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Als ich Jimmy Carter wählte

Nein, ein Dissident war ich nicht. Auch keine wichtige Person, ich hatte nur eine Stimme an diesem Tag. Die sollte ich nach dem Erreichen des 18. Lebensjahres abgeben. An einem Sonntag, nach dem Kirchgang im Banat. Und zwar für die Kandidaten der Front der Sozialistischen Einheit. Es war eine einzige Liste mit diversen Namen darauf, einige der Personen habe ich sogar gekannt. Landsleute aus dem Heimatort waren es, über die ich damals nichts Nachteiliges sagen könnte. Ich hätte mein Kreuzchen dahinter machen können und hätte meine Ruhe gehabt. Aber nein, an diesem Tag sollte es nicht so sein. Als ich den großen Raum in dem enteigneten, ehemaligen Bauernhaus betreten, meinen Wahlschein in Empfang genommen und den Vorhang in der provisorisch eingerichteten Wahlkabine hinter mir zugezogen hatte, nahm ich den Stift in meine linke Hand und schrieb in Druckbuchstaben den Namen Jimmy Carter auf den Wahlzettel. Er war damals amerikanischer Präsident und aufgrund seiner Menschenrechtspolitik ein Hoffnungsschimmer für die unterdrückten Menschen im Osten. Auch für mich, dem damals Achtzehnjährigen. Etwas unsicher, vielleicht auch selbst erstaunt über meine spontane Wahl, faltete ich den Wahlschein, steckte ihn anschließend in die Urne und verließ das Wahllokal. Die folgenden Tage verfolgte ich die Veröffentlichung der Ergebnisse mit etwas gemischten Gefühlen. Zu Unrecht, wie sich schnell herausstellen sollte. Die Kandidaten der Front hatten in diesem Wahlbezirk ihre 100 Prozent erreicht, ungültige Stimmen gab es nicht.

Diese Begebenheit ging mir durch den Kopf, als ich kürzlich bei einer längeren Fahrt durch München die vielen Wahlplakate der für die Land- und Bundestagswahl werbenden Parteien betrachten konnte. Freundliche, lachende Gesichter auf bunten Wahlplakaten zieren Wände und Maste, manch einem ist das schon zu viel, hört man gelegentlich. Mir persönlich nicht. Ich freue mich, dass es nach wie vor so viele Menschen gibt, die sich in Parteien und Verbänden einbringen, ich freue mich, dass diese immer wieder Kandidaten aufbringen, die sich für unser Gemeinwesen einsetzen, ich freue mich über die Vielfalt von Meinungen und Ideen, auch wenn ich viele selbst nicht teile, und dass ich letztlich doch auswählen kann.

Schließlich haben wir es doch auch anders kennen gelernt. Eine Partei, eine Liste, eine Meinung – wir wissen, wohin das geführt hat.