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»Silben, gleitend auf erdachten Spiegeln«

Wer sich näher mit Südosteuropa beschäftigt, landet früher oder später im Banat. Diese Region mit ihrem einzigartigen Flair ist die Heimat eines Vielvölkergemischs aus mehreren Nationen und Kulturen, die sich seit Jahrhunderten einen gemeinsamen Lebensraum teilen: Rumänen, Deutsche, Serben, Kroaten, Ungarn, Slowaken, Juden, Roma. In diesem vielsprachigen Landstrich, der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt ist, stand die Wiege vieler Dichter und Denker, die die europäische Kultur durch ihre Werke bereichert haben. Das Banat hat eine lange literarische Tradition – und das in sechs Sprachen. Literaturgrößen wie Herta Müller und Ana Blandiana, der serbische Aufklärer Dositej Obdradivic und der Kosmopolit Ivan Ivanji wurden hier geboren. Und viele andere; einige von ihnen schreiben und denken in mehreren Sprachen.

Die Herausgeber, Miloš Okuka aus Bosnien-Herzegowina und der im Jemen geborene Dareg Zabarah, nehmen uns mit auf eine literarische Reise durch das Banat und geben einer Literatur Sprache, die hierzulande – mit Ausnahme der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller – bislang wenig Gehör gefunden hat. Der Band versammelt eine repräsentative Auswahl von Gedichten, Erzählungen und Romanfragmenten mit Akzent auf dem serbischen Banat. Er versteht sich als Orientierungshilfe und lädt ein, den multikulturellen Reichtum des Banats in den Werken seiner Schriftsteller zu entdecken: Slavco Almajan, Michal Babinka, Romulus Bucur, Vojislav Despotov, Uwe Erwin Engelmann, Ioan Flora, Nenad Grujicic, Matyás György, Aleksandra Hajdin, Dragoslav Lackovic, Johann Lippet, Angela Marinescu, Vasko Popa, William Totok, Liliana Ursu, Tibor Váradi, Richard Wagner, Ernest Wichner und viele andere.

Da das allgemein gehaltene Vorwort eine Vorstellung des Banats und seiner Literatur vermissen lässt, wird der Leser auf seiner Entdeckungsreise zunächst alleingelassen. Wer sich aber einmal auf den literarischen Streifzug aufgemacht hat, wird nicht nur so manche interessante Entdeckung machen, sondern bekommt auch eine Ahnung davon, dass im Banat nicht nur verschiedene Ethnien problemlos miteinander gelebt haben und heute noch leben, sondern auch eine kollektive regionale Identität entwickelt haben.

Die Reihe Europa erlesen des Wieser-Verlags umfasst bisher 150 Bände, in denen knapp 8000 Texte von 3000 Autoren abgedruckt sind, wovon ein Drittel aus über fünfzig Sprachen ins Deutsche übertragen wurde. Dieses mutige Engagement ist geleitet vom Wunsch, durch das Näherbringen von Kultur und Sprache den Menschen dauerhafte Achtung und Würde zu geben. Nach den politischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte hat der Verleger Lojze Wieser, ein Kärntner Slowene, den neu gepflügten europäischen Boden mit Büchern gesät und hat damit die Kultur zur Fortsetzung der Völkerverständigung mit anderen Mitteln gemacht. »Europa«, so Wiesers Credo, »kann nur erlesen werden: Buch für Buch, nicht Krieg um Krieg.« Einer der wertvollsten Schätze Europas ist die Vielfalt seiner Kulturen. Und Geschichten über eben diese – ob kurze Gedichte oder Romane – können nachhaltige Wirkung erzeugen. Denn Geschichten heben das Trennende der Geschichte wieder auf.         

Miloš Okuka, Dareg Zabarah (Hrsg.): „Europa erlesen“. Banat. Klagenfurt: Wieser 2011. 300 Seiten. ISBN 978-3-85129-895-6. 12,50 Euro. Zu beziehen über den Buchhandel