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Ein wandelndes Marienfelder Lexikon - Helene Ringler wird 100 Jahre alt

Helene Ringler Foto: privat

Was für ein Jahrhundert für die Deutschen in Rumänien! Nicht nur zwei schreckliche Kriege, sondern auch eine Nachkriegszeit, die für viele Rumäniendeutsche schlimmer war als die Kriegszeiten waren darin. Hinzu kommt, dass in diesem Jahrhundert eine über mehr als 300 Jahre alte wirtschaftliche und kulturell erfolgreiche Siedlungsgeschichte dank veränderter historischer Umstände beendet wurde.
In dieses Jahrhundert wurde Helene Ringler, geb. Schütz, am 13. Januar 1925 in Marienfeld geboren -  in einer Familie, die in geordneten Verhältnissen lebte. Auch sie genoss, wie alle Marienfelder Mädchen im schulpflichtigen Alter, ihre Erziehung und Bildung in der Klosterschule durch die Vinzentiner Schwestern. Gerne erinnert sie sich auch heute noch ihrer Schulzeit. Sie spricht oft von Schwester Pia, die mehrere Kreise für junge Mädchen leitete. Und wer kannte Schwester Caecilia nicht, die gestrenge Oberin, die auch den Arbeitseifer und das Geschick der Schülerin Helene im Umgang mit Hilfsbedürftigen früh erkannte und sie mit verschiedenen Betreuungsaufgaben während des Ferienkindergartens im Sommer beauftragte. Bildung und Erziehung, wie sie die Marienfelder Schulschwestern vermittelten, gehören zu den bleibenden Werten, die die Frauen ihrer Generation geprägt haben.
In der Familie Schütz änderte sich 1942 vieles nach dem frühen Tod des Vaters. Da übernahm die Großmutter, eine tatkräftige, resolute Frau das Zepter. Die heranwachsende Helene und ihr Bruder Kristof lernten viel, vor allem zupacken. Die Arbeit auf dem Feld, im Weingarten, in Haus und Hof war nicht leicht für ein junges Mädchen. Der Großmutter gedenkt die Jubilarin auch heute noch in Dankbarkeit und Hochachtung.
Doch diese ruhige Zeit ging bald zu Ende. Der Weltkrieg erreichte Marienfeld. Die jungen Männer wurden als sogenannte „Freiwillige“ in die deutsche Armee eingezogen. Auch Josef Ringler, ihr späterer Ehemann, wurde einberufen.
Als die russische Armee bereits in Rumänien stand, machten sich die letzten Deutschen noch auf die Flucht. Mit Pferd und Wagen erst nach Jugoslawien, dann über Ungarn, um so nach Österreich bzw. Deutschland zu gelangen. Das war ein gefährlicher Weg, erzählt die Jubilarin. Die Partisanen griffen die Flüchtlinge an und mancher von ihnen fand hier den Tod. Ungarn hatte sich bereits auf die Seite der Russen geschlagen und wollte die Flüchtlinge nicht weiterziehen lassen. Erst nach tagelanger Verhandlung und Bestechung, ließ man sie die Grenze nach Österreich überschreiten.
In Bayern wurden sie mit weiteren Flüchtlingen aus Marienfeld untergebracht. Doch nach Kriegsende wollten alle nur nach Hause. Die amerikanische Verwaltung warnte: „Ihr habt keine Häuser mehr und auch kein Feld in eurer Heimat.“ Trotzdem organisierte die amerikanische Verwaltung einen Transport unter militärischer Begleitung bis Tschechien, wo sie den Russen übergeben wurden. Diese brachten sie nach Großwardein in ein Lager, aus dem sie sich erst noch freikaufen mussten, um dann endlich wieder nach Marienfeld zu gelangen.
Dort erfuhren sie, dass in ihrem Haus Rumänen wohnten, die sich als neue Eigentümer vorstellten. Sie hatten jedoch Glück im Unglück. Da die „neue Eigentümerin“ bei der Verteilung des Vermögens der Deutschen kein Feld bekommen hatte, war sie so beleidigt, dass sie wieder in ihre Heimat zog. So konnte die Familie Schütz in ihr Haus einziehen.
Nach all dem Elend aber war die Freude groß, dass Josef Ringler, ihre Liebe, heil aus dem Krieg nach Hause kam. Am 30. März 1946 haben Helene Schütz und Josef Ringler als erstes Paar nach Krieg und Flucht in Marienfeld geheiratet. Anfangs, solange Chaos und Willkür herrschten, schien für das junge Ehepaar ein Leben in Marienfeld möglich. Im Spätherbst 1946 wurde ihre Tochter Lore geboren. Josef Ringler war ein guter Fachmann und bekam die Stelle eines kommunalen Elektrikers. Doch als er sich in den folgenden Jahren weigerte, „Berichte“ über seine Landsleute zu schreiben, wurde er entlassen. Weder in Marienfeld noch im Umkreis erhielt er eine seiner Qualifikation entsprechende Arbeit. Um die Familie über diese schwere Zeit hinwegzubringen, verlegte sich Helene Ringler aufs Stricken. Sie schloss sich einem kleinen Kreis von Heimarbeiterinnen an, die ihre Umgebung mit Strickwaren versorgten.
Die Ausweglosigkeit und  die damit verbundene Unzufriedenheit führten dazu, dass die Familie den Antrag zur Ausreise stellte. 1974 zogen sie nach Loiching, wo die Mutter von Helene  Ringler lebte. Beide fanden eine Arbeitsstelle bei BMW in Dingolfing. Die Jubilarin spricht heute noch mit großem Lob von ihrem Arbeitgeber, sogar über das Rentenalter hinaus. Nachdem 1977 auch die Tochter mit Familie ausreisen konnte, zog die ganze Familie nach Landshut.
Der Ruhestand von Helene Ringler war ein „Unruhestand“, weil sie sich mit viel Freude um die Urenkelinnen kümmerte. Auch die Pflege der Schwiegermutter und der eigenen Mutter übernahm sie klaglos. 2015 verstarb ihr Ehemann nach liebevoller häuslicher Pflege.
Was macht solch ein ausgefülltes Leben aus einem Menschen? Man kann nur staunen und bewundern, dass all die Anforderungen, die an sie gestellt wurden, sie zu einer weisen und zutiefst ausgeglichenen Frau mit klarem Verstand gemacht haben.
Das Tagesprogramm einer Hundertjährigen hat eine feste Struktur, die Mittagsruhe von zwei Stunden ist heilig. Gerne liest sie die Zeitung, vor allem die „Banater Post“. Da findet sie die Namen vieler Landsleute. Sie kennt die Familien alle und ist für mich ein wandelndes Marienfelder Lexikon.
Es kommt häufig vor, dass die Enkelin oder eine der Urenkelinnen anruft und bittet, die Oma möge doch einen großen Topf gefülltes Kraut, Französische Kartoffeln oder andere schwäbische Leibspeisen kochen. Die Oma sagt nie nein. Auch für die Weihnachtsplätzchen ist die Oma zuständig. Ihre Ischler sind legendär und nicht zu übertreffen.
Je nach Jahreszeit ist sie mit Hof und Vorgarten beschäftigt. Ihr größter Feind sind im Herbst die Blätter. Säcke um Säcke sammelt sie ein und die Tochter muss alles wegbringen.
Bleibt nur zu hoffen und von Herzen zu wünschen, dass meine Besl Helen sich noch einige Jahre bei Gesundheit und klarem Verstand für ihre Familie - und auch für mich - ihres sorgenlosen Lebens erfreuen darf.