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Erforschung der kommunistischen Tragödie

Bei der Aufarbeitung der in der Zeit des Kommunismus’ verübten Menschenrechtsverletzungen und besonders der stalinistischen Verbrechen in Rumänien hat das Zentrum für das Studium des Kommunismus der Stiftung Bürgerakademie (Stiftung Memorial Sighet) seit Jahren bereits eine Vorreiterrolle übernommen. Über die in den letzten Jahren erzielten Arbeitsergebnisse dieser Einrichtung und über laufende Projekte führte unsere Mitarbeiterin Katharina Kilzer mit dem Direktor des Zentrums, Romulus Rusan, folgendes Interview:

Vor kurzem erschien unter Ihrer Herausgeberschaft das Buch „Tote ohne Gräber im Baragan 1951–1956”. Im Vorwort sprechen Sie von einem umfassenden Projekt, von mehreren Ausgaben in der Buchreihe „Ora de Istorie” (Geschichtsstunde). Erzählen Sie uns etwas ausführlicher über das Gesamtprojekt?

Das Projekt „Buch der Toten“, das ich vor etwa fünf Jahren begann, hatte ursprünglich die Absicht, nach intensiver Forschungsarbeit eine vollständige Liste der Toten in der Zeit von 1944–1989 in Gefängnissen, Arbeitslagern und der Deportation zu erstellen. In unserem Studium der Zeitgeschichte hatten wir mehrere tausend Namen gesammelt (unser Zentrum für Studien über den Kommunismus besitzt bisher Bänder mit mehr als 6000 Stunden Aufnahmen von Zeitzeugen; eine der Fragen an die Zeugen bezog sich auf die in der Haft Verstorbenen). Viele der Namen von Toten stammen aus Publikationen der Erinnerungen von Zeitzeugen, aus Archivstudien anderer, aus Vorträgen in den von uns organisierten öffentlichen Foren oder wurden uns den Vereinigungen der Deportierten und Gefangenen weitergeleitet. Ich erinnere mich da besonders an das große Treffen im Sommer 2001 im Temeswarer Jagdwald, als viele ehemalige Deportierte oder ihre Familienmitglieder uns auf kleinen Zetteln die Namen ihrer Toten im Baragan überreichten. Damals, vor etwa zehn Jahren, haben wir die ersten achttausend Namen auf rauchbraunen Andesitplatten eingravieren lassen und an die Wände des Gebetsraums für die Märtyrer in der Gedenkstätte Sighet befestigt. Als der Platz dort voll war, begannen wir die westliche Mauer im Hof der Gedenkstätte zu nutzen. Danach fanden mehrere tausend Namen von „rumänischen Staatsbürgern, gestorben außerhalb der Landesgrenzen“ Platz auf dem Armenfriedhof am Stadtrand von Sighet (darunter viele Volksdeutsche, die im Januar 1945 nach Russland deportiert wurden). Vor ein paar Jahren bauten wir auch ein Kenotaph (Ehrengrab), das Erde aus allen bekannten Orten der Verschleppung und Deportation enthält. Bis 2007 sammelten wir 24 000 Namen von Toten. Sodann begannen wir mit der Arbeit am „Buch der Toten“. Gleichzeitig verglichen wir unsere Daten mit jenen aus den einschlägigen Publikationen im In- und Ausland: „Die Opfer der kommunistischen Schreckensherrschaft“, ein Wörterbuch in elf Bänden (2001–2003), erstellt von dem unermüdlichen rumänischen Historiker Cicerone Ionitoiu, das Buch „Der Leidensweg der Banater Schwaben im zwanzigsten Jahrhundert“, 1983 veröffentlicht von der Landsmannschaft der Banater Schwaben in Deutschland in München, die Studien von Josef Wolf in Tübingen und Georg Weber in Münster an ihren jeweiligen Instituten. Außerdem konsultierten wir Familienchroniken (Ortssippenbücher) mehrerer Dörfer mit deutscher Bevölkerung aus dem Banat und Siebenbürgen, wir konsultierten die Listen von Franz Schuttak, studierten Dorfmonographien von einigen Banater Dörfern (von Florea Jebelean und V. Sarbu und I. Prelipceanu) und weitere Daten. Nach Veröffentlichung des Buches haben wir auch Luzian Geier vom Bukowina-Institut (Augsburg) kontaktiert, der uns auch die Daten der Bukowina-Deportierten sowie Daten von Deportierten aus den deutschen Dörfern des Banats übermittelt. Die Präfekturen aller Kreise in Rumänien haben uns Niederschriften der in ihren Registern eingetragenen Totenscheine der in den Gefängnissen des Landes Verstorbenen von 1948 bis 1989, als auch der Toten unter den Baragan-Deportierten (1951 bis 1956) zugeschickt. Dabei stellten wir fest, dass die Toten im Baragan fast vollständig registriert wurden, während die Eintragungen betreffend die Toten in den Gefängnissen nur sporadisch und dem Zufall überlassen wurden (gemäß unserer Datenbank zählten wir zahlreiche Todesfälle, die von den Gefängniswärtern verschwiegen wurden, wahrscheinlich, um die Spuren der Toten in diesem kriminellen System zu verwischen). Die Erklärung: Die 18 im Baragan errichteten künstlichen Dörfer waren dergestalt, dass dort jeder jeden kannte; jedes Dorf hatte ein eigenes Gemeindehaus, was eine Verwischung der Spuren praktisch unmöglich machte.

Haben Sie aus diesem Grund mit der Veröffentlichung dieses Bandes Ihre Buchreihe begonnen?

Ja. Die dokumentarische Basis unserer Forschungen deckte sich im Prinzip zu fast 90 Prozent mit den offiziellen Daten, die uns von den betreffenden Verwaltungsstellen überliefert wurden. Somit haben wir beschlossen, mit der Veröffentlichung des Buches der Toten aus dem Baragan die „Bücher der Toten“ („Cartii Mortilor”) zu beginnen. Wir haben in unserer Buchreihe „Ora de istorie“ („Geschichtsstunde“, Band 7) mehr als 1661 Namen von Toten aufgeführt (davon 178 Kinder im Alter von einem Tag bis 15 Jahre). Zu den Toten des dritten Lebensalters zählt zum Beispiel auch ein Bauer aus dem Kreise Mehedinti im Alter von 100 Jahren (er wurde mit 95 Jahren deportiert). Nach der Auslieferung des Buches in die Buchhandlungen Rumäniens sowie einer online-Bekanntmachung der Veröffentlichung erhielten wir weitere Namen von Toten von Familienangehörigen, die im Baragan gestorben sind. Somit stieg die Zahl der Toten an. Auch während der Ausstellung Schwarze Pfingsten. Deportation in den Baragan („Rusaliile Negre. Deportarea în Baragan”), die in mehreren Städten des Landes wie Bukarest, Temeswar, Turnu-Severin, Sighet, Braila sowie in Brüssel (wo die Ausstellung am 18. Oktober im Europäischen Parlament eröffnet wurde, wie in der Banater Post berichtet) von Hunderten von Besuchern besichtigt wurde, erhielten wir zusätzliche Namen von Toten der Baragansteppe.

Haben Ihre Studien auch eine Erziehungsfunktion?

Die Ausstellung wurde von zahlreichen Schülern aus Bukarest, Braila und anderen Städten des Landes besucht. Bei der ständigen Vertretung der Europäischen Kommission in Bukarest ist die Ausstellung, die dort am 9. November 2011 eröffnet wurde, bis heute zu besichtigen. Lehrer und ihre Schüler sind ständige Besucher, und der Erfolg war umso größer, als während der Ausstellung auch einige Zeitzeugen Frage und Antwort standen vor den Schülern. Am meisten beeindruckte die heutigen Schüler die Erzählungen der Deportierten, die damals als kleine Kinder all diese Entbehrungen des alltäglichen Lebens erdulden mussten, die unter freiem Himmel in Schulen lernten, und viele von ihnen verloren ihre Eltern und Geschwister in der Deportation im Baragan. Natürlich ist für die Jugendlichen von heute wichtig, dass sie die nahe Vergangenheit lebendig erleben können. Wir, die im Kommunismus Erzogenen, haben eine verfälschte Geschichte kennengelernt, aber wir lernten die Wahrheit durch unsere Eltern und Großeltern kennen. Die Kinder von heute haben jedoch niemanden mehr, der ihnen erzählen kann, was damals wirklich geschah: die Großeltern und Urgroßeltern sind tot, die Eltern kennen kaum mehr die Schrecken des Klassenkampfes von einst. Sie kennen lediglich die Schlangen vor den Lebensmittelläden und den Personenkult aus der Zeit Ceausescus. Die Geschichtsbücher, aus denen sie lernen, sind nur schematische Zusammenfassungen. Die heute aktiven Politiker wissen nichts oder, besser gesagt, wollen nichts von der Vergangenheit wissen (Ausnahme bildet der Bericht der Präsidentialkommission von 2006, der jedoch fast mit Feindseligkeit, wenn nicht, dann eben nur mit großer Gleichgültigkeit aufgenommen wurde). Seit 1990 behauptete der damalige Premier Rumäniens, dass die Zahl der Verhafteten in Rumänien zu Zeiten des Kommunismus lediglich 10 000 betrage. Seither haben die historischen Nachforschungen aber große Fortschritte gemacht: die Archive öffneten ihre Pforten, und somit konnten die realen Ausmaße der kommunistischen Tragödie erforscht werden. In meinem Buch „Chronologie und Geografie der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien: Zählung der zwangsinternierten Bevölkerung (1945 bis 1989)“, das 2006 erschienen und von Hans Bergel mit Unterstützung des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas aus München unter der Leitung von Stefan Sienerth 2007 ins Deutsche übertragen wurde, gelange ich zu der Schlussfolgerung, dass die vollständige Zahl der unmittelbaren Opfer des Kommunismus’ in Rumänien auf zwei Millionen anstieg (siehe www.memorialsighet.ro). All diese Dinge sollten die Kinder und Jugendlichen von heute kennenlernen, sei es bei einem Besuch der Gedenkstätte Memorial Sighet, sei es bei einem Besuch der einschlägigen Ausstellungen oder anhand der veröffentlichen Bücher aus der Reihe „Cartea Mortilor”, mit denen wir versuchen, den Menschen, die bisher nur „eine Zahl“ waren, ihre Identität wiederzugeben.

Befasst sich Ihr Projekt auch mit den Ereignissen aus Russland und der Ukraine neben denen aus Rumänien? Werden Sie auch Einzelfälle mit einbeziehen, die bisher nicht bekannt waren? Werden die Daten auch zur Auffindung von Vermissten dienen?

Was die Deportationen aus Bessarabien und der Nordbukowina von 1940 bis 1941 (nach der Besetzung durch die UdSSR nach dem Ribbentrop - Molotow - Pakt) sowie die Deportationen der Deutschen aus dem Banat, Transsylvanien, Bukowina, aber auch aus Bukarest, Ploiesti und aus anderen Städten des Landes vom Januar 1945 betrifft, so beziehen wir uns natürlich auf die Deportationsorte in Kasachstan, Sibirien, Donbas, Dnjepropetrovsk, Ivdelag usw., wohin die Bürger Rumäniens damals deportiert wurden. Wir besitzen nur wenige offizielle Daten aus den sowjetischen Archiven, ausgenommen die wenigen Zertifikate der „Rehabilitierung” die von 1988–1990 ausgestellt wurden. Einzelfälle aus dem Baragan sind aufgezeichnet auf unserem Tonträger, einer CD mit Aufzeichnungen von Zeitzeugen für die Ausstellung „Rusaliile Negre”, die im März 2011 erstellt wurde, von der ich berichtete. Das Buch „Departe, în Rusia, la Stalino” (Weit in Russland, bei Stalino), das wir 1990 veröffentlichten, herausgegeben von Hannelore Baier, enthält zahlreiche Lebensgeschichten und Zeitzeugenberichte von Deportierten. Sie erzählen ihre Erlebnisse, die realen Geschichten von Leben und Tod.

Können wir Sie von hier aus Deutschland unterstützen mit Daten, Informationen und so weiter?

Die Veröffentlichung einer Anzeige in Ihrer Zeitung mit dem Aufruf an jene Familien, die Tote in ihrem Angehörigenkreis haben, die in der Deportation in Russland oder dem Baragan starben, sich zu melden, wäre hilfreich. Die Antworten sollten den Namen und Vornamen des Verstorbenen, Geburtsdatum und -ort enthalten (falls nicht bekannt, dann wenigstens ungefähr). Wir sind Ihrer Publikation sehr dankbar, die uns auch in vielen anderen Fällen hilfreich unterstützt hat, sei es beim Aufbau unserer Gedenkstätte in Sighet oder bei der Erstellung der Ausstellungen in Bukarest, Köln, Brüssel usw.

Wieviel Bände wird das „Cartea Mortilor“ (Buch der Toten) umfassen? Wer finanziert das Projekt? Wer sind die Forscher und Mitarbeiter?

Die Buchreihe „Cartea Mortilor“ wird vier Bände umfassen. Diese werden nach und nach erscheinen, wegen der umfangreichen Recherchearbeit, in gewissen Zeitintervallen. Der erste Band ist der zum Baragan. Es folgt der Band mit den Toten aus den Gefängnissen Jilava, Vacaresti, Aiud, Gherla, Botosani etc. sowie aus den Arbeitslagern des Donaukanals, den Bleiminen aus der Maramures, Salcia, Periprava; es folgt der Band über die Deportationen Januar 1945 und der Band über die Deportationen zwischen 1940 und 1941 aus Bessarabien und der Nordbukowina. Wir arbeiten zusammen mit – Sie werden es nicht glauben – nur drei Forscherinnen. Die Finanzierung wird integral von der Stiftung Bürgerakademie getragen. Wahrscheinlich schwer zu glauben, aber ein Beweis dafür, dass die Zivilgesellschaft auch noch manchmal Wunder schaffen kann.