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Literaturstunde setzt kulturell weltläufigen Akzent

Die Literaturstunde auf dem „Grünen Sofa“ − ein Novum beim diesjährigen Heimattag der Banater Schwaben in Ulm − wurde von Ilse Hehn, Julia Schiff und Horst Samson bestritten.

Die Literaturstunde wurde von Katharina Kilzer und Walter Roth souverän moderiert. Fotos: Karin Bohnenschuh

Beim Heimattag in Ulm: Lesung aus den neuesten Werken von Ilse Hehn, Franz Heinz, Horst Samson und Julia Schiff

Die Literaturstunde auf dem „Grünen Sofa“ beim diesjährigen Heimattag der Banater Schwaben in Ulm war ein Novum. Die Lesung mit beziehungsweise aus den Werken der Schriftsteller Ilse Hehn, Franz Heinz, Horst Samson und Julia Schiff verlieh dem Treffen eine kulturell weltläufige Dimension. Die Idee dazu hatte die Publizistin und FAZ-Mitarbeiterin Katharina Kilzer. Die gebürtige Jahrmarkterin hatte im Vorfeld alle organisatorischen Vorbereitungen getroffen und sich auch bereit erklärt, den literarischen Salon zusammen mit dem aus Bruckenau stammenden Schauspieler Walter Roth zu moderieren. Dass der Bundesvorstand der Landsmannschaft gut beraten war, den Vorschlag aufzugreifen und die Lesung in das Veranstaltungsprogramm des Heimattages einzubauen, zeigt die erstaunlich hohe Resonanz, auf die das Angebot stieß. Viele Besucher des Banater Treffens fanden den Weg zu dem Konferenzraum der Donauhalle und verfolgten die Lesung mit Interesse und Offenheit.

Wie es die Banater Schriftsteller mit der Heimat hielten, wäre – angesichts des Mottos des Pfingsttreffens „Heimat erfahren und bewahren“ – eine durchaus interessante Fragestellung, gaben die Moderatoren bei ihrer Einführung in die Lesung zu bedenken. Die Begegnung mit Banater Schriftstellern wolle dieses Thema aufgreifen und zudem Einblicke in die neuesten Veröffentlichungen der geladenen Autoren gewähren. Die fast drei Jahrhunderte zurückreichende Vergangenheit der Banater Schwaben, die jeder von uns – mehr oder weniger bewusst – in sich trägt, widerspiegele sich auch in der Literatur. Vor allem der jüngste Teil der banatschwäbischen Geschichte, geprägt von den Erfahrungen, die die Autoren im kommunistischen Rumänien und nach ihrer Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland gemacht haben, liefere den Stoff für unzählige literarische Werke. Dadurch werde ein Heimatbezug hergestellt, auch wenn Schriftsteller manchmal ein etwas zwiespältiges Verhältnis zur Heimat haben. Heimat sei eben für jeden was anderes, für die einen die Sprache, für andere ein Ort, eine Tradition, Familie, Bräuche, Sitten. Das alles sei aber letzten Endes Erinnerung. Und die gelte es für die nachfolgenden Generationen zu bewahren – auch mittels Literatur, die Zeichen der Erinnerung gegen das Vergessen setzt.

Gestützt auf eine eindrucksvolle, von Katharina Kilzer erarbeitete PowerPoint-Präsentation, stellten die beiden Moderatoren die geladenen Autoren vor. Die knappen biografischen Daten und Angaben zum schriftstellerischen Werk vermochten es, die Autoren persönlich wie auch literarisch zu verorten.

Den Anfang machte der Dichter Horst Samson, der ab seinem zweiten Gedichtband, dem preisgekrönten Buch „Tiefflug“ (1981), beachtenswerte eigene Wege ging, seinen eigenen Stil entwickelte und eine originäre Art entdeckte, sich dichtend mit der rumäniendeutschen Problematik auseinanderzusetzen. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturpreises 1982 sagte er: „Verstörungen und Verfestigungen, Bedrängnis und Entsetzen, vom Schlag getroffene Stimmbänder, denen Tag für Tag immer mehr an Sprache geraubt wird – das macht den Boden meiner Texte aus. In ihnen schaffe ich mir eine Welt, in der ich leben kann, in der ich frei bin, Sprache zu setzen, die es mir ermöglicht, den Verlust von Zukunftsglauben aufzuheben, meine Erfahrung und Erinnerung auf den Nenner der Erfahrung und Erinnerung zu bringen und vorzustoßen in Richtung jener Generalutopie, die für mich die Chance zum Überleben ausmacht.“

Wie viele andere Zeitgenossen, verzweifelt auch Horst Samson an der Diktatur, die den Menschen immer mehr die Luft zum Atmen abschnürt. Mutig thematisiert er die bedrückende und bedrohliche Lage in seinem Gedicht „Nocturne“, das an der Zensur vorbei Eingang in den Lyrikband „Lebraum“ (1985) fand, ihm aber dann ein Veröffentlichungsverbot einbrachte: Hat die Blumen ausgeblasen / Und den Horizont verbrannt, / Dann erstickte er den Rasen, / Wickelte in Nacht das Land. / Stieß die Sänger in die Runde, / Logen uns Romanzen vor. / Stunde fraß die andre Stunde, / Grünspan legte sich ums Tor. / Ging ein Haus, ging auch das andre, / Nur die Bäume blieben stehn. / Seit der Trommler sprach: „Ich wandre!“, / Sieht man auch die Bäume gehn.

In einem seiner Gedichte heißt es: Gedichte / Sind ein Zuhause / Für alle / Die keins haben. Gedichte sind Samsons Zuhause. Einen kleinen Einblick in dieses Zuhause gewährte der Dichter bei der Lesung in Ulm. Zunächst trug er einige Gedichte vor, meist ältere lyrische Texte, die in der neuesten Ausgabe der Literatur- und Kunstzeitschrift „Bawülon“ (herausgegeben vom Pop-Verlag Ludwigsburg) enthalten sind. Heft 2/2014 ist eine Horst Samson zum 60. Geburtstag gewidmete Festausgabe. Gedichte wie „Nachbemerkungen zu meiner Geburt“, „Die Zerstörung der Welt in sieben Tagen“, „Dahingehen. Den Thüringer Freunden“, „Die Vermessung der Traurigkeit“ oder „Das Land“ lieferten eine Kostprobe seiner poetischen Sensibilität und seines meisterhaften Umgangs mit Sprache. Sodann las der Autor das seinem Vater gewidmete Gedicht „Pünktlicher Lebenslauf“: Nachts setzt sich Nachbar Hans / Den Stahlhelm auf, / Steckt sich ein Gebetbuch / In die Brusttasche / Und fährt mit seiner schwarzen NSU / Durch ein Minenfeld bei Narwa / In Richtung Leningrad / Morgens um fünf / Ist er wieder da.

Das 1981 entstandene Gedicht zählt zu den besten Samsons. Zu der Geschichte hinter dem Gedicht hat er einen eindrucksvollen Prosatext verfasst mit dem Titel „Über die Endlosschleife“, den er zum Schluss vortrug. Darin heißt es: „Tausend Sachen beherrscht der Teufel, aber dichten kann er nicht. Aber ich. Und eines Tages gelang mir der Beweis. Ich schrieb ein neun Zeilen langes Gedicht über diesen schrecklichen unendlichen Krieg und nannte es ‚Pünktlicher Lebenslauf‘. Der Titel allein spiegelt eine Generation in ihrem existentiellen Verständnis.“ Es ist eine warmherzige Hommage an den Vater, „Soldat (…) bei der Nordland-Panzerdivision, SS-Mann und Meldefahrer zwischen Front und Hauptquartier“. Der Krieg sollte noch lange seine Gedanken beherrschen: „Nachts (…) bedrängten ihn oft Bilder des Grauens, Erinnerungen an zerfetzte Kameraden, zerfetzte Zivilisten, an das Elend des Russlandfeldzuges, den er überlebt hatte und der an jenem 9. Mai 1945, als er in Berlin in russische Gefangenschaft geriet, keine Ende gefunden hatte.“

Julia Schiff, in München lebende Schriftstellerin und Übersetzerin, brachte im vergangenen Jahr ihren dritten Roman im Ludwigsburger Pop-Verlag heraus. Wie schon in den  Romanen „Steppensalz“ und „Reihertanz“, widmet sich die Autorin auch in diesem Buch mit dem Titel „Verschiebungen“ der Aufarbeitung der Vergangenheit sowie ihrer eigenen Lebensgeschichte. Ihre an der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität angesiedelte Prosa rekurriert auf die Kraft der Fiktion, um einerseits Erfahrungen verstehbar und kommunizierbar zu machen und andererseits Erinnern zu bewirken.

Zum besseren Verständnis des von der Autorin vorgelesenen Fragments fasste Walter Roth den Inhalt des Romans kurz zusammen. Das autobiografisch gefärbte Werk handelt von den gewaltsamen Veränderungen im Leben einer Temeswarer Lehrerin und Schriftstellerin, die sie immer zu Umwegen und Neuanfängen zwingen. Die Deportation in die Bărăgan-Steppe in der Kindheit überschattet auf Jahrzehnte ihr Leben. Ende der sechziger Jahre zieht Anna, so heißt die Hauptperson des Romans, mit ihrer Familie in ein Haus in der Temeswarer Ofcea-Gasse ein. Nach und nach erfährt der Leser nicht nur ihre Familiengeschichte, sondern auch jene ihrer Nachbarn. Denn es ist eine Straße, „in der sich alle kennen, von der vorerst noch niemand wegzieht und niemand hinzukommt, in der mit den Jahren Kinder zu Teenagern wachsen und Erwachsene gebeugte Greise werden“. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt „bleibt die Straße mit den Häusern die Konstante, und die Menschen, die sie bewohnen, die Variable“. Die Autorin beschreibt diese Veränderungen und breitet vor den Augen des Lesers ein beispielhaftes Sittenbild der kommunistischen Gesellschaft Rumäniens in der Ceauşescu-Ära aus, die von wirtschaftlicher Not, Bespitzelungen und staatlicher Zensur geprägt war. Darunter hatte auch die Protagonistin des Romans zu leiden. Als Schriftstellerin und Übersetzerin gewinnt sie Einblick in das literarische Leben ihrer Stadt und muss erfahren, wie die zur Veröffentlichung eingereichten Texte verstümmelt und modifiziert werden, wie die Staatssicherheitsbehörden Menschen systematisch brechen und zur Mitarbeit zwingen. Immer mehr Menschen aus dem Kreis befreundeter Intelektueller, Künstler und Schriftsteller verlassen deshalb das Land. Eine Schicksalsgemeinschaft löst sich auf. Auch Annas Familie wandert in die Bundesrepublik Deutschland aus. Die ersten und enttäuschenden Erfahrungen in der neuen Heimat beschließen den Roman.

Als nächstes stellte Ilse Hehn ihr neuestes Buch vor: „Heimat zum Anfassen oder: Das Gedächtnis der Dinge“, erschienen im vergangenen Herbst im Gerhard Hess Verlag. Es handelt sich dabei um eine elegant gestaltete fotografische Anthologie der banatschwäbischen Dingwelt in zwei Bänden mit über 400 Seiten. Die Schriftstellerin und vielseitige Künstlerin, die sich gerne auch der Fotografie widmet, hat in Museen, Heimatstuben und privaten Sammlungen, aber auch auf einer Reise durch Banater Dörfer eine Unmenge an (oft auch unscheinbaren) „Dingen“ – Haushalts- und Arbeitsgeräte, Gegenstände der Wohn- und Kleidungskultur, Zeugnisse des Glaubenslebens und vieles andere mehr – aufgespürt und mit der Kamera festgehalten. Weit über 300 feinsinnige Fotografien fügen sich mosaikartig zu einer
„Geschichte der donauschwäbischen Häuslichkeit, der Arbeit und der Feste“ (Franz Heinz). Passend zu den Bildern oder Bildmotiven hat Ilse Hehn literarische und dokumentarische Texte von Banater Autoren ausgewählt. Vertreten sind unter anderen Nikolaus Lenau, Adam Müller-Guttenbrunn, Heinrich Lauer, Ludwig Schwarz, Franz Heinz, Balthasar Waitz, Johann Lippet, Horst Samson, Anton Peter Petri. Erich Lammert, Hans Gehl.

Das Buch will, wie es die Autorin im einführenden Text „Das Gedächtnis der Dinge“ formuliert, „künstlerisch überformte Erinnerungsarbeit“ leisten und bietet eine „assoziative Geschichte Banater Lebens“ an. „Im Grunde ist es ein Buch gegen das Vergessen einer bereits (halb)versunkenen banatschwäbischen Lebensart, ein künstlerisch anspruchsvolles, souveränes Unterfangen, Vergangenes in die Gegenwart zu retten und für die Zukunft zu bewahren, als einen besonderen heimatlichen Erinnerungswert“, schreibt Walter Engel. Es bleibe dem Betrachter selbst überlassen, die von Ilse Hehn fotografierten Dinge aus dem dörflichen und bürgerlichen Banater Alltag „mit eigener Vorstellungskraft und Erfahrung auszufüllen oder mit erzählter Familienüberlieferung zu beleben“. Im Angebot dieser Freiheit an den Leser, ein eigenes Heimatbild zu gestalten, liege eine besondere Stärke des Buches, so Engel.

Als letztes las Walter Roth einige Passagen aus dem kürzlich im Berliner Anthea-Verlag erschienenen Roman „Kriegerdenkmal. 1914 – Hundert Jahre später“ von Franz Heinz, nachdem er auf dessen Inhalt kurz eingegangen war. Dem Autor selbst war es nicht möglich, an der Lesung teilzunehmen, er übermittelte aber
einen Gruß. Heinz schrieb: „Es ist mir eine große Freude zu wissen, dass unsere Literatur zum Pfingsttreffen dazugehört und als integrativer Teil angenommen wird. Es ist noch viel aus unserer Vergangenheit und Gegenwart aufzuarbeiten, und so wird es ein Anliegen der Banater Autoren bleiben, den heimatgebundenen Hintergrund in ihre Arbeit einzubeziehen.“

Phil, die Hauptperson des Romans, ein Deutscher, reist mit der Eisenbahn, zusammen mit Betty und Marlen, zwei Österreicherinnen, von Temeswar über die Ostroute nach Galizien, mit Zwischenaufenthalten in Bukarest, Bacău, Suceava und Cernowitz. Es ist eine Reise zurück in die Vergangenheit. Phil ist auf den Spuren seines Großvaters, des aus Perjamosch stammenden Bäckers und k.u.k. Honvéds Franz Potichen, der in Galizien in Kriegsgefangenschaft geriet und im sibirischen Omsk ums Leben kam. Er hinterließ eine junge Witwe mit vier Kindern. Der Tod des Großvaters und das Nachleben seiner Witwe Katharina werfen Fragen über Fragen auf, deren Rätseln Phil auf seiner Reise, die in Werschetz und Perjamosch beginnt und sogar über das Romanende nach Lemberg weitergeht, nun nachspürt. Betty reist ebenfalls auf den Spuren eines kriegsversehrten Schicksals; sie hat eine österreichische Offiziersfrau gekannt, die sich nach dem Kriegstod ihres Mannes in Czernowitz mit einer Ersatzliebe am Leben gerächt hat.

Das Buch handelt weder von Krieg noch von Kriegern, wie es der Titel vermuten lässt. Es ist vielmehr, wie Georg Aescht befindet, eine „historisch kundige und atmosphärisch dichte, poetisch resonante und bedächtig räsonierende Schilderung in sich versunkener und weiter versinkender Welten“, jener einst kaiserlichen und königlichen Landstriche, „wo sonst kaum einer hinfährt“. Auf dieser Reise ins Unbekannte sinniert der Autor immer wieder über Gott und die Welt, Frauen und Männer, Liebe und Glück, Verlust und Vergänglichkeit. Und die Einsicht am Ende: „Je weniger du weißt, je weniger kommst du los davon. Vielleicht beschäftigt uns nichts ausgiebiger als das unwiederbringlich Verlorene. Willst Gewissheiten und stößt ausschließlich auf Banalitäten.“

Das positive Echo der Lesung bei  den geladenen Autoren und beim Publikum hat gezeigt, dass die Banater Literatur durchaus ihren berechtigten Platz bei landsmannschaftlichen Veranstaltungen hat, zumal es eine Literatur ist, mit der wir uns überall zeigen können.