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Aktuelle Aufgaben, Zielsetzungen und Perspektiven

Bundesvorsitzender Peter-Dietmar Leber hielt einen vielbeachteten Einführungsvortrag zu den aktuellen Aufgaben, Zielsetzungen und Perspektiven der landsmannschaftlichen Arbeit. Foto: Cornel Simionescu-Gruber

Ansprache des Bundesvorsitzenden Peter-Dietmar Leber bei der Verbandstagung in Frankenthal (Teil 1) - „Gott hat die Menschen in ihre Heimat hinein gestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.“ In der am 5. August 1950 in Stuttgart verabschiedeten Charta der deutschen Heimatvertriebenen sind diese beiden Sätze zu finden. Worte wie Hammerschläge, die auf die finale Bedeutung des Begriffes Heimat hinweisen, hier aus dem Vertreibungsschicksal heraus negativ definiert. Wie haben sich diese Menschen gefühlt, welcher tiefe Schmerz führte hier die Feder, um solche existentielle Feststellungen zu treffen? Mit Zwang wurde man von der Heimat getrennt, im Geiste getötet. „Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt“, heißt es weiter und dann: „Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“

Heute, siebzig Jahre nach Flucht und Vertreibung von 15 Millionen Deutschen mit zwei Millionen
Todesopfern, erinnern wir an das damals erlittene Unrecht der Ost- und Südostdeutschen sowie der Sudetendeutschen, an Vertreibung, Verschleppung und Vernichtung. Es ist ein trauriger Anlass, und solange Zeitzeugen unter uns sind, die diese qualvolle Zeit erlebt und überlebt haben, bleiben wir gehalten, daran zu erinnern und zu mahnen: Vertreibungen sind weltweit zu ächten, lautet deshalb auch unser Appell hier von dieser Stelle, ein Appell, der nichts von seiner Bedeutung verloren hat, denn Vertreibungen halten nach wie vor an, überall in der Welt.

Erinnern bleibt unsere Aufgabe

Erinnern ist auch eine unserer Aufgaben. Erinnern heißt, jene Seiten unserer Geschichte aufzuschlagen, die im Gedächtnis haften geblieben sind, die uns prägten: Geburtshaus, Schule, Kirche, die Gräber der Vorfahren und ein dichtes Netz von zwischenmenschlichen, kulturellen und religiösen Bindungen: Sippen, Dorfgemeinschaften. Das ist es, was Heimat ausmacht, und dieses Gefüge wurde innerhalb kürzester Zeit, oft innerhalb weniger Stunden nur, zerstört. Unwiderruflich.

Christian Graf von Krockow, der große Pommer, schrieb in seinem bekannten Buch „Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema“ nach 42 Jahren seines Daseins in Göttingen: „Doch es ist seltsam: Noch immer haftet am Hiersein etwas Oberflächliches und Vorläufiges. Immer wieder geschieht es, dass ich die Barfüßer- mit der Jüdenstraße verwechsel, die ich vielhundertfach durchschritt, oder dass ich dem Wegsuchenden mit Ratlosigkeit begegne, so als sei ich kein Einheimischer, sondern ein Fremder wie er. In Pommern dagegen, da kenne ich mich aus.“ 42 Jahre in Göttingen gegen nur 17 in Pommern und dann so etwas! Was an Christian Graf von Krockow und vielen anderen genauso haften geblieben ist, das sind jene traumatischen Erfahrungen, die bei der Vertreibung und der Flucht, bei der Aussiedlung gemacht wurden.

Von den Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedlern wurde allgemein als Problem gesprochen. Ein Problem, das immer wieder auftrat, wenn es um Fragen der materiellen und sozialen Integration ging. Bald setzte jedoch dank eines großartigen Beistandspakts zwischen Einheimischen und Heimatvertriebenen das ein, was als „Wunder“ bezeichnet wurde. Man fing an vom „Wirtschaftswunder“ zu sprechen, man sprach vom Wunder der vorbildlichen Integration der Heimatvertriebenen. „Arbeit schafft Heimat“ war die Parole jener Jahre und die Vertriebenen packten an: Sie aktivierten ihre beruflichen Fertigkeiten, sie suchten die alten Netzwerke aus der Heimat und sie arbeiteten sich wieder hoch. Natürlich muss man an dieser Stelle auch die vorbildlichen Rahmenbedingungen nennen, wie Artikel 116 Grundgesetz, die Lastenausgleichsgesetzgebung, das Fremdrentenrecht, auf die sich die Heimatvertriebenen, aber auch die Aus- und Spätaussiedler bis Anfang der neunziger Jahre und zum Teil noch bis heute stützen konnten. Es ist ein weltweit einmaliges Rechtswerk durchgesetzt und geschaffen worden, durch das letztlich doch jeder auch einen Teil der Last des anderen trug. Man muss hier die kirchlichen Hilfsstellen als Vorläufer der Landsmannschaften erwähnen, die karitativ wirkten und genauso die große innere Bereitschaft der Flüchtlinge und Vertriebenen, die durch Fleiß, Leistungsbereitschaft, Behauptungs- und Erneuerungswille nicht nur den Verlust der Heimat wettmachen wollten, nein, sie wollten auch was Besseres schaffen. Etwas, das gegen das immer wieder aufkommende Sehnen nach der verlorenen Heimat Bestand haben, dieses vielleicht gar verdrängen sollte. Das ist nur zum Teil gelungen, denn die geistige Heimat im Herzen haben sich viele behalten.

Kulturelle Unverwechselbarkeit

Deshalb ist von uns immer auch an die kulturelle Dimension bei der Integration der Heimatvertriebenen und Aussiedler zu erinnern. Diese hat sich keinesfalls als Assimilation, als ein Versinken in der Anonymität vollzogen, nein, alle Landsmannschaften zeigen immer wieder ihre kulturelle Unverwechselbarkeit auf, und das ist auch gut so. Das deutsche Volk besteht nunmal aus verschiedenen Stämmen und zu dieser Vielfalt an Tradition und Brauchtum gehören auch die Heimatvertriebenen. In ihrem unsichtbaren Fluchtgepäck haben sie ein großartiges kulturelles Erbe mitgebracht, mit dem sie Deutschland bereichert haben. Dieses Erbe ist vom Rand – geographisch und gesellschaftlich gesehen – in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es wurden in den letzten Jahren doch eindeutige Weichen hierfür gestellt. Ich erinnere an die großen Ausstellungen des Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin: „Die Gerufenen“, „Erzwungene Wege“, „HeimatWeh“, ich erinnere an die Arbeit der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin, an die Verabschiedung eines
Gedenktages gegen Vertreibung in Bayern, Hessen und Sachsen, aber auch des Nationalen Gedenktages gegen Vertreibungen sowie an das verdienstvolle Wirken der einschlägigen Museen, die schon fast alle landsmannschaftliche Gruppen erfasst haben, die auch wir uns immer wieder erschließen sollten. Denn es gilt, dieses Gepäck immer wieder zu öffnen, es auszubreiten und auch für die jüngere Generation interessant zu halten. Aufzuzeigen, was hier alles drinsteckt, wie wertvoll es ist, dass es auch noch in den Menschen vorhanden ist und durch diese Menschen, die dieses Gepäck tragen, weiterlebt. Welch große Verantwortung, welch bedeutende Aufgabe!

Renaissance des Begriffs Heimat

Meine Damen und Herren, ich will nun kurz einige aktuelle Facetten unseres Wirkens ansprechen.
Wir müssen immer wieder daran erinnern, dass die Heimatvertriebenen, und ich beziehe hier die Aus- und Spätaussiedler natürlich mit ein, einer besonderen Unterstützung bedürfen, um ihr kulturelles Erbe zu pflegen und weiterzugeben. Sie können dies – ihrer Heimat, ihrer einstigen Gemeinschaft verlustig – ja nur unter besonderen Umständen und Anstrengungen machen. Deshalb hat der Gesetzgeber in Artikel 96 des Bundesvertriebenengesetzes Bund und Länder dazu verpflichtet, die Kulturarbeit der Vertriebenen zu fördern. Auch hier war in den letzten Jahren leider eine Erosion festzustellen, die nicht nur mit den finanziellen Problemen der öffentlichen Haushalte begründet werden kann. Nein, gezielt sollte die Kulturarbeit in die Museen verbannt, das lebendige Substrat an der Basis, in den Verbänden ausgetrocknet werden. Dagegen haben wir an einem solchen Tag zu protestieren und darauf hinzuweisen, dass für eine lebendige Kultur die Breitenarbeit wichtig ist, dass gewachsene Strukturen nicht zerstört, sondern – soweit noch intakt – auch gefördert werden sollten.

Wir dürfen aber auch nicht immer nur auf den Staat und seine Einrichtungen schauen und an diese appellieren, sondern wir müssen uns täglich fragen, was wir, jeder von uns, bereit ist, zu leisten, damit die Erinnerung an die Heimat aufrechterhalten bleibt. Wir halten die Formen der Erinnerung an unsere Heimat ja verschieden aufrecht, in einer neuen Umgebung, in einem anderen Umfeld, in einer Art, die an uns alle besondere Anforderungen stellt. Wir leben sie ja gewissermaßen nicht, sondern wir zelebrieren sie, wir zeigen sie auf: „Seht, das waren wir, das haben wir verloren, das ist es uns wert zu erhalten.“ Und es ist weiß Gott viel entstanden in diesen Regionen an den Rändern Deutschlands, aber auch Europas.

Wir leben heute in einer schnelllebigen Zeit. Was gestern unumstößlich war, zählt heute nicht mehr. Grenzen verschwinden, Bindungen werden aufgelöst, Staaten geben Souveränitätsmerkmale auf, für die sie gestern Kriege geführt hätten. Die Welt wird kleiner, aber nicht überschaubarer, ja im Gegenteil, sie wird unverständlicher, für den einen oder anderen bedrohlicher. Es ist daher nur natürlich, dass die engere Umgebung, der eigene persönliche Erfahrungsbereich an Bedeutung gewinnt, wertvoller wird. Man spricht immer häufiger von einer Renaissance des Begriffes Heimat, von der Wiederentdeckung von etwas Verlorenem, Zurückgedrängtem, als verstaubt und antiquiert in die Ecke Gestelltem. Das ist auch eine Chance für die Heimatvertriebenen, ihren Kindern und Enkeln bewusst zu machen, was für Erfahrungen, Geschichten, Zeitläufe in ihnen schlummern. Etwas bereithalten für die nächste Generation, aufschreiben, festhalten, aneignen, das Positive der verlorenen Heimat suchen und weitergeben, Denkanstöße liefern, auch für die Nichtvertriebenen – das halte ich für eine wichtige Aufgabe für die deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler.

Meine Damen und Herren, eines der größten Unternehmen in Deutschland ist die Deutsche Post. Sie hat mehr als eine halbe Million Beschäftigte weltweit, sie ist das größte Postunternehmen der Welt. Diese Deutsche Post macht sich unter anderem darüber Gedanken, dass ein Geschäftsbereich, der Versand der tausenden Vertriebenenzeitungen und Heimatblättern, seit Jahren an Bedeutung, an Volumen verliert. Der Konzern hat schon Mitarbeiter ausgeschickt, um mit den Vertriebenenverbänden zu beraten, wie denn dieser Trend umzukehren wäre.

Der VdK als Beispiel einer erfolgreichen „Konversion“

Als Beispiel einer erfolgreichen „Konversion“ wird dabei oft der VdK, der „Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands“ angeführt. Er wurde 1950 gegründet und trägt seit 1994 offiziell den Namen „Sozialverband VdK Deutschland“. Der Verband entstand auf der Basis von Selbsthilfegruppen auf lokaler Ebene, zu denen sich Kriegsversehrte, Kriegswaisen, Witwen zusammengeschlossen hatten, um als Ansprechpartner gegenüber der Verwaltung, später als Interessenvertreter gegenüber Parlament und Regierung aufzutreten.
Heute, siebzig Jahre nach Kriegsende, hat dieser Verband 1,6 Millionen Mitglieder, die sich aus allen
Bevölkerungs- und Altersschichten rekrutieren, weil er es geschafft hat, seine in Jahrzehnten erworbene Kernkompetenz auf sozialem Gebiet für neue Generationen attraktiv zu halten und zu erweitern. Sie finden keine Initiative in der Sozialgesetzgebung, kein Sozialgerichtsverfahren, in dem nicht auch der VdK gehört wird, in dem er sich nicht zu Wort meldet. Pflege, Rente, Gesundheitspolitik, es sind Felder, die an Bedeutung gewinnen werden und die bereits starke Position dieses Verbandes noch festigen werden.

Warum dieser Einstieg? Ich suche Parallelen zur Geschichte der Landsmannschaften und mögliche Perspektiven: Die Landsmannschaften wurden ebenfalls um 1950 gegründet, und auch sie waren Selbsthilfegruppen, Ansprechpartner der Verwaltungen, Interessenvertreter gegenüber Regierung und Parlament. Heute stehen sie, was Mitgliederzahl und -struktur sowie Kompetenzausweis betrifft, wesentlich schlechter da – muss man selbstkritisch sehen – als zum Beispiel der VdK. Der Bund der Vertriebenen, ihr Dachverband, hat in der Öffentlichkeit kein besonders gutes Image, er wurde politisch jahrelang durch Grenzdiskussionen belastet und leider zu oft politisch instrumentalisiert.

Oft zu hören ist die Frage nach dem Sinn unserer Arbeit: Wo stehen wir, was wollen wir, wozu braucht es noch Landsmannschaften? Und es heißt: Immer weniger Teilnehmer bei den Treffen, die Mitglieder werden immer älter usw. Wir können diese Entwicklung beklagen und so weiter machen wie bisher oder wir können versuchen, neue Akzente zu setzen.