hatte den Aufschwung der Bauernhöfe zur Folge. Eine rege Bautätigkeit setzte im Dorf ein. Auch Großvater hatte vor zu bauen. Das Baumaterial war bereits geliefert. Doch dann kamen die Kommunisten. Lastwagen brachten alles weg. Mit Großvaters Ziegelsteinen wurde der Marktplatz im Dorfzentrum gepflastert. Mähmaschine und landwirtschaftliche Geräte waren längst weg. Von den sechs stattlichen Pferden, die Großvater sein Eigen nannte, ließen sie ihm eines. „Wenn es nichts mehr zu nehmen gibt“, tröstete er Großmutter, „werden sie uns in Ruhe lassen“. Doch er sollte sich irren. Als alles weg war, kam die Deportation in den Bărăgan.

Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej hatte bereits 1949 die Liquidierung aller „kapitalistischen Elemente“ in der Landwirtschaft angekündigt. Nach Auffasung der Kommunisten war Großvater nun „Chiabur“ und als „unzuverlässiges Element“ der Willkür der neuen Machthaber ausgeliefert. Wie ihm, erging es vielen. Knapp tausend Personen aus Billed waren von der Deportation betroffen, 58 sollten die Heimat nicht wieder sehen. Anders als bei der Russlandverschleppung im Januar 1945, sollte es diesmal ganze Familien, vom Baby bis zum Greis, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, treffen. Neben Großbauern wurden auch Industrielle und Schankwirte, Flüchtlinge aus Bessarabien und Mazedonien, Ausländer und ehemalige Soldaten der Waffen-SS sowie Spitzenfunktionäre der Deutschen Volksgruppe deportiert. Etwa 40000 Menschen auf einem 30-40 Kilometer breiten Streifen entlang der jugoslawischen Grenze waren betroffen. Sie alle waren für die Urbarmachung der dünn besiedelten, wirtschaftlich weitgehend ungenutzten Bărăgansteppe im Südosten Rumäniens vorgesehen.

Unter freiem Himmel ausgesetzt

Hektik brach aus. Möbel wurden herbeigeschleppt, Koffer gepackt, Bündel geschnürt, Kisten gezimmert, Schweine und Geflügel eingefangen, der Wagen beladen, das Pferd gezäumt. In Begleitung eines bewaffneten Soldaten ging’s zum Bahnhof. Einmal, zweimal, dreimal. Niemand hat gezählt wie oft. Am Bahnhof wurde Großvater ein Waggon zugeteilt, die gesamte Habe verstaut. Drei Familien, die Großeltern mit der Familie ihrer Tochter und der ihres Sohnes, teilten sich einen Waggon mit den Hühnern, Schweinen und einer Ziege. Das Pferd wurde mit dem Großvieh untergebracht. Um halb neun abends fuhr der Transport ins Ungewisse ab. Es war der erste Transport aus Billed. Ziel unbekannt.
Langsam wurde es hell. Die Lokomotive fuhr keuchend durch die glühende Sommerhitze in Richtung
Osten. Die Luft im Waggon war rußgeschwängert. „Wir legten dir ein feuchtes Taschentuch aufs Gesicht“, sagt Großmutter, „damit du den Ruß nicht einatmest.“ Ab und zu hielt der Zug. Rotkreuzschwestern reichten Wasser und Tee. Hinter Bukarest wurde die Gegend immer trostloser. Kein Grün war mehr zu sehen. Nur vertrocknetes Gras und Disteln. Der Bărăgan! Eine dünn besiedelte Steppe mit lang anhaltenden Dürreperioden im Sommer und heftigen Schneestürmen im Winter. Nach 700 Kilometern hatten wir unser Ziel erreicht.

Am 21. Juni trafen wir am Bahnhof von Fetești ein. Es war Großmutters 50. Geburtstag. „Coborâţi!“ („Aussteigen!“), befahl eine Stimme. Wägen wurden zusammengebaut, Pferde eingespannt, Ochsenkarren zugewiesen, Habseligkeiten aufgeladen. In einer Kolonne ging’s zum Bestimmungsort. Ein Stoppelfeld! Hier wurden wir unter freiem Himmel ausgesetzt. Ausgemessene und abgesteckte Hausplätze wurden uns zugewiesen. Das Grundstück, auf dem wir uns ein Haus bauen sollten, trug die Hausnummer 11. Auf den rückerstatteten Personalausweisen stand über dem Lichtbild der Vermerk „DO“ für „Domiciliu obligatoriu“, Zwangsaufenthalt. Fünfzehn Kilometer durften wir uns von unserem Bestimmungsort entfernen. Wer diese Grenze überschritt, wurde verhaftet.

Ein heilloses Durcheinander entstand. Hektische Rufe. Knappe Anweisungen. Schnaubende Pferde. Gackerndes Federvieh. Aufgeschreckte Schweine. Und nichts als Staub in der sengenden Sommerhitze. „Man konnte keine drei Meter weit sehen. Es verschlug einem den Atem“, sagt Großmutter. „Um dich vor dem Staub zu schützen, legten wir dich in einen Schrank.“

Mit Spaten und Schaufeln huben die Männer ein Erdloch aus. Für das Dach schnitten sie Äste von den nahe gelegenen Akazienbäumen. Das Erdloch sollte uns für die nächsten Monate als Unterkunft dienen. Hier fanden wir Schutz vor der glühenden Sonne und dem Staub der Steppe. Nach etwa drei Wochen begann der Häuserbau. Die Größe des Hauses war vorgegeben. Zusammen mit den Großeltern durften wir uns ein „großes Haus“ bauen, zwei Zimmer und eine Küche mit einer Wohnfläche von 55 Quadratmetern. Das „kleine Haus“ hatte ein Zimmer und eine Küche mit einer Gesamtfläche von 35 Quadratmetern. Insgesamt waren in dem neu anzulegenden Dorf, das vorerst den Namen Feteştii-Noi trug, später aber in Valea Viilor umbenannt wurde, 700 Hausplätze ausgewiesen. Hinzu kamen in der Dorfmitte Hausplätze für Schule, Kulturhaus, Rathaus, Krankenstation und Konsumladen. Diese wurden in Gemeinschaftsarbeit errichtet. Eine Kirche gab es nicht. Pfarrer Buding aus Billed kam gelegentlich ins Dorf, um in Privathäusern Messen abzuhalten und Sakramente zu spenden.

Aus Erde, Stroh und Wasser wurden Lehmziegel hergestellt und zum Trocknen in die Sonne gelegt. Das nötige Wasser brachte man mit Zisternen herbei. Das Holz für Dachstuhl, Fenster und Türen wurde vom Staat gestellt. Vater beteiligte sich mit Pferd und Wagen beim Transport des Bauholzes. Gedeckt wurden die Häuser mit Schilfrohr. Der Fußboden war aus Lehm. Am 1. Oktober zogen wir in das unfertige Haus ein. Es bot uns Schutz vor Regen und Wind. Um der Kälte zu trotzen, behangen wir Fenster und Tür mit Pferdedecken. Einige Wochen später trafen diese ein. Endlich konnte das Haus fertiggestellt werden. Zum Heizen dienten die Stoppeln vom Feld und die Disteln.

Der Winter war mit dem aus nordöstlicher Richtung wehenden Crivăţ und den lang anhaltenden Schneestürmen die schlimmste Jahreszeit. Das Schneegestöber von Anfang Februar 1954 hat sich für immer in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt. Ein eiskalter Wind pfiff und peitschte durch Felder und Fluren. Heulend kroch er durch den Schornstein ins Haus. Das Haus ächzte und krächzte an allen Ecken. Tag und Nacht immer das Gleiche. Drei lange Tage und drei lange Nächte. Haus, Dorf und Land, alles hatte der Crivăţ im Würgegriff. Ganze Häuser lagen unter Schneewehen vergraben. Bis zur Dachspitze war das Haus von Jakob Lenhardt mit Triebschnee bedeckt. Meterhoch hatte sich der Schnee aufgetürmt. Weder Fenster noch Tür konnten von innen geöffnet werden. Durch eine Luke im Dachboden gelang es Lenhardt, Hilfe herbeizurufen. Mit Wolljacke und Tschapka bekleidet, die Schneeschaufel unter den Arm geklemmt, sah ich durch eine angetaute Eisblume in der Fensterscheibe Vater davongehen. Zusammen mit den Nachbarn schaufelte er einen Tunnel durch den fest gefrorenen Schnee bis zu Lenhardts Eingangstür. Schneekristalle prasselten ihm ins Gesicht und klebten sich an Brauen, Nase und Oberlippe fest. Als Vater gegen Abend nach Hause kam, ähnelte er einem Schneemann.

Nicht minder unerträglich waren die heißen, langanhaltenden Sommer. Ausgetrocknete Landschaften und verdorrte Vegetation kennzeichneten diese Jahreszeit. Es regnete kaum. Es wuchs kaum etwas. Gelbbraune Flächen soweit das Auge reichte. Das Grundwasser lag so tief, dass das Bohren nach Trinkwasser vergebens war. Einen Brunnen gab es in Valea Viilor nicht. Mehrere Bohrversuche blieben erfolglos. Das mit Zisternen herbeigebrachte Wasser kostete 50 Bani der Liter. Die Eltern kauften sich Fässer. Mit Pferd und Wagen brachte Vater das Wasser von dem acht Kilometer entfernten Brunnen herbei. Damit musste sparsam umgegangen werden. Es diente zum Waschen, als Trinkwasser für Mensch und Tier und zum Bewässern der Pflanzen im Garten.

Kontakt in die alte Heimat war anfangs verboten. Die Eltern ließen ihre Post zu Constantin Costache, Pferdeschmied in Feteşti, schicken. Nach und nach lockerte sich das Verbot. Als dann Besuch aus der Heimat erlaubt war, kam zuerst Großmutter Katharina Hehn und später auch Vaters Halbschwester Elisabeth Frick zu Besuch. Vater machte mit der damals Zwölfjährigen einen Ausflug an die Donau und führte sie in der Stadt aus. „Er fuhr mit mir an die Borcea und in Feteşti aßen wir ein Eis. Das war ein besonderes Erlebnis für mich“, erinnert sie sich. Als Groß-vater Peter Hehn mit 40 Jahren an Herzversagen starb, heiratete Großmutter erneut. Aus der Ehe mit Johann Frick ging Elisabeth Frick, Vaters kleine Schwester, hervor, auf die er mächtig stolz war.

Der Kampf ums Überleben

Die mitgebrachten Vorräte waren bald verbraucht. Den Winter über schlugen sich die Eltern mit dem Herstellen von Schilfrohrmatten durch. „Im März, als der Boden auftaute, gingen wir zum Staudamm an die Borcea“, erinnert sich Mutter, „das war Schwerstarbeit.“ Mit neun Monaten musste sie mich bei den Großeltern zurücklassen und zusammen mit Vater für den Unterhalt von fünf Personen sorgen. Die Entlohnung am Staudamm war mehr als dürftig. Das Hauptnahrungsmittel war Mămăligă, ein aus Maismehl gekochter Brei.

Die Großeltern führten den Haushalt und bearbeiteten den Garten. Und sie kümmerten sich um mich. Dank ihrer liebevollen Fürsorge hatte ich trotz allem eine behütete und unbeschwerte Kindheit. Eines Tages geschah ein dramatisches Ereignis. Wir hatten einen rebellischen Hahn, der die Rolle des Haus- und Hofhundes übernommen hatte. Jedem Fremden, der auf unser Grundstück kam, lief er hinterher und griff ihn an. Diesmal aber griff er mich an, sprang mir auf den Kopf und hackte mir ins Gesicht. Das gab eine kräftige Hühnersuppe.

Im Sommer 1952 konnte man die Pferde an die Staatsfarm verkaufen. Viele nahmen das Angebot wahr. Das Futter war teuer, die Lebensmittel waren knapp. Kurze Zeit später kam die Währungsreform. Da war alles weg. Pferd und Geld. „Uns traf der Umtausch des Geldes kaum. Wir hatten kein Geld. Zum Glück hatten wir noch das Pferd“, sagt Mutter. „Mit Pferd und Wagen war die Arbeitssuche aussichtsreicher und das eigene Fuhrwerk wurde zusätzlich entlohnt.“

„Im August 1952 fanden wir Arbeit im Schweinemastbetrieb in Cernavodă“, erinnert sich Mutter, „da war die Arbeit nicht mehr so schwer und wir haben besser verdient. 200 Lei erhielten wir im Monat pro Person. Wegen der Entfernung konnten wir jedoch nur sonntags nach Hause fahren.“ Da die Eltern auf dem Firmengelände wohnten, durften sie sich Nutztiere für den Eigenbedarf halten. Geflügel und Schweine. Auf der Farm arbeitete auch Svetlana, eine junge Bulgarin. Ihr Mann war vor kurzem verstorben und sie musste ihre drei Kinder alleine über die Runden bringen. Da sie das Futter für die Kuh nicht aufbringen konnte, nahmen die Eltern auch Svetlanas Kuh in Betreuung. Im Gegenzug erhielten sie Milch für den Eigenbedarf. Im Mai 1953 wurde der Schweinemastbetrieb geschlossen. Svetlana sah sich gezwungen, die Kuh zu verkaufen. Nach einigen Überlegungen kauften meine Eltern die Kuh. „Der Kauf hat sich gelohnt“, sagt Mutter, und mir scheint es, für den Bruchteil einer Sekunde ein Leuchten in ihren Augen wahrgenommen zu haben. „Dank dieser Kuh waren die beiden letzten Jahre leichter zu ertragen.“ Der Liter Milch wurde für vier Lei verkauft. Ein Kilo Brot kostete zwei Lei. Und die Kuh gab bis zu 26 Liter.

Nach der Schließung des Schweinemastbetriebs arbeiteten die Eltern bei Ludwig Schwarz. Der spätere Schriftsteller und Mundartautor war Baustellenleiter. Er sollte seine Deportationserlebnisse in dem mehrteiligen Roman „De Kaule-Baschtl“ thematisieren. Der Gebrauch der Mundart gab ihm die Möglichkeit, an der Zensur vorbeizuschreiben.

Gegen Ende der Deportation wurden politische Häftlinge vom Donau-Schwarzmeer-Kanal im Dorf einquartiert. Der Kanal sollte den Industriestandort Cernavodă und das Hinterland von Bukarest mit dem Hafen von Constanţa verbinden. Als Arbeitskräfte kamen politische Häftlinge zum Einsatz. Nach Stalins Tod wurden die Bauarbeiten am Kanal jedoch eingestellt und die Häftlinge in die Dörfer der Banater Deportierten verbracht, um ihre Resthaftzeit abzusitzen. So wurde der IG-Farben-Vertreter Knopp zu Mutters Bruder Jakob Mann und dessen Frau Barbara einquartiert. Knopp war mit einer Siebenbürger Sächsin aus Kronstadt verheiratet, die ihren Mann nun endlich besuchen konnte.

Spielzeug war in meiner Kindheit recht knapp. Aus Maiskolben machte Großvater mir eine Puppe. In ganz dünne Streifen trennte er die Lie-schen und flocht sie dann zu Zöpfen. Mit einem Stift erhielt die Puppe ein Gesicht. Um so größer war die Freude, als ich mein erstes richtiges Spielzeug bekam. Ich war vier Jahre alt. Da schenkten mir die Eltern ein Klavier. Mutter hatte es in einem Spielzeugladen in Feteşti gekauft. Es erinnerte sie an die Zeit in der Notre-Dame-Klosterschule in Temeswar, die schönste Zeit ihres Lebens, wie sie immer wieder beteuerte. Ab da war das Klavier mein Lieblingsspielzeug.
Frau Knopp brachte mir Kinderlieder bei. „Hänschen klein“ war mein Lieblingsstück. Auch „Alle meine Entlein“ gehörte in mein Repertoire. An Weihnachten spielte Frau Knopp „Stille Nacht, heilige Nacht“. Mutter, Großmutter und Tante Barbara, einst Sängerinnen im Billeder Kirchenchor, begleiteten sie mit ihren kristallklaren Stimmen. Mein sechs Wochen alter Bruder schlummerte friedlich in seiner Wiege. Es war die letzte Weihnacht in Unfreiheit.

Heimat in Sicht

Nachdem wir die Nachricht von unserer bevorstehenden Freilassung erhalten hatten, fuhr Vater nach Billed, um nachzusehen, ob wir in unser Haus einziehen können. Die 1946 enteigneten Häuser der Deutschen waren zwar 1954 rückerstattet worden, doch immer noch von den Kolonisten besetzt. Vater fand in unserem Haus in der Altgasse drei Familien vor. Die von der Gemeinde über unsere bevorstehende Heimkehr informierten Kolonisten waren bereit, uns die Mittelstube, den Getreidespeicher und einen Stall zur Nutzung zu überlassen.

Kurz zuvor war Vaters Bruder Peter Hehn aus Österreich heimgekehrt. Peter war so alt wie Mutter und genau wie sie 1945 zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert worden. Doch ging sein Transport bei der Entlassung nicht ins Banat, sondern nach Deutschland. Von hier aus schlug er sich nach Österreich durch, wo er bis 1955 blieb, als er anlässlich eines Sterbefalls in der Familie wieder in die Heimat zurückkehrte.

Vater hatte für die Heimfahrt zwei Waggons gemietet. Da die Getreidepreise im Bărăgan bedeutend günstiger waren als im Banat und ihm die Nutzung des Getreidespeichers zugesagt worden war, kaufte er Getreide auf Vorrat für die Anfangszeit. Peter half ihm beim Verladen und beim Transport. Mutter fuhr mit beiden Kindern und den Großeltern im Personenzug nach Hause. Wie auf der Hinfahrt hatte sie einen Säugling im Arm, doch diesmal ging der Weg in die Freiheit.

Ein Ereignis hat sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt. Es war der 6. Februar 1956. Das Haus war leer geräumt, die Koffer waren gepackt, Vater war mit den Waggons unterwegs und wir waren alle abfahrt-
bereit. In Mantel, Stiefeln, Mütze und Schal eingehüllt, stand ich in der klirrenden Kälte. Es schneite und der Crivăţ pfiff sein trauriges Lied. Doch das war nun Schnee von gestern. Bevor wir diesen Ort für immer verlassen sollten, drehte Großvater noch eine Runde. Im Hühnerstall fand er ein Ei. Ehe ich’s mir versah, schlug Großvater das Ei auf und trank es leer. Verdutzt schaute ich drein. Doch Großvater sagte nur: „Nichts soll hier an uns erinnern. Los, auf geht’s nach Hause!“ Mit diesen Worten nahm er mich an der Hand und wir traten die Heimreise an. Ihn hatte die Verbannung am stärksten getroffen. Er freute sich am meisten auf sein Haus und seinen Hof in Billed. Genau drei Jahre in Freiheit waren ihm noch gegönnt, bis ihn am 16. Februar 1959 eine schwere Krankheit innerhalb von drei Wochen für immer von uns nahm. Auf dem Neugässer Friedhof wurde er in der Familiengruft beigesetzt. Nicht jeder hatte das Glück in Heimaterde bestattet zu werden.

Großmutter Katharina Hehn erwartete uns schon ungeduldig. Bei ihr wohnten wir bis zum Eintreffen der Möbel. Unser Haus fanden wir in einem trostlosen Zustand vor. Ungeziefer hatte sich breit gemacht. Der Mörtel bröckelte an allen Ecken. Die Fußböden hatten den Kolonisten als Brennholz gedient. Alles war heruntergekommen und verdreckt. Als der Schnee im Frühjahr zu schmelzen begann, entpuppte sich der Hof als Müllhalde. Andrei Braica war bereits ausgezogen. Er hatte sich den Großteil unserer zurückgelassenen Sachwerte angeeignet und war mit dem Beutegut auf und davon. Nach und nach zogen alle Kolonisten aus. Gherman Aronică war der erste. Zuletzt auch die Familien Marinescu und Manole. Beeindruckt von dem Getreidevorrat, den wir mitgebracht hatten, zogen sie in den … Bărăgan!

Mutter meldete mich im Kindergarten an. Margarethe Weber, die bereits im September 1955 aus Dâlga entlassen worden war, nahm mich in Empfang. Anfangs beobachtete ich mit Skepsis die mir fremden Kinder, doch bald hatte ich neue Freunde gefunden. Endlich wurde ich getauft. Ich war fünf Jahre alt. Elisabeth Frick ging mit mir Hand in Hand zum Taufbecken. Pfarrer Wild erteilte mir seinen Segen. Am selben Tag erhielt auch mein sechs Monate alter Bruder das Sakrament der Taufe. Pferd und Kuh wurden gehegt und gepflegt wie liebe Familienangehörige. Mămăligă wurde gänzlich von der Speisekarte gestrichen. Das Klavier kam noch einige Male zum Einsatz, bis es in einer verstaubten Ecke auf dem Dachboden für immer verschwand. Den Betroffenen jedoch wird der Bărăgan für immer in Erinnerung bleiben. Auch den nachfolgenden Generationen.

Nach der Generalamnestie von 1964 wurden die Häuser der Verbannten eingeebnet, Dörfer und Friedhöfe umgeackert. Gras sollte über die Sache wachsen. Kein Geschichtsbuch hat die Deportation je erwähnt. Valea Viilor, wie auch die anderen Deportationsdörfer, existieren nur noch in unserer Erinnerung.