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Als ob sich die Zeit zurückgedreht hätte

Im Zeichen der Verbundenheit mit der Ortsbevölkerung nahmen auch zahlreiche Paare in rumänischen Trachten an den Festlichkeiten zum Dorfjubiläum teil. Foto: HOG Großjetscha

Ein Bild, das sich der Großjetschaer Kirche schon lange nicht mehr geboten hatte: Dem Kirchweihgottesdienst wohnten zahlreiche Gäste und Trachtenträger bei. Foto: Walther Konschitzky

Mehr als 50 Trachtenpaare, angeführt von dem ersten Geldherrenpaar Elwine und Ewald Muth, marschierten zu den Klängen der Rekascher Blaskapelle durch das Dorf. Foto: Walther Konschitzky

250 Jahre seit der Ansiedlung von Großjetscha werden im Jubiläumsjahr 2017 gebührend gefeiert. Viele hat es in das alte Zuhause gezogen, um noch einmal eine Tradition auf-leben zu lassen, die das Banat aus-gemacht hat. Ein Kerweihfest zum Dorfjubiläum, an dem auch rumänische Tradition teilhaben kann, in Freundschaft und Erinnerung an alles, was durch gemeinsame Wertschätzung verbindet – und es wurde ein rauschendes Fest!

Dabei fing es ganz leise an. Ein heißer Samstagmorgen im Banat, die Sonne brannte schon um 8 Uhr sommerlich heiß herunter, aber im Schatten spürte man den typisch leisen, stetigen Wind der großen Ebene. Der Storch auf dem Mast an der Kreuzung vor der Kirche in Großjetscha lugt neugierig über den Rand seines Nestes, die jungen Störche klappern mit den Schnäbeln.

Unter ihnen entsteht Bewegung, ein Auto nach dem andern, dann ein Minibus und noch einer rollen zur Schule, parken im Schulhof, und immer mehr Stimmen klingen in freudigem Hallo, als sich die Angekommenen vorfreudig begrüßen. Die Direktorin der Großjetschaer Gymnasialschule, Rodica Achim, hatte die Klassenräume der „Kleinen Schule“ zum Ankleiden zur Verfügung gestellt. Emsig werden Koffer und Kisten ausgeladen, umgeladen, eingeladen, Kaffee wird gebracht und wieder fortgetragen, Hilfe beim Anziehen der sorgsam transportierten Trachten wird gesucht und auch immer gefunden. Wer keine Schürze schnürt oder Schnappschüsse macht, hilft beim Verteilen der ersten Stärkungen. Ein Gemeinschaftsgefühl kommt auf, nicht nur wegen der Erinnerungen, die für viele mit ihrer früheren Schule verbunden sind. Es wird in Klassenräume gehuscht, ständig hört man Kichern und Rufe durch Gänge und Klassenzimmer.

Ein bisschen wirkt es, als wäre die Zeit zurückgedreht – die Klassenzimmer sind dieselben, gefüllt von Menschen, die sie schon vor vielen Jahren gefüllt hatten. Doch den Geschichten zufolge, die ausgetauscht werden, ist die Stimmung heute viel gelassener. Unter dem Gefühl zurückgedrehter Zeit steht der ganze heutige Tag – es ist Kerweih in Großjetscha!

Tanzgruppen aus Temeswar, Billed und Warjasch unter der Leitung von Hans Müller und die Jugendtanz- und Trachtengruppe aus Singen – die meisten mit Großjetschaer Wurzeln, unter der Leitung von Hilde und Horst Redl – bilden den über fünfzig Paare langen Zug, der in beeindruckender Aufstellung zur Blechmusik aus Rekasch die Hauptstraße an verschiedenen Straßenständen entlanggeht. Ein Leitmotiv dieses Tages wird deutlich, als diese deutschen Paare in banatschwäbischen Trachten, rumänischen Paare in banatschwäbischen Trachten und rumänischen Paare in rumänischen Trachten in gemessenem Schritt an einem vorbeiziehen: Hier soll auch sie gefeiert werden, die freundschaftliche Verbindung über die Kulturen hinweg, weil man sich demselben Ort zugehörig fühlt und bei allem, was einen trennt, doch auch vieles miteinander teilt.

Das Kerweihständchen tanzen alle Paare gemeinsam vor dem weit geöffneten Hoftor der Familie Martini. Claudine und Dominik Martini werden nach unserer Sitte mit einem geschmückten Apfel von dem ersten Geldherrenpaar Elwine und Ewald Muth und dem zweiten Geldherrenpaar Elisabeth und Helmut Reiter zum Kirchweihfest eingeladen – stellvertretend für die Honoratioren des Dorfes. Im einladenden Hof in der Hauptgasse wird vom Hausherrn Schnaps gereicht und der Zug kehrt zurück zur Dorfmitte.

Nach einer berührenden Predigt von Generalvikar Johann Dirschl vor vollen Bänken in der Großjetschaer Kirche und nach Segnung der Kirchweihpaare und des Kirchweihstraußes  wird feierlich die eigens angefertigte Gedenktafel enthüllt. Es folgen die Begrüßungsworte von Bürgermeister Liviu Tomulea, des Vorsitzenden der HOG Großjetscha, Norbert Neidenbach, und, wie bei jeder Kerweih, die Sprüche des ersten und zweiten Geldherren sowie die „Verletzetierung“ des Straußes. Dominik Martini ersteigert diesen für seine Frau Claudine. „Damit der Strauß im Dorf bleibt“, wie er sagte.

Danach kommen die zahlreichen Zuschauer genauso auf ihre Kosten wie die Tanzpaare, die direkt an der Hauptstraße Kreisaufstellung beziehen, um die Hüte der Herren herum, die in der Mitte abgelegt ein Zeichen sind, dass der schwungvolle Teil nun beginnt. Als die Musik einsetzt, wird Tempo aufgenommen, Füße in weißen Strümpfen wirbeln bei der Zeppelpolka, lachende Gesichter und blitzende, veilchenblaue Augen sprühen vor ansteckender Begeisterung, die Faltenröcke wippen im Takt. Es ist die Freude, hier auf der Hauptstraße, vor der Kirche zu zeppeln, in der eigenen Tracht zur Blechmusik – unter der heißen Sonne vom klarblauen, weiten Himmel des Banats. Der Wein vom „Kerweihnarr“ – Franz Muth macht seine Sache hervorragend und voller Begeisterung – versiegt nie, und auch Zuschauer mischen sich unter die Tanzpaare, der Hitze trotzend – weil das Hochgefühl hier und heute, wo Tradition und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft so harmonisch zusammenfließen, alle mitreißt.

Nach Tanzeinlagen der Großjetschaer rumänischen Kindertanzgruppe in rumänischer Tracht, nach den Auftritten der rumänischen Folkloretanzgruppen aus Großjetscha und Großkomlosch sowie des Ensembles „Banatul“ aus Temeswar wartet eine Stärkung im Gemeindesaal. Ausreichend verköstigt, durfte zum Kaffee noch Appelpita genascht werden, bevor schon die ersten Abschiede anstanden. Die Trachten-paare, die an der feierlichen Eröffnung der Kulturtage in Temeswar teilnehmen sollten, mussten leider aufbrechen.

Im Anschluss war von Familie Martini großzügig zum Ausklang eines wunderschönen Tages geladen worden, doch bevor noch einmal aufgetischt wurde, wurde ein weiterer Höhepunkt erwartet – die Münchner Musikschule unter der Leitung von Karl-Wilhelm Agatsy reiste von der Eröffnung der deutschen Kulturtage in Temeswar direkt nach Großjetscha an, um vor der Kirche klassische Klänge zum Festtag beizusteuern. Das Improvisationstalent der Organisatoren war kurz herausgefordert, doch durch einen Großeinkauf von Wäscheklammern im Laden um die Ecke und den Einsatz eines Fahrradgepäckträgers als Krautwickeltransporteinrichtung konnte alles gemeistert werden, was vielleicht ein Stolperstein hätte werden können. Durch den umfassenden Einsatz und die Übersicht in allen Lebenslagen hat Familie Muth in allen drei Generationen einen unersetzlichen Teil zum Gelingen des Tages beigetragen. So konnte schließlich doch entspannt einer der ersten Aufführungen des Stückes „Banater Land, mein Heimatland“ gelauscht werden, einträglich versammelt im Graben vor der Kirche – und das leise „also, im Graawe vor de Kerch gsitzt und Klassik ghorcht, des han ich aach noch net“ fasst die Erinnerungen gut zusammen, die das Programm dieses Tages ausmachen.

Denn über den ganzen Tag hinweg wurde früher Gekanntes wieder lebendig, und stetig kam auch Neues dazu – schließlich kann auch im Laufe der Zeit nichts einfach nur bleiben, wie es ist. Doch ist es nicht der größte Gewinn, wahrhaftig zu erleben, dass nichts davon einfach so verschwindet? In Ehre gehaltene Erinnerungen leben auf eine andere Art weiter, und so lange die Traditionen nicht vergessen sind, kann ein Volk immer wieder nach Hause kommen. Zuhause ist schließlich nicht allein der Ort, sondern auch das Gefühl, das man damit verbindet, und das war an diesem großartigen Tag allgegenwärtig spürbar. Auch wenn heute vieles anders aussieht und viele Lieben nicht mehr da sind, so ist es doch immer noch Zuhause.

Noch einmal deutlich wurde genau dieses Gefühl des Heimkommens, als im Hof der Martinis bis so spät in die Nacht gefeiert wurde, dass die letzten erst in der Früh heimgingen. Es war für alles gesorgt, natürlich vor allem für das leibliche Wohl, doch auch für gute Gesellschaft, die einem das Gefühl gab, genau hierher zu gehören. Expertenmeinungen und mutige Einsätze brachten dabei enorme Mengen köstlich gegrillten Fleisches hervor, kein Glas wurde jemals leer und die kunstvollen Torten waren nicht nur für die Augen ein Gedicht. Die hervorragenden Gastgeber ließen herzlich spüren, wie willkommen jeder einzelne war, und scheuten keine Mühen. So konnte ein ganz besonderer Tag voller alter und neuer Erinnerungen auf die bestmögliche Art ausklingen – und alle konnten es sehen: Die Schwaben sind noch einmal nach Hause gekommen.

Die ersten ca. 160 Fotos von dem Fest wurden bereits auf unserer Homepage www.jetscha.de veröffentlicht. Weitere etwa 500 Fotos wie auch viele Video-Sequenzen werden dann – als DVD – beim HOG-Treffen am 16. September 2017 zur Verfügung stehen. Den Audiobeitrag der Deutschen Radiosendung Temeswar zu unserem Fest (von Adrian Ardelean) finden Sie im Internet unter www.funkforum.net/2017/06/19/250-jahre-grossjetscha/.