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Ein bemerkenswerter Überlebensbeweis

Die rumäniendeutsche Literatur hat es in den 23 Jahren seit dem Umbruch 1989 geschafft, als einzige selbstständige deutschsprachige Literatur – der nach wie vor fünften deutschen Literatur nach jener der Bundesrepublik, der verblichenen DDR, Österreichs und der Schweiz – alle Generationen, von den Senioren bis zum Schülernachwuchs, in Anthologien und Eigenbänden zu Worte kommen zu lassen. Außerdem ist es ihr auch gelungen, alle literarischen Genres – Prosa, Lyrik, Dramatik, Essayistik, Literaturkritik – nach wie vor zu pflegen. Im Falle des 1950 in Nitzkydorf geborenen Balthasar Waitz meldet sich ein  seelenverwandter Landsmann von Herta Müller in Buchform zurück. Sie wurde ebenfalls 1950 in Nitzkydorf geboren und ging dort zur  selben Zeit in die deutsche Dorfschule wie Balthasar Waitz, der sie schon von Kindesbeinen an kennt, so wie in einem banatschwäbischen Dorf jeder von jedem Bescheid weiß. Vor dem Umbruch hatte Balthasar Waitz zwei Prosabände veröffentlicht: „Ein Alibi für Papa Kunze“ (Klausenburg 1981) und „Widerlinge“ (Temeswar 1984). Danach erschien von ihm der Prosaband „Albtraum“ (Bukarest 1996), der allerdings erstmals „bloß“ ein neuer Sammelband  Prosa war, die er thematisch schon vor dem Umbruch veröffentlicht hatte.

Balthasar Waitz’ nun vierter Prosaband „Krähensommer und andere Geschichten aus dem  Hinterland“ vereint diesmal andere, neue Geschichten. Vor allem auch – erfreulicherweise – aktuelle Geschichten aus der Transformationszeit. Damit wird Balthasar Waitz  zu einem wichtigen Vertreter der mittleren Generation rumäniendeutscher Autoren, die noch vor Ort in der alten Heimat leben und arbeiten, neben Carmen Elisabeth Puchianu und Christel Ungar Topescu, die auch schon mehrere Einzelbände veröffentlicht haben.

Die Zeit nach dem Umbruch  ermöglicht es Balthasar Waitz,  die Zeit davor nun präzise und  illusionslos erinnern zu lassen, um zu zeigen, wie sie nach dem Umbruch nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann, sondern realistischerweise nachwirkt, ja stellenweise erschreckend nachwirkt in denselben Personen, die oft nach wie vor das Sagen haben, da sie es verstanden, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Dies schildert Baithasar Waitz jedoch nicht verbittert, sondern mit viel schwarzem Humor – seine eigentliche literarische  Stärke ist der tiefschwarze Humor – aus der Sicht eines Kindes und Heranwachsenden. Der geheime Onkel aus Westdeutschland in der gleichnamigen Erzählung „Der  geheime Onkel“ durfte offiziell die Provinzstadt nicht verlassen, in die er zu Ceausescus Zeiten kam, um seine Verwandten auf dem Dorfe zu besuchen. Er kann es dann aber doch, weil der Milizmann des Dorfes bestechlich ist und ihm den Besuch erlaubt, aber ihm die Auflage erteilt, nur zur nachtschlafenden Zeit das Haus zu verlassen. So kann der geheime Onkel mit seinen Verwandten nur spätnachts im Mondenschein spazierengehen. Überhaupt spielt die Verwandtschaft in Nitzkydorf, wie in  jeder anderen schwäbischen Dorfgemeinde auch, die erste Geige im Seelenleben jeder Familie und  gezwungenermaßen auch jedes Familienmitglieds. Die sterbende Mutter erinnert sich im Kreise ihrer „Lieben“ an ihre erste Liebe mit  einem deutschen Wehrmachtsangehörigen, die unglücklich ausging und ihr auch im Gespräch  darüber noch immer die Sprache verschlägt und sie durch alle hindurchsehen lässt, wie durch ein  offenstehendes Fenster. Hier gelingt es Balthasar Waitz, von einem nüchternen Berichten zu einem  intimen lyrischen Verstehen zu  gelangen, wenn er bemerkt, dass seine Mutter nur durch ihn, ihr Kind, allein nicht durchsieht. „Es steht mir alles ins Gesicht geschrieben, was sie noch wissen möchte. In meinen großen Augen kann sie sich lange nachdenklich betrachten. Wie in einem Spiegel.“

Einen besonderen Stellenwert haben die von Balthasar Waitz verfassten mehr oder minder banatschwäbischen Ortschaftsporträts, in denen sich zu den altbekannten Facetten nun auch ganz neue, durch die Umbruchzeit bedingte Aspekte hinzugesellen. So kann man im Porträt des Dorfes Birda ohne Hintergedanken durch den Hochsommer sehen, der katzenhaft durch die Gassen den Pappeln entlangstreicht, in einem Geruch nach bestem Stallmist und Kürbisstrudel. Aber dann heißt es auf einmal unerwartet lyrisch: „Und trotzdem muss es hier auch einmal  alles Glück auf Erden gegeben  haben. Denn dieses brache Stück Land tut bitter weh, wenn man in der Ferne ist, sagen die Leute. Wie Messerstiche tut es weh.“ Es ist das Heimweh, das die ausgewanderten Banater Schwaben heimsucht, wenn sie einmal im Jahr zu Allerheiligen die alte  Heimat besuchen und damit auch die Gräber ihrer Angehörigen, die dieser schüchterne Ort für sie  bereithält und sie vor Ehrfurcht  verstummen lässt. So spannt  Balthasar Waitz in seinen banatschwäbischen Ortsporträts einen weiten Bogen von der Satire bis  hin zu lyrischem Besinnen, vom Alltagshorror zum poetischen Innewerden. Dergestalt ist er auf eine ganz eigene Art nicht nur ein  Seelenverwandter Herta Müllers, sondern auch ein Bruder im Geiste des früh verstorbenen Südtiroler Autors Norbert Conrad Kaser (1947 geboren in Brixen, 1978 gestorben in Bruneck). Kaser hat in seinen „Stadtstichen“ Südtiroler Ortschaften präzise und illusionslos porträtiert. Auf dem Hintergrund der zauberhaften Südtiroler Bergwelt rechnet er ernüchternd mit dem Provinzialismus ihrer Bewohner ab. Bei Balthasar Waitz kommt jedoch viel stärker noch – neben der Abrechnung mit den provinziellen Alltagsdramen – immer wieder auch ein unterschwelliger Versuch hinzu, der Tröstlichkeit noch eine Tür offen zu lassen. So lässt er den aufmerksamen Leser am Ende  seiner Geschichten nicht ganz hoffnungslos zurück.