Wer die Temeswarer Lenau-Schule besucht, wird im Eingangsbereich symbolisch von der Büste des Namensträgers dieser weit über die Grenzen des Banats hinaus bekannten Bildungseinrichtung empfangen: Nikolaus Lenau. Darunter steht ein rebellischer Text des großen Dichters: Ihr kriegt mich nicht nieder/Ohnmächtige Tröpfe! / Ich komme wieder und wieder, / Und meine steigenden Lieder / Wachsen begrabend euch über die Köpfe. (entstanden vermutlich 1838, Erstdruck 1851).
Es sind nicht nur Verse des Widerstands gegen die Willkür der Mächtigen – Metternichs Polizeiapparat und Zensur hatten Lenau und seine gleichgesinnten Dichterfreunde im Visier-, sondern auch Ausdruck des Sebstwertgefühls und des unerschütterlichen Glaubens eines großen Dichters an die zeitenüberdauernde Kraft seiner Lieder. Er sollte Recht behalten. Denn heute, 175 Jahre nach seinem Tod, steht längst fest: Die Metternichs, also die despotischen Machthaber, ob braun oder rot, welcher Färbung auch immer, kamen und gingen, aber Lenaus Lieder leben weiter. Seine frühen „Gedichte” (1832) und „Neuere Gedichte” (1838), sind bei Cotta in Stuttgart, also in Schwaben, erschienen. Sie begründeten den Ruhm des im Banat geborenen Dichters, dessen eigentliche Heimat Österreich war. Lenaus Gedichte gehören zum festen Grundbestand der Lyrik in deutscher Sprache, unabhängig davon, ob man den Dichter der österreichischen oder deutschen Literaturgeschichte zuordnet.
„Vormärz“ und Weltschmerz
Als einer der Hauptvertreter der Literatur des „Vormärz”, die sich protesthaft im Vorfeld der Revolution von 1848 gegen gesellschaftliche Missstände wandte, ging Lenau in die Literaturgeschichte ein. Doch für sein vielschichtiges Schaffen reicht ein einziges literaturhistorisches Schubkästchen nicht aus. Lenau war auch der Spätromantik verpflichtet. Dafür sprechen die seiner Dichtung eigene Schwermut und Melancholie, die Anschaulichkeit seiner beseelten Naturbilder und die ewig unerfüllte Sehnsucht nach ungetrübtem Glück. Als „Weltschmerz“ wird die Grundstimmung beschrieben, die in zahlreichen Lenau-Gedichten vorherrscht. Fritz Martini, einer der angesehensten deutschen Literaturhistoriker im 20. Jh., verweist auf Lenaus Erscheinungsbild: „Wie ein exotischer Lord Byron erschien er der bürgerlichen Welt. Der Engländer hatte den literarischen Stil des modernen subjektivierten Weltschmerzes bestimmt, der sich in der europäischen Dichtung der Zeit ausprägte”. (F. Martini, Deutsche Literaturgeschichte, 18. Aufl., 1984, S. 363) Und weiter heißt es bei Martini über die Parallelität und wechselseitige Durchdringung des literarischen Schaffens Lenaus mit dem eigenen Lebensweg: „Er empfing ein krankhaftes Seelenerbe von den Eltern; in seiner ungarischen Heimat bildete sich seine düstere, leidenschaftliche Phantasie an der Einsamkeit der Steppe und Heide, am verwegenen und melancholischen Vagantentum der Zigeuner und an der Besessenheit und Schwermut ihrer Musik. Nirgends fand Lenau eine Heimat, nirgends unter vielen Frauen eine beglückende Liebe”. (Martini, S. 363)
Lenaus Werk fand indessen große Anerkennung und weite Verbreitung. Vor allem seine in volksliedhafter Form gehaltene Natur- und Liebeslyrik. Dazu leisteten die Musiker – auch bei uns im Banat - einen besonderen Beitrag. 805 Komponisten nahmen sich bis 2002 der Lenau-Dichtungen an. (Begleittext zur Lenau-Ausst. FU Berlin, 2002)
An der Spitze steht dabei „Bitte” mit 200 Vertonungen, gefolgt von den „Schilfliedern”.
Bitte
Weil auf mir, du dunkles Auge,
Übe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!
Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Dass du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.
Aus dem Banat in die Welt
Geboren wurde Nikolaus Franz Niembsch am 13. August 1802 im banatschwäbischen Dorf Csatád (damals Ungarn), seit 1926 Lenauheim, als Sohn des Rentamtsschreibers Franz Niembsch (1777-1807) und dessen Ehefrau Theresia (geborene Maigraber, 1771-1829). Die Familie Niembsch kam ursprünglich aus Schlesien. Darauf geht auch das Adelsprädikat zurück, das Lenaus Großvater, Oberst Josef Maria Niembsch, 1820 erlangte und damit seinem Enkel den Namen Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau bescherte. Vom Adel hielt dieser Enkel zwar nicht viel, ließ sich aber der Überlieferung nach gerne Baron nennen. Um der scharfen Zensur zur Metternich-Zeit zu entgehen, formte er sich aus dem Adelsprädikat den „Decknamen” Lenau, unter dem seine Dichtungen ab 1830 erschienen sind. Bis dahin zeichnete er als Niembsch, was er späterhin in seiner umfangreichen Korrspondenz weitgehend beibehielt.
Mit dem Banat ist Nikolaus Lenau durch seinen Geburtsort und durch die Herkunft seiner Mutter verbunden, deren Vater Franz Maigraber aus einer banatschwäbischen Bauernfamilie stammte und es als Oberfiskal der Stadt Pest zu Wohlstand gebracht hatte.
Die Ehe von Lenaus Eltern kam unter dramatischen Umständen in Altofen (Buda) zustande: Sie wurde gegen den Widerstand der Familie Niembsch geschlossen. Unmittelbar danach reiste das Ehepaar fluchtartig ins Banat, wo wenige Tage nach ihrer Ankunft ihr erstes Kind Maria Magdalena in Ujpécs/Neupetsch am 28. August 1799 zur Welt kam. Dort war Franz Niembsch zunächst als Praktikant beim Kameral-Rentamt tätig. Weitere Stationen als Rentamtsschreiber folgten: Lippa, wo am 5. Februar 1801 Theresia Anna, die zweite Tochter, geboren wurde, und Csatád, der Geburtsort unseres Dichters, sowie für kurze Zeit Deutsch-Bogschan, bevor die Familie Niembsch im März 1803, verarmt, dazu mit Schulden und im Zerwürfnis nach Ofen/Buda zurückkehrte. Durch seine Spielsucht und den ausschweifenden Lebenswandel, den er bei seinen wiederholten Aufenthalten in Temeswar führte, zehrte Franz Niembsch das bescheidene Erbe seiner Frau Therese auf. Dass er im Schuldturm landete, statt den für die todkranke Tochter dringend erwarteten Arzt aus Temeswar nach Csatád zu bringen, hatte fatale Folgen. Die Tochter Magdalena starb am 11. Dezember 1802 und wurde in Csatád beigesetzt. Bald erfolgte die Versetzung des Franz Niembsch nach Bogschan und schließlich die Rückkehr der Familie nach Ofen (Buda). Er konnte beruflich nicht mehr Fuß fassen, kränkelte längere Zeit und starb 1807.
Die erneute Heirat der Mutter des kleinen Niki, wie Lenau in der Familie genannt wurde, und weiter bestehende Spannungen mit der adelsbewussten, wohlhabenden Großmutter Niembsch, in deren Haus er in Stockerau bei Wien mehrere Jahre wohnte, wirkten sich auf die empfindsame Seele des heranwachsenden Dichters aus. Unruhe und spontane Leidenschaft zeigten sich in seinem Verhalten, wurden potenziert durch die Geburt der Tochter aus seiner Liebesbeziehung zu dem kaum sechzehnjährigen Mädchen Bertha Hauer.
Sprunghaft unterbrach er immer wieder sein Studium, wechselte die Studien-Fächer und -Orte: Philosophie in Wien, 1822 ungarisches Recht in Preßburg (Bratislava), noch im selben Jahr Landwirtschaft in Ungarisch-Altenburg, ab 1823 in Wien, beschäftigt mit Sprachstudien und Philosophie und ab 1824 Studium des deutschen Rechts, schließlich dort auch Beginn des Medizinstudiums 1826, das er unterbrach und erst 1831/1832 in Heidelberg wieder aufnahm, ohne es zum angestrebten Abschluss zu bringen.
Der „Schwäbische Dichterkreis“
Der Literatur, dem „Künstlerischen” galt ununterbrochen und uneingeschränkt Lenaus Leidenschaft. Ihr konnte er sich als freier Schriftsteller dank einer Erbschaft nach dem Tode seiner Großmutter Niembsch widmen. Sein erstes publiziertes Gedicht trägt den Titel „Jugendträume” (1827). Erst ab 1830 veröffentlichte er unter dem „Decknamen” Lenau. In Wien pflegte Lenau regen Austausch mit gleichgesinnten Schriftstellern, die sich im legendären „Silbernen Kaffeehaus” zu Lesungen und Gesprächen trafen und zunehmend das literarische Leben der Kaiserstadt bestimmten. Viele von ihnen haben bis heute ihren Platz in der österreichischen Literaturgeschichte, so Franz Grillparzer, Eduard Bauernfeld u.a., nicht zuletzt Lenaus Freund Anastasius Grün. Dieser besorgte die erste Ausgabe sämtlicher Werke Lenaus in 4 Bänden (Stuttgart/Tübingen, 1855) und gab den „dichterischen Nachlass” (Stuttgart/Augsburg 1858) heraus.
Entscheidende Veränderungen in Lenaus Leben ereigneten sich, als er sein in Wien unterbrochenes Medizinstudium in Heidelberg 1831/1832 wieder aufnahm. Er knüpfte freundschaftliche, für sein dichterisches Schaffen ungemein inspirierende Beziehungen zu den bedeutenden Persönlichkeiten der „schwäbischen Dichterschule” um Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner. Und er erlebte eine fruchtbare Schaffensphase, beflügelt durch die Liebe zu Lotte Gmelin, die unerfüllt blieb. Ihr widmete er die „Schilflieder”.
Über Gustav Schwab fand Lenau den Kontakt zum renommierten Cotta-Verlag in Stuttgart, in dem sein erster Band „Gedichte” 1832 erschienen ist und danach der größte Teil seiner Bücher. Als er 1833 desillusioniert von seiner Amerikareise zurückkehrte, war er in Deutschland ein gefeierter Dichter. In Österreich war es dann noch nicht so weit. In den Folgejahren schrieb Lenau sein großes dramatisches Gedicht „Faust” (1837) und seine Versepen über den radikalen Kirchen-Reformer „Savonarola” (1840) und die Revolte der „Albigenser”(1842).
Er hielt sich als Gast wiederholt und längere Zeit bei Dichterfreunden in Schwaben auf, doch Wien war und blieb seine eigentliche Heimat. Dort spendeten seine Schwester Therese und ihr Ehemann Anton Schurz - Lenaus erster Biograph - ihm immer wieder Schutz und Trost, und dies bis zuletzt, auch nach seinem seelischen Zusammenbruch 1844, von dem er sich nicht mehr erholte. Nikolaus Lenau starb am 22. August 1850 in der Heilanstalt Oberdöbling bei Wien und wurde auf dem Friedhof in Weidling bei Wien beigesetzt.
„Er gehört zu uns“
Der frühe Ruhm des hoch geschätzten Dichters, dazu sein tragisches Schicksal, weckten das außergewöhnliche, andauernde Interesse an seinem Werk und an seiner Biographie. Die Banater Schwaben, die sich ihrer deutschen Urheimat dauerhaft eng verbunden fühlten, speziell der näherliegenden österreichischen Kultur in allen Bereichen, verehrten und beanspruchten Nikolaus Lenau als einen der ihren. Sie hatten seinen Geburtsort gegründet, dem sie 1926 den Namen des Dichters geben konnten. Seine banatschwäbische Herkunft mütterlicherseits verstärkte diese Bindung. Die kulturell rege einheimische Presse förderte die Rezeption und Popularität Lenaus in der Banater Öffentlichkeit. So wurde Nikolaus Lenau seit Mitte des 19. Jhs. bei dem noch jungen Siedlervölkchen allmählich zu einer Leuchtgestalt der eigenständigen kulturellen Bestrebungen, gleichsam zu einem symbolischen Schirmherrn für bestehende literarische Neigungen und schließlich für einen deutschsprachigen Literaturbetrieb in einer mehrsprachigen Region. In einem Lenau-Essay der Temeswarer Universitätsdozentin Eva Marschang heißt es: „Verständlicherweise haben vor allem auch die Literaturfreunde des Banats sich immer berufen gefühlt, das Lenausche Erbe in Besitz zu nehmen, die Kenntnis und Verehrung des Dichters zu fördern.” (Nikolaus Lenau: Gedichte. Lyrisch-epische Dichtungen. Auswahl und Einleitung Eva Marschang. Kriterion Verlag București, 2. Auflage 1971, S. 26)
Der namhafte banatdeutsche Lyriker, Übersetzer und Kulturhistoriker Hans Diplich – er lebte nach Kriegsende im Westen – stellt Lenaus Bedeutung für die Banater Deutschen 1960 in einen erweiterten Kontext: „Für unsere donauschwäbischen Landsleute hat der Name (Lenau) einen guten Klang und nachhaltige Wirkung. Es ist sicher, dass viele von Lenaus Dichtungen kaum mehr als zwei oder drei Lieder kennen, aber er gehört zu uns; er ist aus einem unserer Kolonistendörfer hervorgegangen … Wenn wir also Lenau sagen, nennen wir vorweg den Namen eines großen Sohnes. Besonders tüchtige Sprossen einer Familie wecken den Stolz der Angehörigen; sie verbreiten einen Glanz, dessen man sich würdig erweisen möchte … Lenau war dort (im Banat, W.E.) für uns ein gültiger, inhaltsschwerer Begriff, der uns damals wie heute hohe kulturelle Verpflichtungen auferlegte, aber auch Ansehen und Anerkennung einbrachte.“ (Hans Diplich: Nikolaus Lenau in der Gegenwart - 1960. In: Ders., Essay. Beiträge zur Kulturgeschichte der Donauschwaben. Homburg/Saar: Verlag Ermer, S. 59)










