Dass sich 140 Besucher zu einer Ausstellungseröffnung im Donauschwäbischen Zentralmuseum (DZM) Ulm einfinden, ist eher ungewöhnlich. So geschehen am Abend des 15. Mai anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Lifeline“ von Dieter Mammel, zu der Museumsdirektor Tamás Szalay den Künstler mit Familienangehörigen und Freunden, die Vorstandsvorsitzende der Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum, die Kuratorin der Ausstellung sowie die zahlreichen Gäste begrüßte. Szalay ging auf den Entstehungskontext der Ausstellung ein, in der Mammel die Geschichte seiner aus dem Banat geflüchteten Familie mit Fluchterfahrungen der Gegenwart verbindet. Dem Fluchtweg der Familie folgend, wurde die Ausstellung zuerst im Temeswarer Nationalen Kunstmuseum, dann im Nationalmuseum in Pantschowa/Pančevo (Serbien) gezeigt, um nun bis zum 18. Januar 2026 in Ulm Station zu machen.
Die Ulmer Bürgermeisterin Iris Mann, Vorstandsvorsitzende des DZM, wies in ihrem Grußwort auf die in Mammels Bildern zum Tragen kommende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart hin. Der Künstler mit donauschwäbischen Wurzeln mütterlicherseits setze sich sowohl mit seiner Familiengeschichte auseinander als auch mit der gegenwärtigen Migration nach Europa, indem er die Perspektive geflüchteter Menschen mit einbeziehe. Die Geschichte, die Mammel in seinen Werken erzähle, verleihe der Ausstellung Aktualität; sie sei ein Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung, betonte Iris Mann.
Astrid Beyer, die als Kuratorin die Bilder ausgewählt und die Texte für den umfangreichen großformatigen Ausstellungskatalog verfasst hat, führte anschließend in die Ausstellung ein und lud – nach einem Stehempfang – zu einem Rundgang durch die Ausstellungsräume ein. Sie verwies unter anderem auf die große thematische Bandbreite der Werke des 1965 in Reutlingen geborenen Künstlers, der in Berlin und Frankfurt am Main arbeitet, und ging auf die Maltechnik seiner oft großformatigen und überwältigenden Bilder ein. Mammel malt mit Tusche auf ungrundierter, nasser Leinwand. Er konzentriert sich auf Licht und Schatten und zyklisch auf nur eine Farbe. Seine oft skizzenhaften Zeichnungen unterstreichen den Eindruck des Flüchtigen oder Zufälligen. Alles scheint in Entstehung oder in Auflösung begriffen, die Bilder vermitteln den Eindruck, als würden sie zerfließen – und mit ihnen Zeit und Erinnerung. Mit dem Pinsel versucht Mammel sie festzuhalten.
In seinen Gemälden zeichnet der Künstler die Lebenslinien seiner Familie mit Stationen in Rumänien, Serbien, Österreich und Deutschland nach. In vier thematischen Schwerpunkten – Heimat, Flucht, Zuflucht und Familienalbum – lässt er deren Lebenswege bildnerisch Revue passieren, wobei ihm insbesondere das von seiner Mutter Erzählte, das in der Familie Gehörte, aber auch selbst Erlebtes als Inspirationsquelle für seine Bilder dient. Mit „Heimat“ ist das Banat der Zwischenkriegszeit gemeint – sowohl der rumänische als auch der serbische Teil. Seine in Temeswar geborene Großmutter Elisabeth Müller, deren Familie aus Großscham/ Jamu Mare stammte, heiratete den Arzt Fritz Hild aus Franzfeld/ Kačarevo. Von dort flieht sie mit ihren kleinen Töchtern Waltraud und Ingeborg vor der heranrückenden Roten Armee im Herbst 1944 nach Österreich. In etlichen Bildern thematisiert Dieter Mammel die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen als Hauptauslöser für die Entscheidung von Menschen, ihr Land zu verlassen. Dabei steht seine Familiengeschichte, die er mit kollektiven Fluchterinnerungen verbindet, stellvertretend für die Millionen geflüchteter, zwangsumgesiedelter oder vertriebener Menschen, die als Folge des Zweiten Weltkriegs eine sichere Zuflucht suchten. Diese fanden Elisabeth Hild und ihre beiden Töchter in Oberösterreich auf dem Lande. In seinem Zyklus „Landleben“ fängt Mammel diese von den drei Frauen trotz Entbehrung und Beengtheit als innig und glücklich empfundene Zeit ein, in die auch die Rückkehr des Ehemanns und Vaters Fritz Hild fällt, der erst 1951, nach siebenjähriger serbischer Kriegsgefangenschaft, seine Familie wiedersieht. Stellvertretend für eine Generation gebrochener Biografien thematisiert der Künstler das von seinem Großvater erlebte Trauma. Mit der Übersiedlung nach Süddeutschland Anfang der 1950er Jahre beginnt ein neues Kapitel der Familiengeschichte, dem der Künstler den thematischen Schwerpunkt „Familienalbum“ widmet. In einer Reihe von Gemälden hält er glückliche Familienmomente, wie Hochzeit, Taufe, Besuche oder Urlaube fest. Zu den bisher porträtierten Familienmitgliedern gesellen sich nun auch Mammels Vater, ein Bessarabiendeutscher, der mit seiner Familie 1940 ins Deutsche Reich umgesiedelt wurde, wie auch der Künstler selbst und dessen Bruder.
Mammels Bilder erzählen von erlebter Idylle, von Krieg und Flucht, von Entwurzelung und Heimatverlust, von Traumata und Erinnerung, von Neubeginn und familiärer Geborgenheit. Sie verdeutlichen, wie stark die Kriegs- und Fluchterfahrung der Großeltern und Eltern in die nächste Generation hineinwirkt, und stehen stellvertretend für die Erfahrungen zahlreicher Familien, die das gleiche Schicksal erlebt haben und erleben.
Flucht und Vertreibung sind überzeitliche Konstanten menschlicher Erfahrung. Im Jahr 2015 holt den Künstler das Thema erneut ein. Während eines Urlaubs auf der griechischen Insel Kos erlebt er die Ankunft erster syrischer Flüchtlingsboote. Zurück in Berlin, engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe und malt mit Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften. Die im Rahmen des Projekts entstandenen Zeichnungen werden in Berlin und in Frankfurt am Main ausgestellt und vom Bonner Haus der Geschichte angekauft. Mammel realisiert außerdem zusammen mit dem Kameramann Matthias Grübel zwei Dokumentarfilme: „Erzähl mir, woher Du kommst“ (2016) und sieben Jahre später „Erzähl mir, wie es Dir jetzt geht“. Beide Filme sind in der Ausstellung zu sehen. Der Künstler selbst beginnt sich – vor dem Hintergrund seiner eigenen Familiengeschichte – mit dem Thema „Flucht“ intensiv auseinanderzusetzen. Die entstandenen Bilder bilden den mit „Überleben“ betitelten fünften inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung „Lifeline“, die dadurch einen Aktualitätsbezug erhält – denn Krieg und Flucht gehören weiterhin zur Realität weltweit. Dafür steht symbolisch neben dem Museumseingang ein Flüchtlingszelt, das Mammel zusammen mit Grundschülern aus Reutlingen-Oferdingen bemalt hat.
„Man kann sie sehen, die Konflikte, Bruchlinien, radikalen Umwälzungen, die die Welt spalten, gespaltet haben, im Gestern wie im Heute. Dieser Maler ist ihr Zeuge“, befindet Christoph Tannert, der langjährige Leiter des Künstlerhauses Bethanien in Berlin, in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog. Eine treffende Einschätzung.