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Hochschullehrer aus Berufung in Ost und West - Zum Tod von Herbert Bockel

Dr. Herbert Bockel (1940 - 2024) Foto: privat

In seinem siebzigsten Lebensjahr schrieb Dr. Herbert Bockel einen selbstbiographischen Text für das Erinnerungsbuch seines Abiturienten-Jahrgangs (1957) an der Temeswarer Lenau-Schule. Darin fasste er seinen beruflichen Werdegang in aller Kürze zusammen: „...Ich war in erster Linie und aus ganzem Herzen Lehrer. Ich freue mich jedes Mal mächtig, wenn ich ehemalige Studenten aus Temeswar oder jetzt auch aus Passau treffe und sie sich in angenehmer Weise an frühere Unterrictsstunden erinnern“. Und an anderer Stelle heißt es: „Lehrer – der schönste Beruf der Welt“. Zu dieser entschiedenen Überzeugung hat offensichtlich Herbert Bockels Elternhaus den Grundstein gelegt. Sein Vater war Lehrer, Stellvertretender Direktor an der „Päda“ und Schulrat. Hinzu kam sodann eine wohlbehütete Schulzeit an der Deutschen Pädagogischen Lehranstalt und am Lenau-Lyzeum in Temeswar. Noch sechs Jahrzehnte danach hob Dr. Herbert Bockel, der dann schon selbst ein erfülltes berufliches Leben hinter sich hatte, den Einfluss der Lehrer auf seinen beruflichen Werdegang hervor.
Zunächst waren es Nikolaus Schmidt als Grund- und Übungsschullehrer und am Gymansium die Deutschlehrer Dr. Hans Weresch und Franz Lux, die seine Neigung zur deutschen Sprache und Literatur förderten. Und es ist bezeichnend für Dr. Bockels Haltung als Intellektueller, dass er im Rückblick seine Universitätslehrer würdigt. Da fällt ihm kein Stein aus der Krone. Es ist vielmehr ein Zeichen seines souveränen Selbstverständnisses. So heißt es in seiner zitierten Lebenserinnerung: „Meinen Hochschullehrern Dr. Stefan Binder, Dr. Alfred Heinrich, Dr. Victor Iancu, Eva Marschang, Dr. Maria Pechtol, Géza Stoica, Dr. Gheorghe Tohăneanu, Dr. Johann Wolf, Josef Zirenner bin ich zu bleibendem Dank für meine Ausbildung als Philologe und Lehrerr verpflichtet“.
Geboren wurde Herbert Bockel am 23. Oktober 1940 in Arad, wo sein Vater Michael Bockel als Gymnasiallehrer am Adam-Müller-Guttenbrunn-Lyzeum tätig war. 1944 kam die Familie nach Temeswar. Herbert Bockel ist nach eigenen Worten „als Stadtkind aufgewachsen“, fügt aber hinzu: „...Die Wurzeln reichen eben nach Neuarad, aber auch nach Großsanktpeter, Deutschsanktpeter und Triebswetter (von da kommt übrigens der Namensgeber)“.
Anschließend an das Studium der Germanistik und Rumänistik an der Philologie-Fakultät der Universität Temeswar (1957-1962) war Herbert Bockel als wissenschaftlicher Assistent und ab 1972 als Literaturdozent an der 1956 gegründeten Germanistik-Sektion tätig. Er gehörte mit anderen frühen Absolventen der neu eingerichteten Abteilung der Philologischen Fakultät – zusammen mit u.a. Peter Kottler, Dr. Yvonne Lucuța und Radegunde Täuber – zu den „Hochschullehrern der Pionierzeit“ an diesem Lehrstuhl, wie es sein Kollege Dr. Hans Gehl formulierte.
Literatur-Dozenten und -Assistenten hatten an Germanistiklehrstühlen in Rumänien, so auch im Falle der Spätgründung in Temeswar, ein weites Aufgabenfeld zu bewältigen. So leitete Herbert Bockel als Assistent anfangs u.a. Seminare über das Nibelungenlied und die höfische Lyrik (Vorlesung Eva Marschang) und rückte über die Klassik und Romantik bis zur Moderne vor (Jahrhundertwende 19./20.Jh.). Als Dozent las er über Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Expressionismus und setzte mit eigenen Akzenten die von Prof. Sefan Binder initiierte Spezialvorlesung über rumäniendeutsche Literatur mit eigenen Akzenten fort. 1979 promovierte Herbert Bockel an der Temeswarer Universität über „Die Entwicklung des rumäniendeutschen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Seine Dissertation konnte er, wie damals in Rumänien üblich, nicht als Buch in vollem Umfang publizieren. Eine Zusammenfassung, die dem rumäniendeutschen Literaturhistoriker als Quelle und Anregung dienen kann, ist als Broschüre in der Temewarer Universitätsdruckerei (deutsch und rumänisch) erschienen. Über rumäniendeutsche, vor allem Banater Autoren, veröffentlichte er eine beachtliche Reihe literaturhistorischer Studien, darunter Beiträge zu wissenschaftlichen Tagungen der Philologischen Fakultät, die in Fachzeitschriften bzw. den Annalen der Temeswarer Universität erschienen sind. Durch seine akribischen, informationsreichen Analysen zu Adam Müller-Guttenbrunns Erzählwerken, insbesondere zu dessen Lenau-Trilogie sowie zur expressionistischen Phase des produktiven Romanautors Franz Xaver Kappus, vermittelte Herbert Bockel neue Einblicke in das Gesamtschaffen dieser namhaften Repräsentanten der banatdeutschen Literaturgeschichte. Er erschloss Quellen, die in den 1970er Jahren nur schwer zugänglich waren, und zeigte originelle Interpretatiosansätze auf. So beispielsweise durch die punktuelle Gegenüberstellung von Adam Müller-Guttenbrunns Trilogie „Lenau - das Dichterherz der Zeit“ (1921) und Peter Härtlings Roman „Niembsch oder der Stillstand“ (1964). Mit der Neuausgabe der „Romandreiheit“ Guttenbrunns im Temeswarer Facla Verlag (ab 1975, gemeinsam mit Karl Streit) sowie mit seiner Beteiligung am kulturellen Leben der banatdeutschen Bevölkerung – am Deutschen Staatstheater und in der Presse – wirkte Herbert Bockel über den universitären Bereich hinaus. Er wurde zu einem geachteten, bewahrenden Kulturträger dieser Gemeinschaft.
Die literarische Bildung im Fokus
Sein Herzensanliegen blieb indessen in den zwei Jahrzehnten an der Temeswarer Universität die gediegene literarische Bildung seiner Studenten und Studentinnen und ihre damit verbundene Vorbereitung für den künftigen Beruf als Deutschlehrer, Journalisten oder Übersetzer. Doch nicht nur als ausgezeichneter Kenner der literarischen Materie, die er in seinen Vorlesungen und Seminaren vermittelte, sondern auch dank seiner freundlichen, kommunikativen Wesensart und dank seines Gerechtigkeitssinns erfreute er sich bei den Studenten großer Beliebtheit. Seine Freunde und die recht zahlreichen guten Bekannten schätzten zudem seinen Humor und seine Geselligkeit.
All diese Vorzüge und Erfahrungen eines Hochschullehrers sollten eine wichtige Rolle spielen beim beruflichen Neuanfang in Deutschland nach der Aussiedlung seiner Familie 1982. Mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern fand Dr. Herbert Bockel in Passau „eine zweite Heimat“, wie er selbst bekannte.
Es war wohl das Glück des Tüchtigen, das ihn teilhaben ließ am Ausbau der erst 1972 gegründeten Universität Passau. Schon in Temeswar befasste sich Herbert Bockel intensiv mit dem Fach Deutsch als Fremdsprache. Er unterrichtete es an der Temeswarer Volksuniversität und entwickelte Deutsch-Lektionen, die im Programm des rumänischen Fernsehen angeboten wurden. Vorübergehend führte er selbst den Deutsch-Unterricht über dieses Medium durch.
Über diese Schiene konnte Dr. Herbert Bockel nun in Passau an seine Temeswarer akademische Laufbahn anknüpfen. Die sicher nicht einfache Anfangsbeschäftigung in der Passauer Universitätsverwaltung schreckte den passionierten Hochschullehrer nicht ab. Er wurde bald Leiter des Akademischen Austauschdienstes. Die Universität Passau baute ihre internationalen Partnerschaften auf und deklarierte ab 1983 die „Internationalität als Basis des universitären Lebens“ zu ihrem Markenzeichen, warb damit um ausländische Studenten. In dieser Atmosphäre nahm Dr. Bockel die Chance wahr, das im Sprachenzentrum der Universität entstehende Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache mitzugestalten, als dessen Leiter er sodann auch arbeiten sollte. „Ich kehrte also zu meinem erlernten Beruf zurück“, schrieb er in seiner Lebenserinnerung. Und weiter: „Die Arbeit mit Studenten aus vieler Herren Länder, die im Rahmen von Kooperationsabkommen an die Universität Passau kommen und die hier ihre bereits vorhandenen Deutschkenntnisse perfektionieren, gehört zu den schönsten Aspekten meines Lehrerdaseins“. Das solide fachliche „Gepäck“, das der Temeswarer Germanist in die neue Heimat mitbrachte, hat auch in der zweiten Karriere Herbert Bockels eine entscheidende Rolle gespielt. Eng verbunden damit war seine Fähigkeit, sich anderen Sprachen und Kulturen zu öffnen. Auch dies ein Erbe aus der Temeswarer Zeit!
Dr. Herbert Bockel war im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebenskünstler. Es ist ihm gelungen, seine anspruchsvollen Dienstpflichten mit dem Familienleben in Einklang zu bringen. Die Familie, insbesondere seine Ehefrau Voichi, war all die Jahre seiner schweren Krankheit seine große Stütze.
Dr. Herbert Bockel ist am 30. August 2024 in Passau verstorben. Seine Freunde, alten Bekannten und ehemaligen Studenten werden ihn in ehrender Erinnerung behalten.