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Eine echte Herkunftskultur stiftet Zusammenhalt

Guido Wolf, Präsident des Landtags von Baden-Württemberg, war Festredner bei der Kundgebung in der Donauhalle. Foto: BP

Landtagspräsident Guido Wolf brachte in seiner Festrede seine Wertschätzung für die Leistungen der Banater Schwaben in ihrer angestammten Heimat, für ihr Festhalten an der eigenen Identität und ihre vorbildliche gesellschaftliche Integration in Deutschland zum Ausdruck. Foto: Karin Bohnenschuh

Festrede von Guido Wolf, Präsident des Landtags von Baden-Württemberg

Sehr geehrter, lieber Herr Bundesvorsitzender Leber, lieber Herr Oberbürgermeister Gönner, liebe Frau Kollegin im Landtag Dr. Monika Stolz, Herr Ministerialdirigent Hellstern, liebe Festgäste, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Herzlichen Dank für beides: für die freundliche Einladung, die ich trotz der Kurzfristigkeit sehr gerne angenommen habe, und natürlich für die netten Worte zur Begrüßung.

Was für ein schöner Sonntag! Nicht bloß wegen des perfekten Sommerwetters. Frohe Pfingsten – auch gesellschaftlich und politisch! Bei Ihnen Gast zu sein – das allein ist schon ein berührendes Erlebnis. Ihr Selbstverständnis, Ihr Gerechtigkeitssinn, Ihre Vitalität, Ihre Unbeirrbarkeit, Ihre Tänze, Lieder und Fahnen, Ihre gelebte Liebe zum eigenen Herkommen und Ihr Zusammenhalt – sie begeistern.

Aber es gibt eine Steigerung. Und das ist hier oben zu stehen. Das bunte Bild, vor allem die Trachten in dieser Menge und Unterschiedlichkeit: ein wunderschöner Anblick. Er bewegt mich. Ich sage es deshalb bewusst als Imperativ: Das muss man als Politiker gesehen und erlebt haben, beziehungsweise andersherum: Politiker, die nicht zu Ihnen finden, haben ein politisches Navigationsgerät, das fehlerhaft funktioniert und vielleicht auch sonst in Sackgassen lotst.

Umso klarer unterstreiche ich: Wer eine echte Tracht anzieht, der verkleidet sich nicht, der will kein anderer sein. Er legt vielmehr ein sichtbares Bekenntnis ab, ein Bekenntnis zu sich und zu dem, was ihm wichtig und was ihm heilig ist. Mit einem Satz: Er legt seine Seele offen. Das ist so bei einer authentischen Tracht aus dem Hotzenwald in Baden-Württemberg, aus dem Isarwinkel in Bayern oder aus dem Altenburger Land in Thüringen. Ihre Trachten, meine Damen und Herren, die Sie bei all Ihren Begegnungen und Treffen immer wieder vorführen und zeigen, manifestieren freilich darüber hinaus eine ganz besondere Botschaft. Und die lautet: All das Schreckliche, das Sie, Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern im 20. Jahrhundert erleiden mussten, all das Unrecht, das Ihnen angetan wurde – nichts und niemand konnte Ihnen Ihre Seele als Banater Schwaben rauben. Nicht Stalin, nicht Ceaușescu, nicht Tito. Nicht Vertreibung und Verschleppung, nicht Deportation zur Zwangsarbeit nach Russland, nicht Diskriminierung, Enteignung und staatliche Stigmatisierung in der angestammten Heimat bis 1989.

Das erhellt: Die Katastrophe für unseren Kontinent, die mit dem Kriegsausbruch im Sommer vor 100 Jahren begann, endete für Sie, meine Damen und Herren, erst 76 Jahre später. Ihr Festhalten an der eigenen Identität und das Engagement, mit dem Sie Ihren kulturellen Schatz pflegen, waren und sind deswegen eine enorme menschliche und eine enorme politische Leistung. Ich habe großen Respekt vor dieser Lebensleistung und möchte Ihnen heute auch namens der Landespolitik von Herzen dafür danken.

Dabei ist mir bewusst: Dass die Tragödie der Banater Schwaben vor einem Vierteljahrhundert endete, gilt natürlich nur äußerlich. Denn so sehr Sie sich, meine Damen und Herren, Mal um Mal auf diesen Heimattag als großes Familienfest freuen, so sehr ist er für Sie auch eine mentale Anstrengung. Weil das Erlittene automatisch wieder vor Augen tritt und Sie von neuem aufwühlt. Leid und Unrecht kann man nicht ungeschehen machen. Ein schlicht anmutender Satz. Sie, meine Damen und Herren, wissen, was er tatsächlich bedeutet.

Damit nicht genug: Je älter Sie werden, desto häufiger und desto intensiver kommt in Ihnen wieder und wieder hoch, was Sie durchmachen mussten. Das ist kein Revanchismus, das ist Realität! Sie reiten nicht auf Schlachtrössern der Donau entlang in Richtung Südosten. Jeder sollte Ihren Erzählungen genau zuhören, aus Respekt vor Ihrem Schicksal, aber auch um seiner selbst willen, um unseres Landes willen und um Europa willen. Denn die Leidensgeschichte der Banater Schwaben ist eine kategorische Aufforderung, konsequent ein Europa zu schaffen, in dem die Völker und Volksgruppen ohne Furcht voreinander harmonisch leben können und in dem das Recht auf Heimat als Menschenrecht uneingeschränkt akzeptiert ist. Wer Sie, meine Damen und Herren, und die individuellen Lebenswege Ihrer Familien sieht und richtig bewertet, der begreift, wie Europa aussehen muss!

Allgemeiner formuliert: „Der weiß nicht mehr, wo er herkommt“ – das war früher eine Abqualifizierung. Dann wurde dieser Spruch für viele Pseudo-Weltbürger eine positive Eigenschaft. Inzwischen gewinnt, gottlob, die Einsicht wieder an Boden, dass es eine Selbstamputation, eine Selbstverstümmelung ist, wenn man sich von seinen kulturellen Wurzeln löst oder wenn man gar seine landsmannschaftliche Herkunft verleugnet. Geschichtslosigkeit ist eine Form von Gesichtslosigkeit. Umso mehr als die Globalisierung unweigerlich Vereinheitlichung mit sich bringt. Flughäfen, Bahnhöfe, Hotelhallen, Einkaufszentren – sie erscheinen weltweit gleich. Unser Alltag internationalisiert sich. Soziologen sprechen von „McDonaldisierung“. Aber unsere menschlichen Seelen sind keine „Hamburger“ und dürfen auch nicht dazu gemacht werden!

Dafür gibt es inzwischen einen sehr schönen, eingängigen Begriff: „Herkunftskultur“. Ja, wir brauchen eine Herkunftskultur: ein kollektives, unzweideutiges Wertschätzen dessen, was uns ausmacht. Nur wer sich  selbst achtet, wird geachtet! Das gilt für Nationen genauso wie für Regionen und Städte, für Gruppen ebenso wie für einzelne Menschen. Eine echte Herkunftskultur stiftet Zusammenhalt, aber sie grenzt andere nicht aus. Oder inspiriert durch das tolle Bild, das sich mir von hier oben bietet: Eine Tracht zu tragen, ist eben immer auch eine Einladung zur Kommunikation, zur Kommunikation zwischen zivilisierten Menschen.

Sie, meine Damen und Herren, als Banater Schwaben sind idealtypische Gestalter einer konstruktiv verstandenen und vor allem konstruktiv praktizierten Herkunftskultur. Denn Sie vereinen das Wesentliche: die freiwillige Selbstbindung an Werte und den festen, redlichen Willen, aus der eigenen Kultur heraus einen spezifischen Beitrag zur gedeihlichen Entwicklung des Großen und Ganzen zu leisten.

Sie sind glücklich, Banater Schwaben zu sein. Und Sie wollen das kulturelle Erbe Ihrer Heimat erhalten und weitergeben, weil sich für Sie damit Tugenden wie Tatkraft, Gewissenhaftigkeit, Leistungsbereitschaft, Idealismus und Religiosität verbinden. Sie zeigen auf diese Weise exemplarisch: Kultur bedeutet seinem
lateinischen Wortstamm nach in gleicher Weise „bewohnen“, „bebauen“, „pflegen“ und „ehren“. Kultur ist also weit mehr als Kunst. Kultur meint im Kern die Art, wie wir unser Dasein gestalten, welche Prinzipien uns leiten, welche Ziele wir verfolgen, was für uns nicht „verhandelbar“ ist. Und solche Menschen braucht Baden-Württemberg, braucht Deutschland und braucht Europa!

Es beinhaltet für Sie, meine Damen und Herren, natürlich allenfalls nur eine minimale Genugtuung – aber was Ihnen angetan wurde, hat Ungarn,
Jugoslawien und Rumänien nicht genutzt. Im Gegenteil. Die Kommunisten dort haben sich selbst und ihren Ländern massiv geschadet, ökonomisch und kulturell. Die „Vertreiber“ waren nach der Vertreibung nicht reicher, sie waren erheblich ärmer. Umso mehr sollte es uns alle ermutigen, dass die jüngere Generation speziell der Rumänen begreift, was die deutschen Volksgruppen geleistet und dort in zwei Jahrhunderten erschaffen haben. Temeswar ist bekanntlich heute ausgesprochen stolz darauf, dass es als erste europäische Stadt seine Straßen elektrisch beleuchtet hat. Ein Banater Glanzlicht, ein Banater „Highlight – sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn.

Nicht allein wir Deutsche sind einem grauenvollen Nationalismus erlegen. Auch andere müssen eingestehen, dass Schlimmstes möglich wird, wenn Hass und Willkür regieren. Ja, Hitler hatte die Menschenrechte barbarisch außer Kraft gesetzt. Trotzdem gilt auch für die Vertreibung der Deutschen: Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, selbst wenn ihm ein anderes vorausging. Doch damit es keine Missverständnisse gibt: Erinnern darf nicht zu einem absurden Aufrechnen degenerieren! Gräuel gegen Gräuel, Entwürdigung gegen Entwürdigung zu stellen – das ist schlicht inhuman! Menschliches Leid kann nicht saldiert werden. Es kommt auf etwas völlig anderes an. Ich sage es in den Worten, mit denen der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel einst seine Grundsatzrede zur Aussöhnung Tschechiens mit Deutschland geschlossen hat. Sie lauten: „Ich glaube an die Macht der Wahrheit und des guten Willens als Hauptquellen unseres gegenseitigen Verständnisses.“

Ja, meine Damen und Herren, die Macht der Wahrheit und des guten Willens sind die Motoren für eine dauerhaft friedliche und gedeihliche Zukunft Europas. Und wir können Gott sei Dank feststellen: Im alten Banat wächst beides: die Wahrheit und der gute Wille, insbesondere von rumänischer Seite. Das ist eine riesige Chance für ganz Europa. Und wir sind dabei, diese Chance zu nutzen. Politisch prägend und in der Sache nachhaltig durch die EU-Donauraumstrategie, die von Baden-Württemberg federführend initiiert worden ist. Die Donau – der europäischste aller Ströme – soll wieder zu einem Entwicklungsstrang werden, der unseren Kontinent im Praktischen miteinander
voranbringt und das leider vorhan-dene ökonomische und soziale Gefälle abbaut. Die Donau wie ehedem zur Zeit der „Ulmer Schachteln“, so jetzt im 21. Jahrhundert eine „Achse des Guten“. Diese Idee treibt uns an.

EU-Donauraumstrategie heißt: Baden-Württemberg, Bayern und 36 weitere Regionen aus insgesamt acht EU-Staaten und sechs anderen Donau-Anrainern arbeiten zusammen. Es geht um Wirtschaft und Verkehr, Ökologie und Hochwasserschutz, Bildung, Wissenschaft und natürlich Kultur. Besonders die Sprachbarriere zwischen Ungarn und Deutschen täuscht: Die Donau war und ist ein großer Kulturraum mit 115 Millionen Menschen. Und zu dem gehören wir quasi mindestens dreifach: durch den Flusslauf, durch Ulm als „heimlicher Hauptstadt“ des Banats und durch Sie, meine Damen und Herren, weil Sie auch im Alltag, also wenn Sie keine Tracht anhaben, bekennende Banater Schwaben sind.

Ja, unsere EU-Donauraumstrategie hat weit zurückreichende, aber ganz solide Grundpfeiler: das Vorbild und die Pionierleistungen Ihrer Ahnen, meine Damen und Herren, im 18. Jahrhundert. Und ebenso die Verbundenheit, die Sie – trotz allem oder gerade wegen allem – in den letzten Jahrzehnten zu Ihrer angestammten Heimat bewahrt haben.

Sie, meine Damen und Herren, hat schon vor 1990 der allgegenwärtige Niedergang im Banat geschmerzt, angefangen vom Verfall der Kirchen, Bürgerhäuser und Höfe bis zum Ausmerzen der Sprache. Das hat Sie nicht ruhen lassen. Sie wussten, dass Sie auf der richtigen Seite der Geschichte standen. Sie glaubten deshalb auch an die Wiedervereinigung, und Sie glaubten unverdrossen an ein Europa ohne „Eisernen Vorhang“. An Ihnen kann man deshalb mustergültig sehen: Wer seine Heimat wirklich liebt, ist an deren Zukunft interessiert. Und für Sie hieß die Zukunft des Banats immer Europa. Ihre Hoffnung und Ihr kluges Kalkül war, dass die Freiheit irgendwann – in der modernen Internetsprache ausgedrückt – ein „Banat 2.0“ schafft. Und Sie dürfen sich bestätigt fühlen!

Wohlgemerkt: Diese europäische Perspektive war nichts Opportunistisches, sie gehört originär zu Ihrer Identität als Banater Schwaben, meine Damen und Herren. Zugleich sind Sie stets auch Patrioten in allerbestem Sinn gewesen. Heimatliebe, europäischer Geist und Patriotismus – Sie haben bewiesen, dass diese drei Haltungen schlüssig zusammengehen, ja, dass sie sich bedingen. Ob durch die Vertreibungswellen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ob durch den Freikauf aus den Fängen des Ceaușescu-Regimes: Sie, meine Damen und Herren und Ihre Familien, kamen als Deutsche zu Deutschen. Sie brachten die gemeinsame Sprache und gemeinsame Wertvorstellungen mit. Deshalb darf man Ihre Ankunft, Ihr Einleben, Ihr Aufbau einer Existenz, Ihren maßgeblichen Beitrag zum sogenannten Wirtschaftswunder nicht vergleichen mit dem, was wir heute unter dem Begriff „Integration“ diskutieren. Oft auch angesichts prekärer Phänomene leider diskutieren müssen.

Für Sie war es nie ein „Thema“, es war für Sie normal: Wer Mitbürger sein will, der muss Verantwortung übernehmen! Zunächst Verantwortung für sich selbst, für das eigene Dasein und Auskommen, dann Verantwortung für die Familie, Verwandten und Freunde und darüber hinaus Verantwortung in der Gemeinschaft: von der Nachbarschaft über die Kommune, das Land und die Nation bis eben hin zum Miteinander in Europa. Von Ihnen, meine Damen und Herren, können viele lernen, wie man Zusammenhalt schafft und trotzdem ein Gemeinwesen insgesamt positiv mitgestaltet. Ihre Landsmannschaft – wie auch die anderen Landsmannschaften – sind Urformen einer aktiven Bürgergesellschaft.

Auch für dieses Charakteristikum, das Sie, meine Damen und Herren, unüberbietbar auszeichnet, existiert ein wissenschaftlicher Begriff: „Staatsfreundschaft“. Mit „Staatsfreundschaft“ beschreibt man eine dem Gemeinwesen und dem Allgemeinwohl zugewandte Haltung der Rechtschaffenheit und des Optimismus. Diesen positiven Patriotismus kann man
natürlich nicht verordnen. Jeder Einzelne muss dazu die Einsicht, den Mut und die Kraft haben. Lediglich dann gelingt im Übrigen, ihn an junge Menschen weiterzugeben. Niemand weiß und praktiziert das besser als Sie, meine Damen und Herren!

Deshalb werden Sie verstehen, dass ich betone: Eine emotionale innere Bindung an das Gemeinwesen ist gerade in einer demokratischen Gesellschaft nicht bloß wünschenswert. Nein, sie ist in einer freiheitlichen Ordnung unabdingbar notwendig. Sonst gibt es weder einen reißfesten Zusammenhalt bei kollektiven Bewährungsproben, wie zum Beispiel nach Naturkatastrophen, noch den gemeinsamen Willen, miteinander an einer gedeihlichen Zukunft für alle zu arbeiten.

Darin liegt der entscheidende Unterschied einerseits zwischen „Multi-Kulti“ und andererseits jener Vielfalt, zu der Sie, meine Damen und Herren, so viel Substanzielles beitragen – und durch die Sie Deutschland stärken und bereichern. „Multikulturalität“ mag eine zutreffende Schilderung des Zustands, besonders in manchen Großstadtquartieren sein. Aber auch in der „Multikulturalität“ braucht es einen Grundkonsens, einen Mindestbestand an unbestrittenen Orientierungen.

Unser Grundgesetz, das vor zwei Wochen 65 Jahre alt geworden ist, ermöglicht diese „Vielfalt mit Grundkonsens“, aber unser Grundgesetz erwartet sie auch. Oder angelehnt an das Johannes-Evangelium gesprochen: An ihrem Willen zur gemeinsamen Zukunft sollt ihr sie erkennen! Die „Gretchenfrage“, die darin steckt, haben Sie als Banater Schwaben immer bewundernswert eindeutig beantwortet, verbal und vor allem durch Ihr Handeln. Daraus wiederum folgt: Wer zu Ihnen kommt und wer vorbehaltlos zu Ihnen steht, der verortet sich – menschlich und politisch – richtig!

Durch Ihre Geradlinigkeit, meine Damen und Herrren, und Ihr kulturelles Engagement leisten Sie unserem Land und unserem Kontinent einen unschätzbar kostbaren, weil auch wegweisenden Dienst. Dafür gebührt Ihnen ein Höchstmaß an Dank und Anerkennung. Das wollte ich an diesem schönen Pfingstsonntagmorgen zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, es ist mir gelungen. Sodass Sie wie ich – auch politisch betrachtet – sagen: Was für ein schöner Sonntag!