zur Druckansicht

Was die Geschichte der Deportation lehrt

Knapp dreißig ehemalige Deportierte standen bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Verschleppung der Deutschen aus Südosteuropa zur „Wiederaufbauarbeit“ in die Sowjetunion, die am 17. Januar im Haus der Begegnung in Ulm stattfand, stellvertretend für alle Deportationsopfer. Foto: Erwin Josef Ţigla

Weit über 300 Personen – ehemalige Deportierte und ihre Angehörigen, Ehrengäste und Vertreter der landsmannschaftlichen Verbände – gedachten am 17. Januar im Ulmer Haus der Begegnung der Deportation der Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion vor 70 Jahren. Foto: Walter Tonţa

„Wie froh wären die Leute in Russland gewesen, hätten sie so etwas zu essen gehabt“, lautete eine Aussage, die wir oft als Kinder zu hören bekamen, wenn wir das oder jenes nicht essen wollten. Wir hörten aber auch Sätze wie: „Diese Krankheit hat sie (oder er) sich aus Russland mitgebracht“ oder noch schlimmer: „Er (oder sie) ist aus Russland nicht mehr heimgekommen, ist in Russland geblieben“, wobei mit dem Bleiben der Tod umschrieben wurde. So oder so ähnlich wurden wir in jungen Jahren an dieses Thema herangeführt, aber so richtig darüber reden wollte kaum einer. Daheim,  womit manche von uns immer noch das Banat oder Siebenbürgen, das Sathmarer Land, die Schwäbische Türkei oder die Batschka meinen, durfte man es nicht, und hier, hier wurden andere Prioritäten gesetzt.

Und trotzdem kommen heute mehr als 300 Menschen zusammen, um unserer Landsleute zu gedenken, die fast auf den Tag genau vor 70 Jahren in ihrer Heimat zusammen-getrieben und zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. Gemeinsam hatten sie eins: Sie waren deutsche Volkszugehörige und als solche im Kalkül der damaligen Machthaber eine leicht verfügbare und rechtlose Masse.
Ein Teil unserer Landsleute befand sich auf der Flucht vor der heranziehenden Roten Armee, manche Dörfer entleerten sich. Viele Männer befanden sich als Soldaten im deutschen Heer und auf die in der Heimat Verbliebenen wartete das Los, unter Zwang als Sklavenarbeiter das aufzubauen, was in deutschem Namen vorher zerstört worden war. Gefragt hatte man weder die einen, die in den Krieg ziehen mussten, noch die anderen, die gezwungen wurden, die Trümmer dieser Politik zu beseitigen.

Erst 1995, zum 50. Jahrestag der  Deportation in die Sowjetunion, fand in München eine erste große Gedenkveranstaltung der Landsmannschaften der Deutschen aus Südosteuropa mit Vertretern aus der Politik, der Wissenschaft, der Presse und vielen ehemaligen Deportierten statt, die eine intensivere Beschäftigung mit diesem nahezu unbekannten Kapitel Nachkriegsgeschichte bewirkte. Betroffene fingen an ihre Erinnerungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Die Kapitel trugen Überschriften wie: „Zwei Brote und drei Fische für ein Paar Ohrringe“, „Von der Schulbank in den Schacht“, „Fünf verlorene Jugendjahre“, „Pferde- und Hundefleisch gegessen“, „Für 71 Tote das Grab geschaufelt“ oder „Der Vater in Deutschland, die Mutter in Russland, die Kinder allein daheim“. Es entstanden dokumentarische Filmbeiträge, erste wissenschaftliche Veröffentlichungen sorgten für Aufsehen, ehemalige Deportierte fuhren zu den Stätten des Leids und sammelten sich nach ehemaligen Lagerorten.  Und auch die Politik besann sich ihrer Verantwortung: Die rumänische Regierung entschuldigte sich offiziell für das an ihren damaligen Staatsbürgern begangene Unrecht und bat die Leidenden von damals um Vergebung, das ungarische Parlament verabschiedete einstimmig die Einführung eines Gedenktages an die unrechtmäßige Verschleppung und Vertreibung der Deutschen,
einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Seit der ersten großen öffentlichen Veranstaltung von 1995 sind weitere 20 Jahre vergangen, die Reihen der Überlebenden des sowjetischen Lagersystems aus unseren Gemeinschaften haben sich stark gelichtet und es sind wir, die Generation der Kinder, Enkel und Urenkel jener Gezeichneten, welche Fragen nach der Einordnung dieser Ereignisse in unsere Biografien, aber auch in jene einstiger oder bestehender Gemeinwesen stellen. Was haben wir angenommen und mitgenommen, wie gehen wir damit um, welchen Stellenwert haben diese Ereignisse für uns heute überhaupt noch?

Die ehemaligen Deportierten haben es uns eigentlich mitgegeben: Sie haben trotz unmenschlicher Prüfungen, traumatischer Erfahrungen und ungemein schlechter Startbedingungen nach der Entlassung ihr Leben gemeistert, sie haben es sehr gut gemeistert. Jeder von uns kennt die entsprechenden Biografien in seinem Heimatort. Und sie haben ihren Nachkommen einiges mit auf den Weg gegeben:
– ihre Stimme zu erheben, wenn Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind;
– zusammenzustehen, einer für den anderen da zu sein;
– Solidarität zu üben, wie damals die Großfamilien, in deren Obhut die zurückgelassenen Kinder blieben;
– trotz schwerer Prüfungen im Glauben Kraft zu finden.
Nehmen wir dieses Erbe an, heute, aber auch in der Zukunft.